Zwei oder drei Dinge, die ich über den Kampf im Betrieb wissen wollte

in (12.06.2015)

 

In ihrem letzten Film deux jours, une nuit, preisgekrönt in Cannes, beschäftigen sich die Dardenne-Brüder in einem brillanten sozial-realistischen Drama mit Fragen der Organisierung und der Solidarität. Sie entfalten die demokratietheoretische Frage ausgehend vom Mikrokosmos eines Betriebs – im Kontext einer ökonomischen und persönlichen Krise.
Sandra, gespielt von Marion Cottilard, ist eine verheiratete Frau mit zwei Kindern. Sie hat ein Wochenende Zeit, um ihre sechzehn Arbeitskolleg_innen davon zu überzeugen, dass diese auf einen Bonus von 1000 Euro verzichten, damit sie weiter ihren Arbeitsplatz behalten kann. So lautet die Vorgabe ihres Chefs. Finanzieller Anreiz oder Solidarität? In einer ersten Abstimmung während Sandras Abwesenheit hatten 14 von 16 Arbeitskolleg_innen gegen sie entschieden. Nach dieser ersten Abstimmung gelingt es Sandra, ihren Chef zu überzeugen, die Abstimmung am Montag zu wiederholen. Sie braucht neun von 16 Stimmen, damit sie weiterarbeiten kann.
Der Film ist wie ein Thriller aufgebaut: Wird Sandra es schaffen, ihre Arbeitskolleg_innen zu überzeugen, indem sie bei ihnen in ihrer Privatsphäre – während deren Freizeit – anklopft, um sie nach Unterstützung und Solidarität zu fragen? In jeder Szene wiederholen sich Fragen und Antworten: Sie fordert ihre Arbeitskolleginnen auf, mit ihr zu sympathisieren; im Gegenzug bitten diese sie darum, Verständnis für ihre Situation aufzubringen.
Bei jeder Begegnung merken die Zuschauer_innen, dass hinter einer Stimme nicht bloß eine abstrakte Idee der Solidarität steht. Die Beteiligten sind konfrontiert mit unterschiedlichen Lebensverhältnissen, familiären Konflikten, verschiedenen Bedürfnissen: Es geht um die Notwendigkeit, für die Bildung eines Kindes aufzukommen oder die Gasrechnung zu begleichen, oder um den Traum, eine neue Terrasse zu errichten. Sandra begegnet den Arbeitskolleg_innen in den meisten Fällen zum ersten Mal außerhalb der Arbeitsstätte – in der Zeit, wenn sie mit ihrer Familie Zeit verbringen, Sachen reparieren oder als Trainer in einer Jugendfußballmannschaft auftreten. Es sind aber auch Begegnungen mit den Kolleg_innen innerhalb der Familienstrukturen. Sichtbar werden dabei Konflikte, sowie die Schwierigkeit, souverän für eine Arbeitskollegin zu entscheiden. Im Kontext unsicherer Arbeitsverhältnisse, finanzieller Nöte, aber auch alltäglicher Wünsche sind viele Arbeiter_innen auf 1000 Euro angewiesen. Trotzdem – einige erklären sogleich ihre Solidarität und streiten mit den anderen. Einer bricht in Tränen aus und bittet Sandra um Vergebung, dass er nach seinem eigenen Interesse abgestimmt hat.

Solidarität – dafür möchte Sandra in einer demokratischen Abstimmung eine Mehrheit gewinnen. Ihr emotionaler Zustand ist dabei instabil. Wir sehen im Film die Verletzlichkeit von Sandra. Ihre Kündigung – Zeichen einer ökonomischen Krise – ist gleichzeitig eng mit ihrer persönlichen Krise verflochten. Die Notwendigkeit, den Job zu behalten, geht weit über die ökonomische Dimension hinaus. Sie war in der Psychiatrie und war krankgeschrieben wegen einer Depression. Mit der zunehmenden Angst, es nicht zu schaffen, steigen gleichzeitig die Symptome ihrer Depression. Sie schluckt in diesen Momenten mehrere Antidepressiva, und macht auch einen Selbstmordversuch. Es geht um mehr als nur um ihren Job – Sandra kämpft um ihre persönliche Existenz.
Sandra erfährt sich selber als Handelnde im Kampf. Der Kampf hat für sie etwas Befreiendes und öffnet Handlungsräume. Aber auch für eine Kollegin von ihr. Deren Partner zwang sie, den Bonus zu nehmen, damit sie eine neue Terrasse errichten können. Sie trennt sich von ihrem Partner und stellt sich in einem emanzipatorischen Akt auf Sandras Seite. Froh verkündet sie, noch nie zuvor eine Entscheidung für sich getroffen zu haben.

In der Abschlussszene kommt es zur Abstimmung: Pattsituation. Acht entscheiden sich für Sandra und acht für die Prämie. In der Pattsituation macht die Fabrikführung ihr das Angebot zu bleiben, jedoch auf Kosten eines anderen migrantischen Kollegen, der einen befristeten Vertrag hat. Im Moment der Entscheidung, als Sandra sich umdreht, hat man als Zuschauer_in das Gefühl: Der ganze Kampf war nicht umsonst. Sandra hat nun das Selbstvertrauen gewonnen, ein neues Leben anzufangen.
Der Film gibt gute Anstöße, um über das Verhältnis von Krise, Solidarität und Demokratie nachzudenken. Wie funktioniert Demokratie unter den Bedingungen der Krise im Mikrokosmos Betrieb? Was hat Solidarität mit Demokratie zu tun und welche Rolle spielt hierbei Organisierung? Was passiert, wenn unsichtbare ökonomische Bedingungen einen Einfluss auf das Alltagsleben der Einzelnen haben?

Vorerst zeigt der Film beeindruckend, dass Sandra von der Kündigung betroffen war, weil sie krank war. Ihre Verwertbarkeit im Arbeitsprozess stand nicht nur für den Arbeitgeber, sondern auch für die Mitarbeiter_innen in Frage. Das Abstimmungsergebnis in ihrer Abwesenheit ist ein Indiz dafür. Die Entscheidung des Arbeitgebers am Ende des Films, einen migrantischen Kollegen mit befristetem Arbeitsverhältnis zu kündigen, zeigt wie vulnerable Gruppen im Krisenkontext als erste über die Klippe springen müssen und gegeneinander ausgespielt werden können.
Das zweite Abstimmungsergebnis ist nicht selbstverständlich. Es beruht auf Sandras intensiver Organisierungsarbeit, die in zwei Tagen ihren Kolleg_innen ihre persönliche Situation dargestellt hat. Sie konnte Empathie mobilisieren, indem sie auf ihre persönliche und ökonomische Situation aufmerksam machte. Dabei hat sie eine persönliche Sprache gesprochen und keine im engen Sinne politische Sprache. Der Kampf lohnte sich, durch Organisierung gewann sie Handlungsmacht. Die Abstimmung steht für eine demokratische Entscheidungsfindung im Betrieb. Der Film zeigt auf, wie Veränderung möglich ist, aber auch wie schwierig es ist, Solidarität zu erreichen. Mit einem bloßen Appell an die Solidarität ist der demokratische Kampf nicht zu gewinnen, Gerechtigkeit nicht zu erlangen. Was vielmehr zählt, ist der Kampfprozess.

Auch wenn der Film auf einer Mikroebene die Frage der Ermächtigung positiv beantwortet, bleibt die Frage im Raum, inwiefern Betriebe als demokratische Modelle funktionieren können, ohne die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu berücksichtigen. Zum Beispiel erfahren wir im Film nicht, ob die Firma von einer Umsatzkrise betroffen ist oder die Maßnahme eine Rationalisierungsstrategie ist. Und inwiefern die objektiven Verhältnisse der Wettbewerbsfähigkeit als Zwangsmaßnahme wirken. Warum eigentlich kommt der Aspekt des Klassenkampfs im Film nicht vor? Weshalb organisieren sich die Arbeiter_innen nicht gemeinsam gegen den Arbeitgeber, um Druck auf die Managementebene auszuüben? Wie könnten vielmehr die Konkurrenzverhältnisse und die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse sichtbar gemacht werden? Und schließlich: Welche Formen der demokratischen Organisierung wären notwendig, um kollektiv gegen Prekarisierung zu kämpfen?

Der Film entwickelt eine Perspektive, um diese großen, entscheidenden Fragen ausgehend von den alltäglichen, lokalen, persönlichen Kämpfen und Erfahrungen zu stellen. Im Sinne einer Politisierung von Bedürfnissen und Sichtbarmachung von Handlungsmacht. Auch wenn die Krisen heute stark individualisiert erfahren werden und Unternehmensstrategien sich darauf stützen – das Anreizsystem im Film verstärkt den Kampf jede_r gegen jede_n –, Demokratie im Film erscheint als eine Praxis, die konkret im Alltag erlernt und erfahrbar gemacht wird, durch Selbstorganisierung von unten, Durchbrechen der Vereinzelung im Betrieb und durch die Erfahrung von gelebter Solidarität.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 35, Frühjahr 2015, „Demokratie im Präsens“.