Deutsche Abrüstungspolitik - unter „ferner liefen“

Die Abrüstungsabteilung des Auswärtigen Amtes (AA), so meinte der Leiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Harald Müller, jüngst in der Frankfurter Rundschau, sei „ein wirkliches Flaggschiff deutscher Außenpolitik“. Dies mit dem einen oder anderen Beispiel plausibel zu machen, unterließ Müller – und es wäre ihm wohl auch schwer gefallen. Denn eine aktive, gestaltende internationale Abrüstungspolitik, die auch öffentlich wahrnehmbar wäre, hat die Bundesrepublik zumindest in diesem Jahrhundert – das währt immerhin schon reichlich 14 Jahre – noch nicht betrieben.
Indizien dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte? Fehlanzeige. Im Gegenteil – gerade wurde das „Flaggschiff“ im Zuge einer Strukturreform zur Unterabteilung in einer künftig größeren Einheit, gemeinsam mit der bisherigen Abteilung Vereinte Nationen, zurückgestuft. Dazu Müller: „Die Abstufung zur Unterabteilung signalisiert Bedeutungsverlust.“
Im Hinblick auf die Bundeswehr kann sich die deutsche Abrüstungsbilanz der vergangenen 25 Jahre, seit Ende der Systemkonfrontation, aber durchaus sehen lassen: Die Kopfstärke der Streitkräfte ist um fast zwei Drittel reduziert worden, die Anzahl der Kampfpanzer um über 90 Prozent und die der Kampfflugzeuge um nahezu 80 Prozent. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts und der Zuspitzung im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen sowie angesichts des völlig unzulänglichen Bereitschaftsgrades vieler Großwaffensysteme der Bundeswehr wird für die nächsten Jahre jedoch eine gewisse Trendwende angestrebt: In den Jahren 2016 bis 2019 sollen die Streitkräfte insgesamt acht Milliarden Euro mehr erhalten, als bisher vorgesehen war.
Umfängliche neue Rüstungsprogramme werden sich damit allerdings allein wegen der zahlreichen Baustellen im Ausstattungs- und Beschaffungsportfolio der Bundeswehr nicht stemmen lassen. Die wären im Hinblick auf einen militärischen Konflikt mit Russland, der in manchen Denkspielen westlicher Politiker, Militärs und Journalisten als nicht auszuschließende Möglichkeit thematisiert wird, jedoch auch nicht hilfreich. Um das zu erkennen, genügt ein Blick auf unsere dynamisch aufrüstenden polnischen Nachbarn. Deren Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak hat jetzt bestätigt, dass die drei neuen U-Boote, die sein Land in Westeuropa erwerben will, mit amerikanischen Hochpräzisionsmarschflugkörpern vom Typ „Tomahawk“, ursprünglich als Kernwaffenträger für die US-Streitkräfte entwickelt, ausgerüstet werden sollen. Mit 400 Kilometern Reichweite sollen diese Projektile in der Lage sein, russische Raketenstützpunkte im Raum Kaliningrad zu zerstören. Eine andere Version mit 900 Kilometern Reichweite soll Ziele in Westrussland erreichen können. Mit der Indienststellung der U-Boote wird aber erst für die zweite Hälfte der 2020er Jahre gerechnet. Bis dahin könnte Polen dann vielleicht doch verloren sein – wenn es nicht gelingt, Krieg mit Russland dauerhaft auszuschließen und zu einem weniger konfrontativen Beziehungsgefüge mit Moskau als derzeit zurückzukehren.
HSFK-Leiter Müller hat seine „Flaggschiff“-Einstufung der Abrüstungsabteilung des AA in dem erwähnten Beitrag zwar nicht untersetzt, seine Kritik an der faktischen Degradierung der Abteilung aber sehr wohl, und in dieser Hinsicht kann man ihm nur zustimmen: „Die Aufgaben wachsen. Ein nuklearer Rüstungswettlauf zwischen China, Russland, den USA und Indien bahnt sich an. (Und der zwischen Indien und Pakistan ist bereits in vollem Gange, wie zu ergänzen bliebe.Anmerkung W.S.) Der Vertrag über Mittelstreckenwaffen ist in Gefahr. Das Nichtverbreitungsregime kriselt. In Europa ist ein neuer Anlauf in der konventionellen Rüstungskontrolle und der Vertrauensbildung nötig, wenn die akute Ukraine-Krise überwunden sein wird. Mit hybrider Kriegführung, Biosicherheit, Drohnen und Cyberwar sind vier neue Themen auf der Agenda. Die Nanotechnologie stellt eine ganz neue Herausforderung dar.“
Wo aber findet man die Rüstungskontroll-, -beschränkungs- und Abrüstungsinitiativen der Bundesrepublik auch nur zu einzelnen dieser Fragen? Es müsste welche geben, denn Rolf Mützenich, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, attestierte dieser Tage im Magazin Internationale Politik und Gesellschaft: „Dass in der Abrüstungspolitik über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte der Stillstand bzw. die Blockade verwaltet wird, liegt jedenfalls nicht an Deutschland. Im Gegenteil: Berlin bemüht sich unermüdlich um Abrüstung und Rüstungskontrolle.“
Mützenich betitelte seinen Beitrag mit der Frage: „Das Ende der Abrüstung?“. Konkret beklagte er unter anderem, dass international immer noch nicht „über den Stopp spaltbaren Materials für Waffenzwecke (Cut-Off Treaty) verhandelt“ werde. Das ist richtig. Insbesondere Pakistan blockiert den Beginn solcher Verhandlungen, weil es von der internationalen Gemeinschaft – zu Recht– nach wie vor als illegale Atommacht behandelt wird, nicht aber Indien. Neu Delhi darf nämlich inzwischen zivile Nukleartechnologie und selbst atomare Brennstäbe ganz offiziell erwerben, weil die sogenannte Nuclear Supplier Group (NSG) auf Betreiben der USA für Indien ihre eigenen Regeln missachtet. Die NSG – gegründet 1974 ausgerechnet in Reaktion auf den ersten indischen Atomtest – ist das aus 46 Staaten bestehende internationale Gremium, das darüber wacht und verhindern soll, dass Staaten, die dem Kernwaffensperrvertrag nicht beigetreten sind, Zugang zu ziviler Nukleartechnologie und Atombrennstoff im Ausland erhalten. Dadurch soll das Nichtweiterverbreitungsregime für Kernwaffen gestärkt werden. Leider trägt die Bundesregierung die Aufweichung der NSG-Bestimmungen durch die USA und weitere NSG-Mitgliedstaaten (so Australien und Kanada) im Hinblick auf Indien mit und hat so praktisch zum Nichtzustandekommen von Cut-Off-Verhandlungen beigetragen. Da kann man nur hoffen, dass wenigstens die deutschen Vertreter in der NSG nicht auch noch von der Abrüstungsabteilung des AA nominiert oder gar gestellt werden.
Zugleich warf Mützenich einen Blick auf die Aussichten der vom 28. April bis 22. Mai 2015 in New York anstehenden Überprüfungskonferenz des Kernwaffensperrvertrages und gab diese Kurzexpertise: „Seit der letzten Überprüfungskonferenz 2010 hat sich der Graben zwischen Kernwaffenstaaten und nuklearen Abrüstungsbefürwortern weiter vertieft. Die Aussichten auf ein gemeinsames Schlussdokument […]sind deshalb schlecht.“ Auch seine folgende Einschätzung dürfte zutreffen: „Ein weiterer Streitpunkt […] wird die geplante Konferenz über eine Massenvernichtungswaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten sein. Diese sollte laut dem Aktionsplan der letzten Überprüfungskonferenz eigentlich spätestens 2012 abgehalten werden. Aber noch immer hat man sich nicht auf eine Tagesordnung und einen Termin geeinigt. Das werden insbesondere die arabischen Staaten in New York kritisieren.“ Und die werden, womit Mützenich seine Leser verschonte, dabei vor allem darauf verweisen, dass der Hauptbremsklotz in dieser Frage der nukleare Paria Israel ist, das jegliche Beteiligung an einer solchen Konferenz strikt ablehnt. Mützenich ging auch nicht so weit, darauf zu verweisen, dass Israel sich in seiner ablehnenden Haltung seitens der Bundesrepublik durchaus bestärkt sehen darf, bestehen doch seine Nuklearstreitkräfte nicht zuletzt aus deutschen U-Booten, die mit geringem technischen Aufwand zu Trägersystemen für atomare Cruise Missiles umrüstbar sind. Das war auch der damaligen Bundesregierung unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder bekannt, die – wie CDU-geführte Vorgänger- und Nachfolgekabinette – solche U-Boot-Lieferungen genehmigte.
„Von Abrüstung […] spricht heute (Hervorhebung – W. S.) niemand mehr“, resümierte Mützenich und schob die Schuld dafür Russland in die Schuhe – wegen der Annexion der Krim und des Krieges in der Ostukraine. Dass beide Vorgänge kein Klima fördern, in dem Abrüstung gedeihen kann, liegt auf der Hand. Von konventioneller Abrüstung in Europa in Gestalt des KSE-Prozesses spricht allerdings praktisch schon seit 1999 niemand mehr. Damals war ein angepasstes Abkommen mit Obergrenzen für Großwaffensysteme (Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie ab 100 Millimeter, Kampfflugzeuge und -hubschrauber) sowie Kontrollregelungen für die Region zwischen Atlantik und Ural vereinbart worden; beteiligt waren 28 europäische Staaten, Russland inklusive, sowie die USA und Kanada. Russland hat den Vertrag ratifiziert, die NATO-Staaten nicht. Auch die Bundesrepublik nicht. Die NATO war damals bereits konventionell deutlich überlegen und die russischen Streitkräfte galten als marode; daher hatte der Westen wohl kein Interesse mehr an dem Abkommen.
Vor diesem Hintergrund wirkt Mützenichs Feststellung, dass Moskau „zum 11. März 2015 […] endgültig seinen Austritt aus der gemeinsamen Beratungsgruppe des KSE-Vertrages verkündet“ habe, wie ein Versuch, auch diesen Schwarzen Peter den Russen ans Revers zu heften. Zielführender, wie es heute so schön heißt, wäre allerdings ein Blick in die von Präsident Wladimir Putin Ende Dezember 2014 in Kraft gesetzte modifizierte russische Militärdoktrin. Dort wird unter den „grundlegenden Aufgaben der Russischen Föderation zur Zügelung und Verhinderung militärischer Konflikte“ unter anderem auf den „Abschluss und die Umsetzung von Übereinkommen auf dem Gebiet der Kontrolle konventioneller Rüstungen sowie die Durchführung von Maßnahmen zur Festigung des gegenseitigen Vertrauens“ verwiesen.
Das AA übrigens hat diesbezüglich schon mal mit der Feststellung reagiert, das man Russland beim Wort nehme. Da müsste sich demnächst also auch auf deutscher Seite etwas bewegen. Doch möglicherweise ist eine Ministervorlage zu dieser Frage bei der neuen Unterabteilung Abrüstung des AA ja längst in Arbeit …