Ruanda. Dass es knallte, bekam man mit

„Ohne jeden Zweifel, das Böse existiert“. Romeo Dallaire blickt zurück auf die Wochen im Frühjahr 1994, als er der Kommandeur der UN-Truppen im ostafrikanischen Ruanda war. Dallaires Einsatz begann im September 1993, nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Arusha, zwischen der ruandischen Regierung und der Tutsi-Rebellengruppe FPR.
Ende 1993 hoffte man auf den Frieden, hoffte darauf, dass eine neue und gemeinsame Regierung den langjährigen Bürgerkrieg beenden könnte. Doch als in den Abendstunden des 6. April 1994 die Maschine mit dem ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana an Bord im Landeanflug auf den Flughafen Kigali abgeschossen wurde, brach die Hölle los. Das Morden, das Abschlachten, das Vernichten der verhassten Tutsi-Minderheit und liberaler Hutu begann fast augenblicklich nach Bekanntwerden des Attentats. 100 Tage später waren zwischen 800.000 und einer Million Menschen brutalst niedergeknüppelt, erschlagen, mit Macheten zerhackt, erschossen, ertränkt, von Handgranaten in Stücke gerissen, zu Tode vergewaltigt worden. Und die Weltöffentlichkeit hatte weggeschaut.
„Ich persönlich habe mir nie vorstellen können, dass es derartig katastrophal war und es diese  Massenmorde geben könnte“, meint heute der damalige deutsche Botschafter Dieter Hölscher. Er sei völlig überrascht gewesen, nichts habe darauf hingedeutet. Hölscher war bereits 1991 als Botschafter der Bundesregierung nach Ruanda geschickt worden. Sein letzter Posten als Diplomat. Ende April 1994 sollte er in den Ruhestand geschickt werden. „Es war eine schöne Zeit. Es gab da einen deutschen Fleischer, der machte deutsche Fleischprodukte, einen sehr guten und kleinen Gemüse- und Obststand, man konnte gut da leben“, erinnert er sich an seine Zeit in Ruanda.
Die Entsendung Dieter Hölschers sollte sich als fataler Fehler für Deutschland herausstellen. Einer von vielen. Das Auswärtige Amt schickte wissentlich einen Diplomaten in ein explodierendes Krisengebiet, der nur noch seine Pensionierung vor Augen hatte. Und nicht nur das, die offiziellen Stellen der Bundesrepublik Deutschland versagten auf weiter Flur in Ruanda. Man übersah, blickte weg, ignorierte, beschönigte. Neben der deutschen Botschaft engagierten sich der Deutsche Entwicklungsdienst DED und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GTZ in etlichen Projekten im ganzen Land. Die Bundeswehr unterhielt bereits seit 1976 enge Kontakte. Ruanda war Empfängerland im Rahmen des Ausstattungshilfeprogramms der Bundesregierung für ausländische Streitkräfte. Eine Beratergruppe der Bundeswehr war darüber hinaus vor Ort und arbeitete eng mit dem ruandischen Militär zusammen. Das Bundesland Rheinland-Pfalz bezeichnete sich seit Mitte der 1980er Jahre als enger Partner Ruandas. Ein Partnerschaftsbüro in der Hauptstadt Kigali koordinierte die vielfachen Projekte im ganzen Land. Offizielle deutsche Stellen waren also gut vernetzt.
All diese offiziellen Stellen berichteten zurück nach Bonn. An das Auswärtige Amt, an das Verteidigungsministerium (BMVg), an das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMwZ). Zudem noch an das Innenministerium in Mainz und an die GTZ Zentrale in Eschborn.
Doch auch nachdem Mitarbeiter und Beamte, die in Ruanda zwischen 1990 und April 1994 lebten und arbeiteten immer wieder in Berichten auf gewaltsame Übergriffe, Diskriminierungen, ja sogar eine Vorbereitung auf Massenmorde hinwiesen, Bonn reagierte nicht. Man wolle „eine gemeinsame europäische Linie“ fahren, hieß es. Doch die gab es nie.
Wolfgang Asche war von 1991 bis 1994 für die GTZ in Ruanda. Er erinnert sich an Bombenattentate, an die rassistische und immer brutaler werdende Propagandawelle des Hasssenders Radio Télévision Libre des Mille Collines (RTLM). In den Sendungen wurde ganz offen zum Töten der Tutsi aufgerufen. Pikanterweise wurden viele der RTLM Mitarbeiter zwischen 1991 und 1993 in Schulungen der Deutschen Welle ausgebildet. Berichte über die Situation in Ruanda gingen von Wolfgang Asche und anderen GTZ Mitarbeitern an die Zentrale nach Eschborn und damit auch an das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. „Wir haben kein Blatt vor den Mund genommen. Und natürlich ist von daher auch in den Zentralen, die Situation unterschätzt worden. Wenn das heute jemand bestreiten würde, dann wäre es sehr seltsam“, so Wolfgang Asche. Und auch sein Kollege Reinhardt Bolz, der seit 1989 für die GTZ als Regierungsberater mit Fokus Ruanda tätig war, schickte Warnungen an die Zentrale nach Eschborn: „Diese Spannungen wurden von unseren Projektleitern immer berichtet und das ging so weit 1993, dass Morde passierten, zum Beispiel Wachposten von uns, die Vorratslager bewachten, ermordet worden waren. Wir hatten das immer sowohl der Botschaft berichtet, das war selbstverständlich, aber auch dem BMwZ.“ Die Reaktion überraschte Bolz, denn „wir wurden zurück gepfiffen“, aufgefordert „durchzuhalten und weiter zu machen“. Reinhardt Bolz: „Die einzigen, die politische Konsequenzen damals gezogen haben und das auch offen gesagt haben waren die Kanadier. Die haben gesagt, wir können diese Morde, diese gezielten Morde nicht mehr mittragen, wir ziehen hier ab. Das war, ich denke, Ende 1993, Anfang 1994.“
Jörg Zimmermann kam 1991 als evangelischer Pfarrer mit seiner Familie nach Ruanda. Er kannte das Land schon von vorherigen Aufenthalten, sprach sogar die Landessprache Kinyarwanda. „Dass es knallte, bekam man mit“, sagt er ganz direkt. Er habe in einem normalen Stadtteil von Kigali gelebt und damit quasi direkt im ruandischen Leben gesteckt. Er erinnert sich an Überfälle auf Gemeindemitglieder, an Bedrohungen, an Handgranaten und Schießereien direkt in seiner Nachbarschaft, an die Eskalation der Gewalt. Doch Pfarrer Zimmermann hat nicht nur zugesehen, er organisierte Friedensmärsche mit und verschickte Rundbriefe an Unterstützer in Deutschland. Darin warnte er ganz konkret vor dem großen Knall. Bereits im März 1994 schrieb er, dass die ruandische Hetzpresse Kangura den Mord an Präsident Habyarimana voraussagte, um so das Friedensabkommen von Arusha zu Fall zu bringen. Der evangelische Theologe wendete sich auch an die Botschaft, doch Botschafter Dieter Hölscher wollte davon nichts hören. In zahlreichen Interviews mit Zeitzeugen wurde genau das immer wieder bestätigt, der oberste deutsche Diplomat vor Ort weigerte sich Informationen auch nur anzunehmen.
Als ein Mitglied der Bundeswehrberatergruppe zum Botschafter geht und ihm sagt „Herr Botschafter schauen sie mal, ich habe hier eine Karte von Ruanda und da ist der Wald von Niungwe, da gibt es ein Lager der Interahamwe (Jugendmiliz, d.Red.), die trainieren da Massaker und wenn es mal los geht, dann sag ich ihnen zwischen 10.000 – 30.000 Toten voraus.“ Die Antwort des Botschafters ist ganz lapidar „Das Militär denkt nur an Leichen“.
Professor Jürgen Wolff von der Universität Bochum erstellte Anfang 1999 mit seinem Kollegen Andreas Mehler von der Universität Hamburg eine Studie für das BMwZ zu den Vorfällen in Ruanda. Eine Studie, die nie veröffentlicht wurde, doch dem Autor vorliegt. Kein Wunder, dass sie in einem Archiv verschwand, denn darin zeichnen die Autoren ein katastrophales Bild des deutschen Engagements in Ruanda. In Dutzenden von Interviews und nach der Durchsicht vieler Unterlagen und Dokumente kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik Deutschland total versagt hat im Vorfeld des Genozids. Nichts deutet auf eine gemeinsame „europäische Linie“ mit Frankreich und Belgien hin. Es gab keine Überlegungen, Druck auf die ruandische Regierung auszuüben. Der Ernst der Situation wurde nicht wahrgenommen, stattdessen unterstützte man wirtschaftlich, entwicklungspolitisch und militärisch eine Regierung, die Minderheiten diskriminierte, die Massenmorde gezielt vorbereitete. „Man hätte auf jeden Fall mehr tun können“, resümiert Jürgen Wolff.
Die deutsche Botschaft war selbst auf die drohende Evakuierung in diesem Krisengebiet nicht vorbereitet. Mitarbeiter der GTZ übernahmen diese Rolle, die deutschen Staatsbürger sicher außer Landes zu bringen. Schließlich konnten die Deutschen sich einer Kolonne der Amerikaner in Richtung Burundi anschließen. Der Botschafter selbst wurde als einziger Deutscher von den Franzosen ausgeflogen. Er beschreibt im Interview, wie er auf dem offenen Lastwagen auf dem Weg zum Flughafen bei leichtem Regen nass wurde. An die Straßenkontrollen der Hutu-Milizen, an mordende Jugendbanden der Interahamwe, an Leichen im Stadtgebiet, daran erinnert er sich nicht. Es wirkt wie Hohn, wenn das Auswärtige Amt auf eine Anfrage erklärt: „Das Auswärtige Amt bildet seine Mitarbeiter für Krisensituationen aus und permanent fort. In akuten Krisensituationen werden die Mitarbeiter intensiv u.a. von den Personalreferaten begleitet und beraten. Besonders wird auf die Belastbarkeit und Sozialkompetenz sowie auf die Flexibilität und praktischen Fähigkeiten der Mitarbeiter geachtet sowie deren physische und psychische Belastung bewertet. Für den Einsatz in permanenten Belastungs- und Krisengebieten werden nur Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ausgewählt, die alle Qualifikationen für einen solchen Einsatz mitbringen. In Krisensituationen stehen Zentrale und Auslandsvertretung in permanentem Kontakt.“
21 Jahre liegt der Genozid in Ruanda zurück. Eine Aufarbeitung von Seiten der Deutschen gab es bislang nicht. Unterlagen und Berichte in der GIZ Zentrale (der Nachfolgeorganisation aus DED und GTZ) und dem Bundeverteidigungsministerium sind nicht mehr auffindbar. Das Auswärtige Amt will nur schriftlich auf Fragen antworten, eine Einsicht in die Botschaftsakten wird nicht erlaubt. Es bestehe eine dreißigjährige Sperrfrist. Deutschland ist seiner geschichtlichen und seiner politischen Rolle in Ruanda nicht gerecht geworden. Die Frage muss deshalb gestellt werden, würde sich Deutschland heute in solch einer Krisensituation anders verhalten?