Don Quijotes interpretatorische Praxis

in (29.08.2015)

Don Quijotes interpretatorische Praxis[1]

Alle Menschen sind Interpreten. Jede und jeder macht sich einen Reim auf die Dinge und muss versuchen, >das Dunkel des gelebten Augenblicks< (Ernst Bloch) zu durchdringen. Im Folgenden geht es nicht vorrangig um den engeren Sinn von Interpretieren als dem Verstehen schriftlich fixierter Überlieferung, deren Sinn dunkel geworden ist und nach philologischer Aufklärung verlangt. Es geht um den weiteren Sinn von Interpretieren als einem Verhalten, das stets aufs neue Geistesgegenwart erfordert.

Das Interpretieren als bloß kontemplative, nicht aktiv-eingreifende Haltung zur Welt nimmt Marx aufs Korn mit seiner berühmten 11. Feuerbachthese: >Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.< (MEW 3, 7) Damit ist nicht gesagt, dass die Philosophen überflüssig, ihr Tun bloße Schaumschlägerei wäre. Im Gegenteil, das von ihnen betriebene Geschäft des Auslegens ist ebenso bedeutsam wie die Materialität von Institutionen, Praxen und Diskursen, in denen sich der ^Sinn^^, d.h. die geschichtliche Geltung einer Aussage konstituiert. Was solche Geltung erlangt hat, kann zur harten Tatsache werden, an der die Gegner sich die Köpfe einrennen. Wenn also alle Menschen Interpreten sind, so kommt doch nicht allen die Funktion von Interpreten zu, die im Unterschied zu den ^Ungebildeten^^ oder ^Laien^^ mit besonderen Befugnissen ausgestattet sind, die sie von diesen abheben. Wo immer es um gegensätzliche Interessen geht (und wann geht es nicht darum?), kommt es zu Auslegungskämpfen. >De sensu scriturae pugna est<, heißt es bei Erasmus (De libero arbitrio, I b 3, 26). An Erasmus liest Kurt Flasch die Einsicht ab: >Dieser Kampf ist rein theoretisch nicht zu entscheiden.< (2008, 257) ^Bedeutung^^ resultiert aus Umkämpftem; der vermeintlich feststehende Sinn ist Ergebnis antagonistischen Handelns. >Interpretieren heißt, ein Wort oder eine Stelle dem Treiben der Rede entziehen< (Krauss 1968, 9). Das Wort in einer bestimmten Bedeutung festzuhalten und zu stabilisieren, ist nicht Ausgangspunkt, sondern jeweils geschichtlich zu erklärendes Resultat.

Im Folgenden versuche ich am Beispiel des Don Quijote das von den Protagonisten selbst praktizierte Interpretieren aufzuklären. Und zwar beider Protagonisten: des Ritters und seines Begleiters. Bekanntlich hat der Roman zwei Teile: Der erste, in dem sich Abenteuer an Abenteuer reiht und dem nicht zufällig die besonders bekannt gewordenen Episoden entnommen sind; der zweite, in dem Don Quijote seinen Weg unter radikal veränderten Bedingungen antreten muss: Seine Taten haben sich inzwischen herumgesprochen und sind sogar im Druck erschienen, so dass er mehr und mehr auf Leute trifft, die seine Weltauslegung kennen und sich darauf einstellen – ja, sie selbst zum Prinzip ihres (Gegen)Handelns machen. Don Quijotes durch die Lektüre von Ritterromanen geformtes, illusionäres Weltverstehen wird dadurch mehr und mehr untergraben. Mit der Perspektive der Handelnden selbst wird das Interpretieren als aktive Haltung zur Welt zentral.

1. Die Prosa der Wirklichkeit

Um schneller zum Ziel zu kommen, mache ich einen kurzen Umweg über den heutigen Alltag. Wer in ein Café gerät, um Kaffee zu trinken, stößt meist auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Es gibt alles Mögliche, nur keinen Kaffee. In dem Film Oh boy von Jan Ole Gerster (2012) wird das wunderbar in Szene gesetzt. Nachdem sich der kaffeedurstige Held durchs Dickicht des Angebots geschlagen hat, entscheidet er sich für einen Columbia Morning, hat aber nicht die 3,40, die dieser kostet. Nur 2,80. Ausnahmen werden nicht gemacht. Den Kampf gegen den festgesetzten Preis kann er so wenig gewinnen wie Don Quijote den gegen die Windmühlen. Er hat, im Gegensatz zu seinem Vorgänger, noch Glück; er muss nur böse Worte, nicht Schläge einstecken.

Die Geldnot des jungen Mannes hat einen einfachen Grund. Bisher lebte er vom monatlichen Scheck seines Vaters, der das Studium seines Sprösslings zu finanzieren gedachte. Doch nun stellt sich heraus, dass dieser nur >nachdenken< wollte. Der Anspruch auf eine von den Zwängen des bürgerlichen Lebens freie Zone lässt die Quelle des Reichtums schlagartig versiegen. Die Welt nur zu interpretieren, statt sich in sie hineinzuarbeiten und zu ihrem erfolgreichen Funktionieren beizutragen, verpflichtet den Geldgeber auf die Rolle der versagenden Instanz. Der junge Mann wird von der >Prosa der Wirklichkeit< (Hegel, W 14, 219) zu Fall gebracht – ein in der modernen Romanliteratur immer wieder zum Zuge kommendes Thema. Hegel bezieht es auf den Quijote, in dem er es erstmals durchgespielt sieht. Wo sich die >Zufälligkeit des äußeren Daseins in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats< verwandelt hat, stehen die >in neueren Romanen agierenden Helden [...] als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken [...] oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung [...] gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt< (ebd.). Die Schwierigkeiten müssen sich häufen, wo die Interpretation der Welt einem Paradigma folgt, das, wie bei Don Quijote, nicht von dieser Welt ist. Und doch macht selbst die Verrücktheit des im Zeitalter der stehenden Heere noch einmal zum fahrenden Ritter werdenden Helden ihn handlungsfähig – jedenfalls solange er für die Widrigkeiten, die er sich einhandelt, Erklärungen hat, die ihn in seiner Mission bestärken. Auch das Missverstehen zeigt, dass es aufs Verstehen ankommt. Don Quijote gleicht, so Hans-Jörg Neuschäfer, >demjenigen Leser, der den Text nicht auf sich wirken lässt, um sich etwas von ihm sagen zu lassen, sondern der seine vorentschiedene Meinung schon in die Lektüre hineinträgt und sich dort nur noch bestätigen lässt< (1963, 53).

Gerade das von ^falschen^^ Voraussetzungen her handelnde Individuum offenbart die Nicht-Selbstverständlichkeit des im Hier und Jetzt geltenden ^Sinns^^. Der Abgrund, der sich zwischen Ich und Welt auftut, wird im bürgerlichen Bildungsroman dadurch überwunden werden, dass sich >das Subjekt die Hörner abläuft<, um sich >in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinzubilden< (Hegel, 220). Solche Versöhnung liegt nicht im Bereich Don Quijotes.[2] Auch nicht am Ende des Romans, als er, auf dem Totenbett wieder vernünftig geworden, seinem Wahn abschwört. Was man Quijotismus nennt, ist nicht bloß individuelle Verrücktheit. Es ist eine Methode der Weltauslegung, die noch die gröbsten Inkongruenz-Erfahrungen zu assimilieren vermag und sich von ihnen nicht beirren lässt. Don Quijotes Eigensinn ist unangreifbar. Woher diese, wie Erich Köhler sagt, >ungeheure Kraft zur Sinnbegabung< (141)? Sie hängt mit dem sozialen Auftrag zusammen, an den das fahrende Rittertum gebunden ist: >deshacer tuertos y socorrer y acudir a los miserables< – >Ungerechtigkeiten zu beseitigen und den im Elend Lebenden beizustehen<, wie Juan Goytisolo diesen Auftrag jüngst in seiner Cervantes-Preisrede zitiert hat.

Diesem kategorischen Imperativ ist Don Quijote verpflichtet. Ich weiß nicht, wie weit Goytisolo sich mit der hermeneutischen Tradition auseinandergesetzt hat, in der die >subtilitas intelligendi<, das Verstehen, von der >subtilitas explicandi<, dem Auslegen, und der >subtilitas applicandi<, dem Anwenden, unterschieden wird. Kein Verstehen ohne Auslegen und Anwenden, so dass, wie Hans-Georg Gadamer betont, >im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet<. Und er betont ferner, es handle sich hier weniger um Methoden, >über die man verfügt<, und mehr um ein >Können, das besondere Feinheit des Geistes verlangt< (1960/1975, 291).[3] Die >Feinheit seines Geistes< stellte Goytisolo unter Beweis, indem er den Roman auf die grobe Wirklichkeit seiner Zeit anwandte und damit eben zeigte, dass er ihn verstanden hatte. Er stellt sich nämlich vor, wie der Ritter in der Gegenwart des heutigen Spanien gegen die >Zwangsräumungen< und die >Korrupten der Finanzindustrie< vorgeht oder in den zu Spanien gehörenden Enklaven von Ceuta und Melilla, deren Zäune und Grenzanlagen er für verzauberte Burgen mit Hängebrücken und zinnenbewehrten Türmen hält, den Flüchtlingen zu Hilfe kommt, >deren einziges Verbrechen ihr Selbsterhaltungstrieb und der Wunsch nach Freiheit ist<. Das Wozu des Interpretierens findet hier eine ebenso einfache wie engagierte Antwort: Es geht, im Material der Vergangenheit, um ein kritisches Verstehen der Gegenwart.

2. Sanchos richtiges Leben im falschen

Kommen wir zu Sancho Panzas Interpretationskünsten. Trotz seiner rundlichen Leiblichkeit fungiert er bekanntlich nicht nur als Gegensatz zu dem dürr-knochig-asketischen Quijote; nicht nur als der aufs gute Essen und eine ausgedehnte Siesta bedachte Antiheld, im Gegensatz zu dem permanent von seinem Auftrag in Atem gehaltenen edlen Ritter. Sancho folgt seinem Herrn nicht wie ein Schatten, sondern gewinnt im Laufe des Romans an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit – am ausgeprägtesten im Zweiten Teil, als sich seine Wege von denen Don Quijotes trennen und er zum >Statthalter< vermeintlich der Insel wird, die ihm sein Herr immer wieder als Lohn in Aussicht gestellt hat. Tatsächlich ist die ganze Sache von den Herzögen inszeniert, den wirklichen Herren des Landes, die den Roman kennen und ihren Einfallsreichtum vor allem dafür verwenden, um die beiden zu Objekten ihres Spottes zu machen. Das Gesetz des Handelns ist auf ^die Welt^^ übergegangen; sie ist auf den Ritter und seinen Knappen gefasst, denen sie nun mit ihren Erfindungen zuvorkommt. Diese >entheben< den Ritter >der eigenen Interpretation< (Neuschäfer 1963, 89). Wo sie überflüssig wird, versagt auch der Wille, seiner Auffassung der Dinge durch tatkräftiges Eingreifen Nachdruck zu verleihen. Die Welt entzieht sich ihm, indem sie ihm zustimmt – aber eben nur scheinbar, im Modus der Ironie und des Arrangements. Sanchos Amt als Statthalter der Insel Barataria unterliegt ebenfalls diesen Voraussetzungen, die er nicht durchschauen kann.

Die feierliche Amtseinsetzung besteht in ihrem Hauptteil in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung (vgl. II/45). Ich beschränke mich auf den zweiten der drei Streitfälle, bei dem der Witz des neuen Statthalters sich besonders glänzend bewährt. Ein Gläubiger verlangt seine zehn Dukaten zurück, doch der andere behauptet, er habe sie bereits zurückgegeben. Er legt einen Eid ab und gibt für den Moment des Vorgangs den Stock, den er in der Hand hält, dem Gläubiger, der ihn nach dem Eid wieder zurückgibt. Sancho verlangt daraufhin den Stock und gibt ihn wiederum dem Gläubiger. Damit sei er bezahlt, und er solle nun seines Weges gehen. Der Gläubiger ist verblüfft, denn der Stock ist keinesfalls zehn Dukaten wert. Er sieht nur den Stock, das Äußerliche, nicht was sich in ihm verbirgt. Anders der Richter. Er hat die ^Pragmatik^^ des Vorgangs verstanden. Es war kein Meineid; im Moment des Schwurs war tatsächlich bezahlt worden, weil sich das Geld in dem Stock befindet. Sancho, der weder lesen noch schreiben kann, entzieht den Worten die Aufmerksamkeit, um sich ganz auf den Vorgang zu konzentrieren. Er interpretiert, was getan, nicht was gesagt wird oder geschrieben steht.

Die Szene folgt dem karnevalistischen Schema der Verkehrten Welt. Hier sitzt ein Plebejer auf dem Thron, allerdings nur deshalb, weil die wirklichen Herren es so beschlossen haben. Sie wollen ihren Spaß haben – in der sicheren Erwartung, dass der Bauer, der den Staat regieren soll, sich zum Gespött macht. Obwohl Sancho kein professioneller Sinnvermittler oder befugter Interpret höherer Wahrheiten ist, macht er sich keineswegs zum Gespött. Als er die Dukaten im Rohrstock entdeckt, hält man ihn für einen neuen Salomo. Er entdeckt sie, weil er vorurteilslos zuhört und genau hinsieht. Mit Sanchos Statthalterschaft habe Cervantes, so Werner Krauss, >die Probe aufs Exempel< geliefert, >dass das spanische Volk nur die Macht ergreifen müsste, um seine verblüffende Eignung zur Selbstregierung zu erweisen< (1966, 159).

Allerdings gibt Sancho schon nach sieben Tagen sein Amt auf. Die Spötter haben ihr Spiel übertrieben. Wie Don Quijote am Hof des Herzogs zur Zielscheibe immer neuer Streiche wird, so Sancho in seiner fingierten Chefposition: Da ist der Arzt, der ihn am Essen hindert; die Depesche des Herzogs, die von vier Vermummten spricht, die ihm nach dem Leben trachten; schließlich der angebliche Angriff der Feinde, den man zum Vorwand nimmt, um ihn in einen Brust- und Rückenpanzer einzuschnüren, der ihn hilflos macht – so hilflos wie die Käferexistenz den Gregor Samsa, der vom Rücken nicht mehr auf die Beine kommt. Die Welt, die ihn in der Form des Gegenteils, der Position dessen, der das Sagen hat, zum Ding macht, das man ungestraft hin- und herschieben kann, kann er nicht ändern. Er kann sich ihr nur entziehen, indem er sich auf seine alte Bestimmung besinnt, seine >antigua libertad< (II/53, 1163) als Bauer, der sich aufs Säen und Pflügen versteht und keine Inseln verteidigen muss. Sobald er die Entscheidung gefällt hat, findet er zu seiner Sprache zurück, die es ihm zum ersten Mal verschlagen hatte: >Gott behüte Euch, meine Herren, und sagt dem Herzog, meinem Gebieter, dass ich nackt geboren wurde und mich noch nackt befinde [...], das heißt, ohne einen Dreier bin ich in die Statthalterschaft gekommen, und ebenso ziehe ich wieder hinaus: gar sehr gegen die Art und Weise, wie die Statthalter von anderen Inseln fortzuziehen pflegen< (ebd.). Er war für die Regierungsgeschäfte tatsächlich nicht geeignet, hat er doch, anders als üblich, sein Amt nicht missbraucht und in die eigene Tasche gewirtschaftet.

 

3. Krise und Ende des quijotesken Interpretationssystems

Der Optimismus des Willens, zu dem Don Quijote sein lange Zeit bestens funktionierendes Interpretationsschema verhilft, kommt im Zweiten Teil in die Krise. Es kommt, wie Erich Köhler bemerkt, zu einer Abwärtsbewegung, die Don Quijote immer mehr in Resignation und Melancholie hineintreibt, zu einer >Strukturumkehrung< der höfisch-ritterlichen Aventurenfolge, die den alten Ritter in aufsteigender Linie zur >Vollendung seiner selbst< geführt hatte (146).

Die Ritterromane, die er jahrelang seiner Lesewut zuführte, ohne sie je besänftigen zu können, erzeugen eine Weltauffassung, die an einem bestimmten Punkt in Praxis umschlägt und Alonso Quijano in Don Quijote verwandelt – den Provinzler, der mit kargem Küchenzettel lebt und zu Hause sitzend Romane verschlingt, in den fahrenden Ritter, der ^die Welt^^ kennenlernen und ihr das Gesetz seines Handelns aufzwingen will. Die Individualitätsform des fahrenden Ritters scheint ihm die einzig richtige, um die jeder konkret-nützlichen Tätigkeit fremde, standesgemäße Bildung des Ich (>el aumento de su honra<) in Übereinstimmung mit der Bildung des Gemeinwesens (>el servicio de su república<) so zu betreiben, dass dabei >jede Art von Unrecht< (>todo género de agravio<, I/1, 43f) auf den Tisch kommt und zurechtgerückt werden kann. Verrückt muss sein, wer sich ein solches Programm vornimmt. Seine brüchig gewordenen Waffen sind bekanntlich kaum geeignet, um sich vor den zahlreichen Prügeln zu schützen, mit denen die verärgerte Umwelt auf ihn reagiert. Aber wichtiger ist, dass sich mit der Lektüre der Ritterromane ein Interpretationsschema gebildet hat, das seine moralische Integrität nach jeder neuen Niederlage wiederherstellt und ihn an seinem Auftrag unbeirrt festhalten lässt. Dieses Schema beruht auf der Überzeugung, dass die Welt verzaubert ist. >Die Verzauberung<, sagt Emilio Lledó, >erlaubt es ihm, das unerwartete Resultat mit dem ursprünglichen Willen in Einklang zu bringen< (1957, 121). Dafür ist Einfallsreichtum verlangt. Nicht zufällig hat Cervantes seinen Helden einen >ingenioso hidalgo< genannt und damit aufs Ingenium als die entscheidende Mitgift hingewiesen, die er braucht, um die Unordnung, die den stets aufs neue auseinanderfallenden Absichten und Resultaten entspringt, in seine illusionäre Ordnung zu überführen. Neuschäfer hat gezeigt, dass nicht erst die Abenteuer die Geistesgegenwart ingeniösen Ausdeutens verlangen, sondern schon die Vorbereitungen für seinen ersten Ausritt: Die Rüstung, die ihm seine Vorfahren hinterlassen haben, ist nicht nur vom Staub zu befreien, sondern auch reparaturbedürftig; und ganz im Gegensatz zum traditionellen Ritterroman, dem er doch seine Inspiration verdankt, >wartet Don Quijote den Pfeil Amors gar nicht erst ab, sondern trifft für Dame und Liebe schon vorausschauende Vorsorge< (1963, 46), indem er kurzerhand eine Person für dieses ^Amt^^ ernennt.

Solange die Interpretation die widerständige Welt und ihre Verwicklungen in eine kohärente Erklärung bringen kann, fließen dem Willen neue Kräfte zu. Als er später, im Schloss der Herzöge, auf die verzauberte Dulcinea angesprochen wird, kommt er allerdings zu der Feststellung: >Perseguido me han encantadores, encantadores me persiguen, y encantadores me persiguirán< (II/32, 979). Der sorgfältig geformte Satz spricht das dominante Gefühl des ständigen Verfolgtseins in allen drei Zeitdimensionen aus, in dreifacher Aufzählung, verstärkt noch durch die chiastische Stellung der beiden ersten Glieder im Perfekt und im Präsens. Sie suggeriert eine Geschlossenheit, die jedes Entrinnen illusorisch macht. Verfolgt zu sein, artikuliert sich hier als ein lückenlos über alle Räume und Zeiten sich erstreckender Weltzustand, der für die Zukunft nichts Gutes erwarten lässt. Dass der Zauber nun auch über Dulcinea verhängt wurde, trifft ihn stärker als alle bisherigen Schläge, die er mit seinem Interpretationsschema stets neutralisieren konnte. Jetzt aber ist ihm sein Halt genommen, denn vor allem Dulcinea sorgt dafür, dass er sich in dieser widrigen Welt halten kann.

Solange seine Weltauslegung funktionierte, war seine Handlungsfähigkeit gesichert. Indem er im Zweiten Teil auf Leute trifft, die mit seinem Vorgehen vertraut sind, verliert sein Interpretationsschema an Kohäsionskraft. Mehr noch: Es wird ihm entwendet und gegen ihn selbst in Anschlag gebracht. Wo die anderen so tun, als sei die Welt der fahrenden Ritter noch in Ordnung, ist für ihn nichts mehr in Ordnung. Wo die anderen ihren Spaß haben, laufen seine Anstrengungen ins Leere, weil sie als Wirkungsraum nicht mehr die Welt, sondern die von den anderen arrangierte Fiktion von Welt haben.

Der erste, der den Spieß umdreht und die quijoteske Logik manipulativ einsetzt, ist ausgerechnet Sancho. Nicht um sich einen Spaß zu machen, aber doch aus eigennützigen Gründen, denn er hat sich in eine Zwickmühle gebracht, aus der er anders nicht mehr herauskommt. Er muss für seinen Herrn ein Treffen mit der ^wirklichen^^ Dulcinea arrangieren. Seine Überlegung ist einfach: >Da er nun toll ist, wie er es ist, und in der Tollheit oft ein Ding für das andere nimmt, weiß für schwarz hält und schwarz für weiß, [...], so wird es auch nicht schwerhalten, ihn glauben zu machen, eine Bauerndirne, die erste die beste, die ich finde, sei die Dame Dulcinea< (II/10, 767). Er täuscht sich. Ganz so einfach ist es nicht. Was er seinem Herrn als drei prächtig gewandete adlige Damen auf feurigen Pferden schildert, darin kann Don Quijote zunächst nichts anderes erkennen als >tres labradoras sobre tres borricos< – >drei Bäuerinnen auf drei Eseln< (769). Seine Kunst der Verwandlung funktioniert offenbar nur dann reibungslos, wenn sie selbstbestimmt aus eigener Kraft kommt. Sancho insistiert, aber Worte allein genügen nicht. Er kniet vor den drei Bäuerinnen nieder und stellt sich und seinen Herrn in vollendeter höfischer Rhetorik vor. Das ist ein genialer Einfall. Die bloße Beschreibung der Szene führte nicht zum Erfolg. Also greift er zu einem stärkeren Mittel. Er inszeniert, was er vorher bloß zu sagen versuchte. Er baut damit dem staunenden Don Quijote eine Brücke, über die er den Anschluss an sein bewährtes Interpretationsmuster und damit seine Handlungsfähigkeit wiedergewinnen kann. >Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben<, heißt es bei Pascal.[4] Das gilt auch für Don Quijote. Er tritt hinzu, kniet nieder und glaubt, dass diejenige, die er vor sich hat, >la sin par Dulcinea del Toboso< ist, die unvergleichliche Herrin seines Herzens, der Sinn seines Lebens. Erich Auerbach hat darauf hingewiesen, dass Sanchos Methode >kein ungefährliches Experiment< darstellt, denn es hätte einen >Choc< auslösen können mit der Folge noch >viel tieferen Wahnsinns< oder auch augenblicklicher Heilung (1946/1977, 324). Sancho, der Regisseur, handelt hier ähnlich wie in der Gerichtsszene mit den zehn Dukaten: Er achtet nicht nur aufs Gesagte, sondern auch darauf, was getan wird.

Am Ende wird aus Don Quijote wieder Alonso Quijano. Das kräftezehrende Interpretationsmuster, das immer schwerer aufrechtzuerhalten war, versagt. Vergeblich versucht Sancho, es nochmal zu reaktivieren: >steht aus dem Bette auf [...]: vielleicht finden wir hinter einer Hecke die Señora Doña Dulcinea entzaubert<. Die Aussicht, die entzauberte Dulcinea doch noch zu finden, hat für den entzauberten Don Quijote nichts Verlockendes mehr. Er antwortet im Muster seines Knappen, mit einem Sprichwort: >en los nidos de antaño no hay pájaros hogaño< – >in den Nestern vom vergangenen Jahr findet man in diesem keine Vögel< (II/74, 1333). Und er fährt fort: >Yo fui loco y ya soy cuerdo< – >ich war verrückt und bin jetzt vernünftig< –, doch was hat es mit dieser Vernunft auf sich? Ist er am Ende nur einer, der den Kampf gegen die >Prosa der Wirklichkeit< aufgegeben hat? Juan Goytisolo empfiehlt uns den verrückten Don Quijote als Vorbild. Nur wer die Zäune von Melilla als Festung sehen kann, wird auch den Flüchtlingen die Solidarität nicht verweigern. Don Quijotes von edlen Motiven bestimmte Praxis muss nur solange scheitern, wie sie nicht >Politik< im weiten Sinne werden kann.

Literatur

Auerbach, Erich, >Die verzauberte Dulcinea<, in: ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946), Bern-München 1977, 319-42

Cervantes, Miguel de, Don Quijote de la Mancha, (Jubiläumsausgabe zum 400. Jahrestag der Erstausgabe), hgg. v. F.Rico, 2 Bde., Barcelona 2004 (die Deutsch wiedergegebenen Zitate folgen der tieckschen Übersetzung)

Flasch, Kurt, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt/M 2008

Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode (1960), 4. Aufl., Tübingen 1975

Goytisolo, Juan, >A la llana y sin rodeos< (Cervantes-Preisrede), 23.4.2015 (www)

Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke 14, Frankfurt/M 1986

Köhler, Erich, Cervantes (unveröff. Ms. einer Vorlesung)

Krauss, Werner, Miguel de Cervantes. Leben und Werk, Neuwied-Berlin/W 1966

ders., Grundprobleme der Literaturwissenschaft. Zur Interpretation literarischer Werke, Reinbek 1968

Lledó Iñigo, Emilio, >Interpretación y teoría en Don Quijote<, in: Anales cervantinos, 6. Jg., 1957, 113-22

Marx, Karl, >Thesen über Feuerbach< (1845), in: MEW 3, 5-7

Neuschäfer, Hans-Jörg, Der Sinn der Parodie im Don Quijote, Heidelberg 1963

Orozco, Teresa, Platonische Gewalt. Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit, Hamburg-Berlin 1995

Schmückle, Karl, >Begegnungen mit Don Quijote< (1936), in: ders., Begegnungen mit Don Quijote. Ausgewählte Schriften, hgg. v. Werner Röhr, Hamburg 2014, 301-18



[1] Habilitationsvortrag an der Universität Potsdam am 13.5.2015.

[2] Karl Schmückle bemerkt, Cervantes habe >nicht die Versöhnung mit dem Bestehenden und nicht das Sich-Abfinden mit der gemein-prosaischen bürgerlichen Wirklichkeit gelehrt, [...] sondern dass sich der Mensch nüchtern zur ernüchterten Welt und zur Notwendigkeit des geschichtlichen Fortgangs verhalte< (1936/2014, 302f).

[3] Teresa Orozco hat Gadamer selbst als feinsinnigen Interpreten am Werk gezeigt, und zwar am Beispiel seiner philosophischen Texte aus der NS-Zeit, an denen sie interessiert, >was von der ^Zeit^^ wahrgenommen wird, und wie sie sich im Philosophischen spiegelt< (1995, 17).

[4] So zitiert ihn Louis Althusser (Über die Reproduktion, 2. Halbbd., >Ideologie und ideologische Staatsapparate<, übers. v. F.O.Wolf, Hamburg 2012, 262). Der hier gegebene Nachweis der Stelle bei Pascal ist allerdings falsch. – Althusser zitiert offenbar aus dem Gedächtnis, trifft aber den Sinn von Pascals Text: >Il faut que l’extérieur soit joint à l’intérieur pour obtenir de Dieu; c’est-à-dire que l’on se mette à genoux, prie des lèvres, etc., afin que l’homme orgueilleux, qui n’a voulu se soumettre à Dieu, soit maintenant soumis à la créature.< (>Pensées<, in: Oeuvres complètes, hgg. v. J.Chevalier, Paris 1954, Nr. 469; éd. Brunschvicg, Nr. 250) Selbst der Stolze, der sich Gott nicht unterwerfen will, erfährt die subjektkonstituierende Wirkung des äußeren Arrangements.