Deutschland und Nahost: Eskalation des Hasses

Von der Eskalation in der Ukraine über den blutigen Konflikt in Palästina bis zu den barbarischen Morden des „Islamischen Staats“ in Syrien und im Irak: Was wir dieser Tage erleben, ist eine Ballung hoch bedrohlicher Ereignisse. Doch während manche Kriege regelrecht achselzuckend, quasi als Naturkatastrophe, abgebucht werden, lösen andere höchste Erregung aus. Grundsätzlich allerdings scheint die Gleichgültigkeit gegenüber Menschenrechtsverletzungen eher zuzunehmen, scheint sich – gewiss nicht zuletzt ob der verheerenden Erfahrungen seit Beginn des letzten Irakkriegs – eine unfruchtbare Resignation breitzumachen.

Während die inzwischen 170 000 Opfer des syrischen Bürgerkrieges nur noch zum allgemeinen Hintergrundrauschen gehören, motiviert jedoch Israels Krieg gegen den Gazastreifen zu Hassgesängen und Übergriffen auf Juden – besonders von Seiten muslimischer Einwanderungsgruppen, unter die sich allerdings auch zahlreiche „Biodeutsche“ mischen.

Gutmeinende Stimmen, wie etwa der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz, verweisen allzu schnell darauf, dass sich die Summe antisemitischer Haltungen in der Tat nicht erhöht habe.[1] Genauso richtig ist aber auch, dass der Krieg in Gaza Hemmschwellen hat sinken lassen, so dass nun aus Haltungen Handlungen geworden sind. Mit verheerendem Ergebnis: Einen Slogan wie „Jude, Jude, feiges Schwein – komm heraus und kämpf‘ allein!“ hätten viele in Deutschland nicht mehr für möglich gehalten, von den diversen direkten Attacken und Übergriffen auf Juden ganz zu schweigen.

Dass sich dieser Hass in Deutschland so brutal öffentlich Bahn bricht, stellt eine neue „Qualität“ des Antisemitismus dar. Offenbar liefert der Gazakrieg jenen, die ohnehin antisemitisch gesonnen sind, einen willkommenen Anlass, ihre antisemitischen Haltungen in Form von Israelfeindschaft offen auszuleben.

Denn so wahr es ist, dass die israelische Unterdrückung der Palästinenser im Westjordanland keineswegs die gesamte Instabilität im Nahen Osten hervorruft, wie von interessierten Gruppen allzu gerne insinuiert wird, so sehr trifft doch auch zu, dass der Staat Israel für die mentale Befindlichkeit westlicher Gesellschaften, zumal Deutschlands und der USA, eine große Rolle spielt.

Krieg ohne Verhältnismäßigkeit

So sehr daher leider, vor dem Hintergrund latent vorhandener, aber auch neuer antisemitischer Stimmungen, der jüngste Hass- und Gewaltausbruch zu erwarten war, so wenig entbindet dieser von der Pflicht, die israelische Kampagne genau zu beurteilen: moralisch, rechtlich, aber vor allem politisch.

Moralisch, mit Blick auf die Würde und Verletzlichkeit eines jeden einzelnen Menschen, ist die israelische Kampagne gegen Gaza mit ihren inzwischen knapp 2000 Toten, darunter vor allem Zivilisten und unzählige Kinder, in keiner Weise zu rechtfertigen.

Rechtlich betrachtet, verschiebt sich allerdings die Perspektive: Da die Welt von Staaten und staatsähnlichen Gebilden sinnvollerweise nach Prinzipien nicht der Moral, sondern des internationalen Rechts geordnet ist (oder zumindest sein sollte), nimmt sich die Beurteilung anders aus. Tatsächlich akzeptiert das Kriegsvölkerrecht sogenannte „Kollateralschäden“. So verbietet Artikel 51 des Genfer Zusatzprotokolls von 1949 Angriffe auf Zivilisten nur dann, wenn sie in keinem „Verhältnis zu einem erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.“

Man sieht sofort, dass die Problematik dieser Rechtsnorm in der geforderten „Verhältnismäßigkeit“ liegt. Während die einen, etwa der türkische Premier Erdogan, von einem israelischem „Völkermord“ an den Palästinensern schwadronieren, sehen Freunde Israels in der Kampagne ein maßvolles, gleichsam minimalinvasives Eingreifen im Dienste des Selbstverteidigungsrechts.

Beidseitige Irrationalität

Doch beide Seiten irren: So ist mit dem den Raketenterror weitestgehend abwehrenden „Iron Dome“ die israelische Lufthoheit nahezu erreicht, weshalb größere „Kollateralschäden“ unter der palästinensischen Zivilbevölkerung nicht zu legitimieren sind.

Schwieriger zu beurteilen ist demgegenüber die Bodenoffensive mit ihrem Ziel, die terroristischen Angriffen dienenden Tunnel zu zerstören. Da sich die Hamas zu deren Sicherung ziviler Einrichtungen und Wohnungen bedient, lässt sich Israels Vorgehen in diesem Fall kriegsvölkerrechtlich vielleicht noch rechtfertigen. Die hohe Zahl palästinensischer Zivilopfer zeigt freilich, dass die vom Völkerrecht geforderte „Verhältnismäßigkeit“ kaum noch gegeben ist.

Wenn jedoch – so Preußens militärischer Meisterdenker Carl von Clausewitz – Krieg stets die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, wird klar, dass dieser Waffengang vor allem politisch zu beurteilen ist. Dann aber zeigt sich, dass der Krieg, den die israelische Armee und die Milizen der Hamas – getrennt operierend, aber vereint schlagend – letztlich gemeinsam gegen die Zivilbevölkerung Gazas führen, nichts anderes ist als der militärische Ausdruck höchst irrationaler Haltungen auf beiden Seiten. Während die antisemitische Hamas noch immer nicht eingesehen hat, dass sie Israel weder durch Selbstmordattentäter noch durch Terror aus der Luft oder dem Boden besiegen kann, versteht die politische Mehrheit jüdischer Israelis noch immer nicht, dass die auch nur geduldete Siedlungspolitik jeden Frieden unmöglich macht. Bei fortgesetzter Siedlungspolitik und Strangulierung Gazas sind bestenfalls Monate oder Jahre des Nicht-Krieges zu erwarten, stets unterbrochen von immer wiederkehrenden, blutigen Waffengängen.

Aber auch das von allen israelischen Regierungen wiederholte Mantra, dass nur direkte Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern zu einer „Zweistaatenlösung“ führen, ist inzwischen widerlegt. Die internationale Politik muss endlich verstehen, dass die politischen Mehrheiten Israels sowie eine entscheidende Minderheit unter den Palästinensern auf absehbare Zeit schlicht nicht in der Lage sein werden, von sich aus Frieden zu schließen. Daher wäre es an der Zeit, dass die weltpolitisch (noch) sich als zuständig begreifenden Mächte – USA, Russland und die EU – Israel und den Palästinensern eine Zweistaatenlösung diktieren. Die politischen Hebel liegen bereit: So müssten die USA nur ihre Kredite und Waffenlieferungen (2013 waren das immerhin 3,1 Mrd. US-Dollar) an die ultrarechte Koalitionsregierung in Jerusalem einfrieren, während andere westliche Staaten ihre Beziehungen zu den Förderern der Hamas, etwa zu Katar einzustellen hätten – und sei es durch eine Absage der Fußballweltmeisterschaft 2022.

Die letzte Chance

Der deutsche Außenminister hat, vorsichtig wie er ist, eine „KSZE“ für den Mittleren Osten vorgeschlagen. Tatsächlich aber kann es nur um einen Diktatfrieden, um ein Friedensdiktat gehen. Einzig ein von außen aufgezwungener Friede kann Araber und Juden entlasten und damit jene Voraussetzungen schaffen, derer sie bedürfen, um sich – angesichts des Unvermeidlichen – auf eine Verständigung einzulassen.

Es ist möglich, dass der durch die Ermordung jüdischer und arabischer Jugendlicher ausgelöste, aber keineswegs verursachte Gazakrieg im Nachhinein jenes Ereignis bedeutet, dessen es bedurfte, um Israelis und Palästinenser zu jenem Frieden zu zwingen, den sie aus eigener Kraft offenbar nicht schließen können. Immerhin zeigt sich derzeit, dass die amerikanische Unterstützung der Regierung Netanjahu zunehmend schwindet. Die massive Kritik an der israelischen Bombardierungspolitik wie auch die zwischenzeitliche Einstellung amerikanischer Flüge nach Israel waren dafür deutliche Zeichen.

Ebenso gut ist aber denkbar, dass sich – bei gescheiterten Friedensbemühungen – dieser Krieg als die letzte vertane Chance erweisen wird, Israels Weg in einen Apartheidstaat aufzuhalten. Leider spricht viel für Letzteres: Ehemalige Chefs des israelischen Geheimdienstes, zuletzt Juval Diskin, haben nachgewiesen, dass eine Rückführung der halben Million jüdischer Siedler in Jerusalem und im Westjordanland schon jetzt kaum noch möglich ist. Damit aber und mit einem auf Dauer unbefriedeten Gaza sind die geografischen Bedingungen für eine „Zweistaatenlösung“ nicht mehr gegeben. Jeder Blick auf eine Karte des Westjordanlandes mit seinen verschiedenen Zonen und Straßen, auf denen nur israelische Autos fahren dürfen, zeigt einen territorialen Flickenteppich, der sich jeder einheitlichen Staatlichkeit entzieht – von den gewalttätigen Übergriffen rechtsradikaler israelischer Siedler auf ihre palästinensischen Nachbarn ganz zu schweigen.

Wird die Besiedlung fortgesetzt, so werden Israel und die von ihm besetzten Gebiete am Ende – so bezeichnete es auch zu Recht der US-amerikanische Außenminister John Kerry – zu einem Apartheidstaat. Bei dem Vergleich mit Südafrika vor 1990 ging es Kerry nicht um Rassismus, sondern um den Hinweis, dass dort eine weiße Minderheit über Jahrzehnte die schwarze Mehrheit von demokratischer Selbstbestimmung ausgeschlossen hat. Im Israel der Grenzen von 1967 leben gegenwärtig etwas mehr als sechs Millionen Juden und etwas weniger als zwei Millionen Araber; im Westjordanland – den östlichen Teil Jerusalems eingerechnet – eine halbe Million Juden und über zwei Millionen Araber. Und bereits heute ist absehbar, dass der Anteil arabischer Bewohner in Israel und dem Westjordanland kontinuierlich steigen wird. Dass dieser Apartheidstaat das genaue Gegenteil dessen wäre, was die frühen Zionisten erträumt haben, ist kaum noch einer Erwähnung wert.

Doch eine Hoffnung bleibt: Krisen bieten, im individuellen wie im politischen Leben, auch Chancen. Es könnte sein, dass der Gazakrieg die vielleicht letzte Gelegenheit für Israel ist, den Zionismus zu retten. Sollte allerdings diese letzte Chance vertan werden, wird das über einhundert Jahre alte zionistische Projekt, dem es stets um mehr als nur einen jüdisch dominierten Staat ging, unwiderruflich scheitern – und zwar unbeschadet der Tatsache, dass der Staat Israel, der die viertstärkste Armee der Welt unterhält, militärisch nicht zu besiegen ist.

Brandmauern einziehen

Der Konflikt in Palästina böte den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats, deren Zusammenwirken sich derzeit auf einem Tiefpunkt befindet, eigentlich die ideale Gelegenheit, wenigstens auf einem Gebiet wieder Einigkeit zu zeigen. Leider demonstrieren der Krieg in der Ukraine und der mörderische Bürgerkrieg in Syrien und im Irak, dass die großen Mächte derzeit offenbar nicht willens sind, gemeinsam zu agieren.

Tatsächlich aber haben gerade die westlichen Staaten auch aus innenpolitischen Gründen ein großes Interesse an einer Deeskalation, wenn sich nämlich hierzulande – wie auch in unserem Nachbarland Frankreich – der Hass gegen Juden immer stärker und gewalttätiger Bahn bricht. Wenn aber schon der Nahe Osten nicht zu befrieden ist, sollte wenigstens der innere Frieden unserer Gesellschaften gesichert werden – durch einen verstärkten interreligiösen Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen sowie durch aufklärende Bildungsarbeit, vor allem in Stadtteilen mit Jugendlichen aus arabisch-islamischen Herkunftsländern. Bei ihnen mag die Frustration über mangelnde Integration in Deutschland eine, aber eben auch nur eine Ursache der Gewalteskalation sein: Da man sich mit seinem prekären Aufenthaltsstatus ja nicht offen gegen das Gastland stellen kann, muss dafür der Nahostkonflikt herhalten.

Allerdings zeigt das Beispiel Frankreichs, dass die Frage der Staatsangehörigkeit offenbar nicht die entscheidende Rolle spielen kann: In Frankreich haben – anders als hierzulande – die Migranten keinen prekären Aufenthaltsstatus. Sie sind Franzosen und protestieren trotzdem – und noch massiver – gegen Israel und gegen „die Juden“. Aber auch sie sind sozial und beruflich nicht gut integriert, genau wie die Migranten bei uns. Wohl auch deshalb wächst in Frankreich der Antisemitismus in noch weit stärkerem Maße als in der Bundesrepublik.

Die Querfront: Eine unheilige Allianz

Hierzulande lässt sich zudem, vielleicht deutlicher noch als in Frankreich, beobachten, dass sich das Freund-Feind-Denken nicht nur in den muslimischen Einwanderergemeinschaften wiederfindet, sondern auch auf alte Ressentiments in der „biodeutschen“ Bevölkerung zurückgreifen kann.

Was sich hier derzeit zusammenfindet, ist eine neue unheilige Allianz – aus linksradikalen Antiimperialisten, durchaus nicht wenigen Anhängern der radikalen Rechten, der NPD, migrantischen Jugendlichen, salafistischen Gruppen und nicht zuletzt einem neuen national-neutralistischen Bündnis. Diese „Querfront“, inspiriert und geleitet von dem ehemals antideutschen Publizisten Jürgen Elsässer, ist Ausdruck der neuen Qualität des Antisemitismus, weshalb man sie in Zukunft stärker wird beobachten müssen. Sie versucht, links und rechts zusammenzuführen, um gegen Israel, die USA und den Westen zu agitieren.

Neben verstärkten Integrationsmaßnahmen wird es daher auch darauf ankommen, antisemitische Straftaten entschieden zu verfolgen. Deshalb war es ein Fehler, dass die Berliner Staatsanwaltschaft die antisemitischen Rufe auf den Demonstrationen nicht als Volksverhetzung, sondern lediglich als Beleidigung eingestuft hat. Denn gerade an diesem Punkt gilt es, ganz entschieden politische Brandmauern einzuziehen. Mehr scheint, so fatalistisch es klingt, derzeit ohnehin kaum möglich zu sein.

 


[1] Wolfgang Benz, Explosion der Judenfeindschaft? Das geht an der Realität vorbei, in: „Der Tagesspiegel“, 27.7.2014; ders. (im Gespräch), Antisemitismus ist keine Lawine, in: „Der Tagesspiegel“, 22.7.2014.

(aus: »Blätter« 9/2014, Seite 5-8)