Intelligenzmessung als Wissenschaftsdisziplin

Rechtfertigung sozialer Konstruktion von Ungleichheit

Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass die Intelligenzforschung schon immer eine offene Flanke zur Eugenik hatte. Intelligenztests wurden systematisch benutzt, um soziale Unterschiede zu biologisieren und Rassismus zu rechtfertigen – mit Hilfe einfacher Zirkelschlüsse und Korrelationen, die als Kausalität ausgegeben wurden.1

In der Sarrazin-Debatte wollte jeder auf der Seite der Wissenschaft stehen, besonders wenn es um die Intelligenz-Thesen ging. Thilo Sarrazin behauptet: »Unter seriösen Wissenschaftlern besteht heute zudem kein Zweifel mehr, dass die menschliche Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent erblich ist. Der Umstand, dass bei unterschiedlicher Fruchtbarkeit von Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Intelligenz eugenische und dysgenische Effekte auftreten können, wird daher nicht mehr grundsätzlich bestritten.«2 Als Belege für den ersten Satz führt er ein Übersichtsbuch des Marburger Hochbegabtenforschers Detlef Rost und einen Sammelband der beiden Intelligenzforscher/innen Elsbeth Stern und Jürgen Guthke an.3

Die zitierte Elsbeth Stern distanzierte sich prompt in der Zeit (02.09.2010): Sarrazin habe »Grundlegendes über Erblichkeit und Intelligenz nicht verstanden«. Deshalb müsse man auch viele seiner Folgerungen infrage stellen, beispielsweise seine Verdummungs-Prognose. Zur gegenteiligen Einschätzung kommen Heiner Rindermann und Detlef Rost in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (07.09.2010): Seine »Thesen sind, was die psychologischen Aspekte betrifft, im Großen und Ganzen mit dem Kenntnisstand der modernen psychologischen Forschung vereinbar.«Sie räu men zwar ein, dass die Messintelligenz im 20. Jahrhundert kontinuierlich angestiegen sei, weisen aber auch darauf hin, dass verschiedene Forscher wie Richard Lynn und Gerhard Meisenberg (ebenso wie Sarrazin) eine Intelligenzabnahme für die Zukunft berechnet hätten.

Auf Spiegel Online (30.08.2010) schrieb der Wissenschaftsjournalist Jörg Blech gegen »Die Mär von der vererbten Dummheit« und konstatierte, Forscher hätten den Streit längst entschieden – und zwar zu Ungunsten von Sarrazins Thesen. Spiegelt die mediale Meinung, die tendenziell gegen Sarrazin gerichtet war, tatsächlich die Sicht der meisten Expertinnen und Experten der Intelligenzforschung wider?

In der Psychologie besitzt die Intelligenzforschung eine besondere Stellung mit einer der längsten Forschungstraditionen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Ihre Messinstrumente, die Tests, gelten als besonders hochwertig und ihre Anwendung hat große gesellschaftliche Relevanz, zum Beispiel bei der Diagnostik in der Schule und bei der Personalauswahl in der Wirtschaft. 1994 unterstützten  zahlreiche Intelligenzforscher/innen das Manifest »Mainstream Science on Intelligence« und verteidigten das Buch The Bell Curve (in dem ähnliche Thesen wie bei Sarrazin vertreten werden) gegen die angeblich unfaire Kritik der US-Medien. Die meisten Kritiker kommen nicht aus der psychologischen Intelligenzforschung: Pierre Bourdieu war Soziologe, Michael Billig ist Sozialwissenschaftler, James Flynn ursprünglich Politologe, Stephen Gould war Paläontologe und – wie Richard Lewontin und Steven Rose – Biologe. Leon Kamin, William Tucker und Klaus Holzkamp sind bzw. waren Psychologen, aber keine Intelligenzforscher. Eine Ausnahme bildet Robert Sternberg, der eine eigene Intelligenztheorie entwickelte und vor allem die Vorstellung von Intelligenz als einheitliches Konzept kritisiert. Auch Flynn hat auf dem Gebiet der Intelligenz geforscht und mit einer Re-Analyse umfangreicher Intelligenztestdaten die Spekulation über den IQ-Abfall in den westlichen Ländern für das 20. Jahrhundert widerlegt.

Die Frage ist nun, warum Wissenschaftler aufgrund der gleichen »Faktenlage« zu diametral entgegengesetzten Aussagen und Schlussfolgerungen kommen können. Wollen die einen die »Wahrheit« über die natürliche Ungleichheit der Menschen aus »ideologischen Gründen« nicht akzeptieren? Oder nutzen die anderen Statistik und Psychologie zur Rechtfertigung von Klassengesellschaft und Rassismus?4

In der Allgemeinen Psychologie gab es früher radikale Umwelttheoretiker wie John Watson und Frederic Skinner. Von diesen grenzen sich die Erblichkeitstheoretiker bis heute ab und konstruieren eine scharfe Anlage-Umwelt-Dichotomie. Die Kritiker der Begabungs- und Intelligenzforschung argumentierten allerdings eher handlungstheoretisch, sie vertreten weder einen Gen- oder Umweltdeterminismus5 noch eine Kombination aus beiden – und sprengen damit den Rahmen der statistisch-experimentellen Psychologie selbst. Holzkamp widerspricht der Vorstellung von einer genetisch bedingten »Obergrenze« der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit. Menschen besäßen vielmehr aufgrund ihrer phylogenetischen Entwicklung eine nur ihnen zukommende genetische Potenz, die sie zur lernenden Aneignung gesellschaftlich kumulierter Erfahrungen befähige.6 Da der gesellschaftliche Entwicklungsprozess nie abgeschlossen ist, kann auch keine endgültige individuelle Entwicklungsobergrenze festgelegt werden.

Bourdieu etwa schlägt vor, sich gar nicht erst auf die Diskussion »Erbe oder Umwelt« einzulassen; man solle »statt zu versuchen, diese Frage wissenschaftlich zu klären, lieber [...] den Versuch machen, die sozialen Bedingungen des Auftretens einer solchen Fragestellung und des mit ihr eingeführten Klassenrassismus zu analysieren.«7

Warum Intelligenztests entwickelt wurden

Die moderne Intelligenzforschung wird in Psychologielehrbüchern mit zwei Namen in Verbindung gebracht: mit Francis Galton und Alfred Binet. Galton führte statistische Methoden in die Psychologie ein, interessierte sich für die Ursache von Persönlichkeits- und Begabungsunterschieden. Binet entwickelte den ersten Intelligenztest für Kinder im Auftrag des französischen Bildungsministeriums und gilt mit seinem deutschen Kollegen William Stern als Pionier in der Differentiellen Psychologie.

Interessanterweise war Galton bereits 1865 – also 40 Jahre, bevor der erste Test entstand – von der Messbarkeit und Erblichkeit geistiger Fähigkeiten überzeugt: »Ich glaube, dass Talent in einem sehr bemerkenswerten Maße durch Vererbung weitergegeben wird.«8 Diese Überzeugung versuchte Galton (ein Cousin Charles Darwins), in dem Buch Hereditary Genius anhand von Stammbaumanalysen berühmter Persönlichkeiten zu belegen.9 Dass berühmte Persönlichkeiten häufig Verwandte hatten, die ebenfalls berühmt waren, nahm Galton als Beweis für die Erblichkeit von Talent oder Intelligenz, obwohl das Bestehen von Familiendynastien ebenso gut mit soziokultureller »Vererbung« (im Sinne einer Weitergabe von sozialem, kulturellem und nicht zuletzt ökonomischem Kapital) erklärt werden könnte.

Der logische Fehlschluss, von Berühmtheit oder gesellschaftlichem Erfolg auf natürliche Begabung oder Intelligenz zu schließen, durchzieht die gesamte Intelligenzforschung und wird später zu einem Zirkelschluss erweitert: Die erbliche Intelligenz bestimme den Erfolg und die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft. Vergessen wird dabei, dass Intelligenztests so konstruiert werden, dass sie Schulerfolg und beruflichen Erfolg vorhersagen. Vorhersagevalidität ist ein wichtiges Gütekriterium für psychologische Tests. Wenn sie dies nicht erfüllen, verfehlen sie ihren intendierten Zweck und werden früher oder später als unbrauchbar verworfen. So konnten sich Galtons und Cattells Versuche, Intelligenz durch sinnesphysiologische Messungen und Reaktionszeiten zu erfassen, nicht durchsetzen, weil Akademiker bei den Aufgaben nicht besser als andere abschnitten. Das Problem des Zirkelschlusses bei IQ-Tests ist selbstverständlich theoretisch bekannt, aber es wird in Lehrbüchern zum Thema praktisch nicht behandelt oder problematisiert.

Ein vom französischem Psychologen Alfred Binet erarbeiteter Test wurde von Henry Goddard schon 1908 für die USA übersetzt und von Lewis Terman 1916 zum Stanford-Binet-Test weiterentwickelt. Terman ging (wie Galton) davon aus, dass Intelligenz in der Bevölkerung wie körperliche Merkmale normalverteilt ist. Das heißt: Es gibt wenige extreme und viele durchschnittliche Ausprägungen. Auch den heutigen Tests liegt dieses Prinzip zugrunde, weshalb vom Abweichungs-IQ gesprochen wird – ein Begriff, den der klinische und Militär-Psychologe David Wechsler 1939 einführte. Diese Art von Tests wurde um die Jahrhundertwende erst für Kinder entwickelt und kurze Zeit später bei Erwachsenen eingesetzt, etwa zur Diagnose »angeborenen Schwachsinns«, um über Zwangssterilisati onen zu entscheiden, wie auch zur Rekrutenauswahl beim US-amerikanischen Militär. Um diese Nutzung zu verstehen, muss die politische, ökonomische und kulturelle Situation im Übergang zum 20. Jahrhundert skizziert und die aufkommende eugenische Bewegung berücksichtigt werden. Bourdieu machte darauf aufmerksam, dass das Auftauchen von Intelligenztests damit zusammenhing, dass »dank der Schulpflicht Schüler in das Schulsystem kamen, mit denen dieses Schulsystem nichts anzufangen wusste [...]«.10 So wuchs das Bedürfnis, ein Instrument zur Selektion an die Hand zu bekommen. Diese Funktion hatten die ersten Tests jedenfalls in Frankreich, den USA, Deutschland und anderen europäischen Ländern. Auch wenn es nicht überall eine allgemeine Schulpflicht gab, gingen doch immer mehr Kinder verschiedener Schichten in die Schule.

Der alte Konkurrenzkapitalismus war im Zuge der Großen Depression zwischen 1873 und 1896 zum organisierten Kapitalismus übergegangen. Im Rahmen des sich ungleich, krisenhaft und unter den Bedingungen der wachsenden internationalen Konkurrenz entwickelnden Kapitalismus kam dem Staat nun die Funktion zu, die Interessen der nationalstaatlich organisierten Monopole international durch protektionistische Maßnahmen, Ausbau der Militärkapazitäten und Kolonienerwerb zu verteidigen. Der neue Staatsinterventionismus und die Entwicklung der sozial- und bevölkerungspolitischen Tätigkeit des Staates war dementsprechend zweischneidig: Einerseits reagierte er präventiv auf den Aufstieg der zur Massenbewegung entwickelten sozialistischen Arbeiterbewegung, andererseits dienten Schul-, Normalarbeitstag- und Fabrikgesetzgebung auch den Notwendigkeiten der zwischenimperialistischen Konfrontation. Denn eine gesunde Bevölkerung war eine Voraussetzung für die Kriegsfähigkeit in dem sich seit Mitte der 1890er Jahren zunehmend abzeichnenden Weltkriege.11 Stefan Kühl12 weist darauf hin, dass gleichzeitig mit der Zunahme von Staatsinterventionen und -regulierungen (gegenüber dem Laissez-faire-Kapitalismus) die Eugenik mit ihren Forderungen nach einer Regulierung der Fortpflanzung und künstlichen Selektion an Einfluss gewann. Hatte der Sozialdarwinismus noch die freie Konkurrenz und den individuellen »Kampf ums Dasein«13 propagiert, bot zum Übergang ins 20. Jahrhundert die eugenische Bewegung eine quasi-biologische Erklärung für die Verelendung breiter Massen an: Die Eugeniker gingen davon aus, dass in den Industriestaaten das Selektionsprinzip durch eine verbesserte medizinische Versorgung und Sozialpolitik außer Kraft gesetzt sei, was eine überproportionale Vermehrung von »minderwertigen« Bevölkerungsgruppen zur Folge habe.

Die sozialistische Utopie wird dabei durch eine eugenische ersetzt: In einer Biographie über Galton schreibt Karl Pearson, Demokratie und Fortschritt seien unmöglich, nur die Einsicht, dass der Mensch den Menschen wie ein domestiziertes Tier züchten müsse, könne die Menschheit befreien. Dies sei Galtons Meinung gewesen.14

Im Unterschied zu Galton vertraten andere bekannte Psychologen wie Wundt, Stern und Binet keine eugenischen Ansichten. Binet hegte offenbar eine gewisse Skepsis gegenüber der Idee, man könne Intelligenz messen und intellektuelle Fähigkeiten auf eine Zahl reduzieren; den »Pessimismus« der Unveränderlichkeit der Intelligenz teilte er nicht.15 Stern sah die massenhafte Testanwendung ebenfalls kritisch, setzte sich für eine Einheitsschule ein und war von der hohen Erblichkeit und Unveränderlichkeit der Intelligenz genauso wenig überzeugt wie Binet.16 Umgekehrt ist die Überzeugung, Intelligenz exakt als eine angeborene und unveränderliche Größe messen zu können, Grundlage der eugenischen Intelligenzforschung, die sich vor allem in England und in den USA durchsetzen konnte. Die dazugehörige Intelligenztheorie – die »g-Faktor«-Theorie – entwickelte Charles Spearman am Londoner University College.

Im Geburtsland der statistischen Intelligenztheorie und der Eugenik

Das Galton Institute, die frühere »Eugenics (Education) Society« in England, repräsentiert die Tradition der »Londoner Schule« in der Differentiellen Psychologie, zu dessen Gründervätern der Offizier, Statistiker und Professor für Psychologie Charles Spearman gehört.17

Der Vorteil seiner allgemeinen Intelligenztheorie ist die Reduktion aller intellektuellen Leistungen auf eine Zahl, wie sie von den meisten IQ-Tests angeboten wird. Sie fußt auf der Tatsache, dass die Ergebnisse verschiedener Tests positiv miteinander korrelieren. Das bedeutet, dass eine Person mit gutem Mathematik-Testergebnis wahrscheinlich auch in einem Kreuzworträtseltest oder einem Finde-die-Unterschiede-Bildertest gut abschneiden wird. Spearman soll 1912 vorgeschlagen haben, das Wahlrecht und das Recht auf Fortpflanzung in England von einem Mindest-IQ abhängig zu machen.18

Der britische Intelligenzforscher Raymond B. Catell wurde im Übrigen schon in der 1930er Jahren von ganz ähnlichen Sorgen geplagt wie Sarrazin heute, nämlich, dass die »Dummen« übermäßig viele Kinder bekämen.19 Deshalb rief er 1937 zum »fight for our national intelligence« auf, damit England den eugenischen Konkurrenzkampf um die Qualität der eigenen Bevölkerung nicht verliere. Deutschland kam seiner Meinung nach das Verdienst zu, als erstes Land Rassenverbesserungsprogramme eingeführt zu haben.20 Auch nach 1945 revidierte er seine Ansichten kaum. Er lobte Hitler für »full employment, family values, raising the standard of living, and countless other things, including the Volkswagen.«21

Spearmans Nachfolger im Psychologischen Institut war der seinerzeit renommierte Schulpsychologe und Intelligenzforscher Cyril Burt, der für eine frühzeitige Trennung der Schüler anhand von Intelligenztests plädierte.22 Bis heute muss die Vorstellung, Intelligenz sei eine statische (bezifferbare) und unveränderliche Eigenschaft, dafür herhalten, eine integrative Bildungs(förder)politik abzulehnen und ein entsprechend selektives Schulsystem zu rechtfertigen.

Eugenische Forderungen nach Geburtenkontrolle und Zwangssterilisation wurden im »Geburtsland« der Eugenik nie realisiert – anders als in den USA, wo schon 1907 das erste Sterilisationsgesetz im Bundesstaat Indiana erlassen wurde. In der Folge gab es in den meisten Bundesstaaten der USA wie auch in zahlreichen anderen Ländern solche Gesetze.

Blütezeit der IQ-Testungen und Eugenik

Die eugenisch geprägte Intelligenzforschung beeinflusste zahlreiche Bereiche der Politik in den USA während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Erstes wurden »Schwachsinnige«23 mit Intelligenztests diagnostiziert. Der Binet-Test-Übersetzer Henry Goddard war ein Verfechter der gesetzlichen Zwangssterilisation und trat außerdem dafür ein, Intelligenztests in allen Bereichen des öffentlichen Lebens einzusetzen. Zum Beispiel testete er schon 1912 Immigranten, die in die USA einreisen wollten, auf mentale Defekte – und kam unter anderem zu dem verblüffenden Ergebnis, dass 83 Prozent der Juden, 80 Prozent der Ungarn und 79 Prozent der Italiener schwachsinnig seien.24

Zentral für die Testentwicklung wurden die von Robert Yerkes entwickelten Army Alpha- und Beta-Tests, die an fast zwei Millionen Soldaten während des Ersten Weltkriegs angewendet wurden: die größte Stichprobe in der Geschichte der Psychologie. Gleichzeitig wurde mit der Beta-Version der erste »sprachfreie« Test für Analphabeten eingerichtet. Carl Brigham vertrat 1923 in dem einflussreichen Buch A study of American Intelligence auf Grundlage der Armeedaten die Ansicht, die nordische Rasse sei der alpinen und mediterranen überlegen und warnte vor einem Niedergang der amerikanischen Intelligenz durch eine falsche Einwanderungspolitik.25 Wenig bekannt ist, dass auch im faschistischen Deutschland eine Intelligenzprüfung zur Feststellung von »angeborenem Schwachsinn« als Grundlage für Zwangssterilisationen eingesetzt wurde.26

Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde in der sowjetischen Besatzungszone bereits 1946, in der Bundesrepublik offiziell erst 1974 aufgehoben. Bis heute wurden die Opfer der NS-Zwangssterilisation mit dem Hinweis auf ähnliche Gesetze in den USA und einigen europäischen Ländern nicht entschädigt.

Intelligenzforschung und Eugenik nach 1945

Infolge der Verbrechen des Faschismus galten eugenische und rassistische Ideen nach 1945 zunächst als diskreditiert.27 Der Oberste Gerichtshof in den USA erklärte in den 1950er Jahren die Rassentrennung an Schulen und Universitäten für unrechtmäßig.

Dass die psychologische Rassenforschung in den Nachkriegsjahren zunächst keinen Anklang mehr fand, hatte auch mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre und der damit verbundenen Vorstellung zu tun, das soziale Elend könne durch sozial- und entwicklungspolitische Maßnahmen gemildert oder überwunden werden. Dies änderte sich jedoch Ende der sechziger Jahre, als sich eine Gegenbewegung zum neuen Egalitarismus formierte und Richard Nixon an die Macht kam. In den USA richtete sich diese anti-egalitäre Strömung insbesondere gegen die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Arthur Jensen, Professor für Pädagogische Psychologie an der Berkeley University, trat 1969 erneut mit der Erblichkeitsthese an die Öffentlichkeit, indem er den kompensatorischen Erziehungsprogrammen Ineffektivität bescheinigte und mutmaßte, der Intelligenzunterschied zwischen Afroamerikanern und europäischen Amerikanern sei teilweise erblich bedingt.

Er berief sich noch auf die mit falschen Daten gestützten Erblichkeitsschätzungen von Cyril Burt und musste eingestehen, dass man die Erblichkeitsschätzungen für eine Gruppe nicht einfach auf die Erblichkeit eines Gruppenunterschieds übertragen darf, hatte aber erreicht, dass dieses Thema wieder in die wissenschaftlichen und politischen Diskussionen Einzug hielt und in der Folge von Hans Jürgen Eysenck, Richard Lynn, Philipp Rushton und etlichen anderen aufgegriffen wurde. Die rassistisch-eugenische Pioneer Fund und die Zeitschrift Mankind Quarterly waren wichtige Netzwerke für rechte Intelligenzforscher nach 1945. Zudem pflegten sie Kontakte zu rechtradikalen Projekten wie der American Renaissance und der Neuen Anthropologie (u.a. Billig 1981) und dominierten gleichzeitig renommierte Fachzeitschriften wie Personality and individual differences und Intelligence.

Obwohl viele der hier geschilderten Fakten bekannt sind, gehört die Verbindung der Intelligenzforschung zu Eugenik und Rassismus nicht zum Allgemeinwissen von Psychologiestudierenden. Es ist ein Thema, das in den einschlägigen Lehrbüchern und Vorlesungen ausgespart bleibt.

Die These von der genetisch bedingten Minderintelligenz von Armen und Migranten wurde in den letzten Jahren immer wieder – zuletzt von Sarrazin – wiederholt. Dass Intelligenzforscher, die solche Thesen vertreten, auch im Kontext politischer Strömungen zu sehen sind, sollte deutlich geworden sein. Die statistisch-naturwissenschaftliche Intelligenzforschung ist weder neutral noch objektiv und wird deshalb ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht. Vielmehr dient sie als Rechtfertigung des gesellschaftlichen Status Quo wie auch des Angriffs auf die Idee von der Gleichwertigkeit der Menschen. Jene Kritiker Sarrazins, die meinen, er sei nicht auf der Höhe der (Intelligenz-)Forschung, sind allerdings entweder schlecht informiert oder sie wollen nicht wahrhaben, dass der wissenschaftliche Mainstream solche Thesen vertritt.

Anmerkungen

1) Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem BdWi-Studienheft 10, das zum Thema »Wissenschaftliche Konstruktion sozialer Ungleichheit« im Herbst 2015 erscheinen soll. Es handelt sich um die stark gekürzte und bearbeitete Fassung eines Textes, der zuerst hier erschienen ist: L. Knebel / P. Marquardt 2012: »Vom Versuch, die Ungleichwertigkeit von Menschen zu beweisen. Warum Intelligenztests nicht neutral sind«, in M. Haller / M. Niggeschmidt (Hg.): Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz. Von Galton zu Sarrazin: Die Denkmuster und Denkfehler der Eugenik, Wiesbaden: 87-126.

2) Thilo Sarrazin 2010: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München (10. Auflage): 93.

3) Elsbeth Stern / Jürgen Guthke 2001: Perspektiven der Intelligenzforschung, Lengerich.

4) »[...] der Rassismus der Intelligenz ist die charakteristische Form der Soziodizee einer herrschenden Klasse, deren Macht zum Teil auf dem Besitz von Titeln wie den Bildungstiteln beruht [...]« (Pierre Bourdieu 1993: Soziologische Fragen, Frankfurt/M.: 252).

5) Vgl. Richard C. Lewontin / Steven Rose / Leon J. Kamin 1988: Die Gene sind es nicht ... Biologie, Ideologie und menschliche Natur, Weinheim.

6) Vgl. Klaus Holzkamp 1997: »Hochbegabung. Wissenschaftlich verantwortbares Konzept oder Alltagsvorstellung?«, in: Ders.: Schriften I, Hamburg:56f.

7) Bourdieu 1993: 254.

8) Eigene Übersetzung: Francis Galton 1865: »Hereditary Talent and Character«, in: Macmillan’s Magazine, 12/1865: 157.

9) Francis Galton 2006: Hereditary Genius: An Inquiry into its Laws and Consequences, Amherst (NY).

10) Bourdieu 1993: 254f.

11) Vgl. Frank Deppe / David Salomon / Ingar Solty 2011: Imperialismus, Köln: 27ff.

12) Stefan Kühl 1997: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt, New York: 20f.

13) Der Begriff stammt ursprünglich von Thomas Malthus, Charles Darwin wandte ihn auf die belebte Natur an und Sozialdarwinisten übertrugen ihn zurück in die Gesellschaft (vgl. Friedrich Engels 1962: »Dialektik der Natur«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 20, Berlin/DDR: 565).

14) Vgl. Karl Pearson 1914: The Life, Letters and Labours of Francis Galton, Cambridge.

15) Stephan J. Gould 1983: Der falsch vermessende Mensch, Basel: 162ff.

16) Wilfred Schmidt 1994: »William Stern (1871-1938) und Lewis Terman (1877-1956): Deutsche und amerikanische Intelligenz- und Begabungsforschung im Lichte ihrer andersartigen politischen und ideologischen Voraussetzungen«, in: Psychologie und Geschichte 1-2/1994: 3-25.

17) Arthur Jensen 2000: Charles Spearman: Founder of the London School; URL: http://www.galtoninstitute.org.uk/Newsletters/GINL0003/charles_spearman.htm , Stand: 12. 09. 2011.

18) Jensen 2000.

19) Raymond B. Cattell 1936: »Is national intelligence declining?«, in: The Eugenic Review, 3/1936: 181.

20) Raymond B. Cattell 1937: The fight for our national intelligence, London: 141f.

21) Raymond B. Cattell 1994: How good is your country? What you should know. Mankind Quarterly Monograph Series 5, Institute for the Study of Man: 2; zitiert nach: Barry Mehler 1997: Beyondism: Raymond B. Cattell and the New Eugenics; URL: http://www.ferris.edu/isar/bios/Cattell/genetica.htm , Stand: 15. 09. 2011.

22) Vgl. Gould 1983: 324f.

23) Ein ungenauer Sammelbegriff geistig sog. Zurückgebliebener, Lernbehinderter und psychisch Kranker; vgl. Gould 1983: 171f.

24) Vgl. Leon J. Kamin 1974: The science and politics of I.Q, Potomac (MC): 16.

25) Ebd.: 21.

26) Die Behauptung, in Deutschland wären nach 1933 keine Intelligenztests zum Einsatz gekommen, ist falsch. (Volkmar Weiss 2000: Die IQ-Falle. Intelligenz, Sozialstruktur und Politik, Graz, Stuttgart: 27).

27) Kühl 1997: 175.



Leonie Knebel ist Psychologin, absolviert eine Weiterbildung zur Psychotherapeutin bei der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie und promoviert an der Freien Universität Berlin zur Verhaltenstherapie bei Depression zwischen affirmativer Tendenz und kritischem Potential.