Zankapfel Ukraine: Europäische versus Eurasische Union

Die Proteste gegen die ukrainische Regierung spitzen sich zu: Am 19. Januar versammelten sich erneut mehr als 100 000 Demonstranten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, um gegen Wiktor Janukowitsch zu protestieren – und gegen dessen Abkehr von einer engeren Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. Dabei kam es erstmals im Laufe der seit Monaten anhaltenden Proteste zu größeren gewaltsamen Zusammenstößen zwischen militanten Demonstranten und den Sicherheitskräften.

Hier zeigte sich: Obwohl die Demonstrierenden darin einig sind, gegen wen sie protestieren, kann von einer gemeinsame Idee für die Zukunft der Ukraine keine Rede sein. Denn neben den beiden liberalen Parteien, der Ukrainischen Demokratischen Allianz für Reformen unter Vitali Klitschko und der Vaterlandspartei der ehemaligen Regierungschefin Julia Timoschenko, beteiligt sich auch die rechtsradikale Swoboda an den Protesten. Deren Anhänger vor allem sind für die jüngsten gewaltsamen Ausschreitungen verantwortlich. Ob diese drei Parteien bis zu den nächsten Wahlen, die voraussichtlich im Jahr 2015 stattfinden werden, tatsächlich eine gemeinsame Strategie für die Ukraine entwickeln können, ist daher mehr als fraglich. Ganz zu schweigen davon, was das für das Land bedeuten würde.

Völlige Einigkeit schien dagegen am Jahresende 2013 in Moskau zu herrschen – beim Treffen zwischen Janukowitsch und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, die sich gegenseitig in bester Laune zuzwinkerten. Offenbar haben die beiden etwas vereinbart, was außerhalb der üblichen Spielregeln heutiger Politik liegt – jedenfalls außerhalb dessen, was von den Vertretern und Vertreterinnen der westlichen Wertegemeinschaft für möglich gehalten wurde: Mit einem Handschlag wurde die Ukraine aus der Schuldenfalle befreit, in die sie nach der Eigenständigkeit 1991 geraten war. Russland bot 15 Mrd. US-Dollar, angeblich ohne Bedingung, eine Reduzierung der Gaspreise um ein Drittel, Glättung der ins Stocken geratenen Handelsbeziehungen zwischen Russland und der Ukraine, Erörterungen von besseren Eingliederungsbedingungen für in Russland lebende Gastarbeiter und noch ein paar Zugaben am Rande. Kurzum: Russland bot ein Hilfspaket, das die gegenwärtig wichtigsten ukrainischen Probleme zu lösen imstande ist.

Dagegen waren die Modernisierungsperspektiven, welche die Europäische Union der Ukraine in Aussicht stellte, wenn diese die Reformbedingungen des Assoziierungsabkommens erfüllte, eher eine Belastung als eine Stütze – trotz der 650 Mio. Euro Soforthilfe. Denn hinzu kämen die absehbaren Folgen einer EU-Assoziierung, in deren Zuge der Ukraine, wie zuvor anderen Randzonen der EU, die Reduzierung auf einen offenen Absatzmarkt für EU-Güter und die Verwandlung in ein Billiglohnland der EU droht.

Das ukrainische Dilemma

Natürlich kann auch die russische Hilfsaktion die Probleme des Landes auf Dauer nicht lösen. Und selbstverständlich erfolgte auch sie nicht ohne Gegenleistung, im Gegenteil: Es existieren klare Bedingungen zwischen Russland und der Ukraine, ob sie denn explizit benannt werden oder nicht. So ließ Putin keinen Zweifel daran, dass die Vergabe des Kredites den Kriterien der internationalen Finanzgepflogenheiten entspricht: Die Zahlungen müssten mit Zinsen bedient und daher gegebenenfalls wieder mit neuen Krediten finanziert werden.

Und auch wenn Präsident Putin versichert, von einem Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Zollunion sei in Moskau nicht die Rede gewesen, so ist doch klar, dass mit dem aktuellen Hilfspaket das eigentliche Dilemma des Landes nicht gelöst ist: Die Ukraine bleibt zwischen Europäischer und Eurasischer Union gefangen. Darüber hinaus, und das überschattet alles andere, sind Europäische und Eurasische Union inzwischen in ein Stadium ihrer Entwicklung geraten, das die Frage nach einem prinzipiellen Wechsel des Politikstils zwingend auf die Tagesordnung setzt – wenn denn die Geschichte sich nicht wiederholen soll, sprich: die Ukraine nicht erneut zur Kolonie oder zum Aufmarschgebiet konkurrierender imperialer Mächte werden soll.

Schauen wir nur zurück auf das Jahr 2008: Bis dahin war die Auflösung der Systemkonkurrenz nach 1989/90 über mehrere Stufen scheinbar unaufhaltsam in die Nato- und EU-Ost-Erweiterung übergegangen, begleitet von der Entwicklung der sogenannten Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP). Deren Nachbarschaftsverständnis erstreckte sich über sämtliche Nachfolgestaaten der Sowjetunion, ausgehend von Weißrussland über die Ukraine, den Kaukasus bis nach Kasachstan. Proteste Russlands dagegen blieben erfolglos, unter anderem der denkwürdige Auftritt Wladimir Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, bei dem er den Hegemonialanspruch der USA als „einziger Weltmacht“ in Frage stellte und für eine multipolare Weltordnung eintrat. Der russische Präsident fand jedoch keine Zustimmung, sondern wurde vielmehr als Störenfried stigmatisiert.

Katerstimmung in der EU

Erst der Einmarsch Russlands in Georgien 2008 setzte der weiteren Einkreisung des Landes ein unmissverständliches „Njet“ entgegen. Daraus folgte eine Wende in den Beziehungen zwischen Russland und den atlantischen Verbündeten: EU und Nato stoppten die offene Erweiterungspolitik, die ENP wurde in eine „Neue Ostpolitik“ überführt und die USA zogen sich aus ihrem europäischen Engagement zurück, um sich stärker auf Asien zu konzentrieren. Als „östliche Partnerschaft“ verfolgt die „Neue Ostpolitik“ seitdem nicht mehr den Beitritt, sondern die „Anbindung“ der „unmittelbaren Nachbarn“ durch langfristige Einbeziehung in eine von der EU ausgehende Freihandelszone, um „die politische Assoziierung und die wirtschaftliche Integration“ mit diesen Staaten voranzubringen.

Als „unmittelbare Nachbarn“ werden dabei aber nach wie vor nicht nur Weißrussland, Moldau und die Ukraine, sondern auch Georgien, Aserbaidschan und Armenien verstanden. Nach dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur EU, hieß es zu Begründung, seien auch diese Länder über das Schwarze Meer als engere Nachbarn anzusehen.

Seit dem EU-Gipfel im Mai 2009 laufen die sogenannten Assoziierungsverhandlungen mit den genannten Staaten. Der Abschluss eines Vertrages mit der Ukraine auf dem 3. Gipfel der „Östlichen Partnerschaft“ in Vilnius Ende 2013 war als Krönung dieser Politik gedacht, nachdem mit Georgien bereits zuvor eine Einigung erzielt worden war. Mit dem Vertrag sollte die weichenstellende Entscheidung der Ukraine in Richtung Westen besiegelt und damit auch die zögernden Regierungen von Armenien, Aserbaidschan, Moldawien und Weißrussland mitgezogen werden. Mit dem Rückzug der Ukraine aus der geplanten Unterzeichnung des Vertrages sind diese Pläne erst einmal gebremst. In der EU herrscht Verwirrung und Katerstimmung; ihre Ostpolitik muss nun neu ausgerichtet werden.

Putins »eurasischer Integrationsknoten«

Ergebnis des georgischen Krieges war aber auch die Besinnung Russlands auf seine historische Rolle als „eurasischer Integrationsknoten“. Diese Orientierung hatte Putin bereits bei seinem Amtsantritt 2000 als Russlands notwendige Perspektive vorgegeben. Anders als gemeinhin berichtet, war es jedoch nicht Putin, der neun Jahre später die „Eurasische Union“ als Erster ausrief, sondern der kasachische Präsident Nasarbajew. Putin griff dessen Initiative allerdings auf. Seinen Vorstellungen zufolge soll die Eurasische Union dem Modell der Europäischen Union folgen, aber deren Fehler vermeiden. Eine Wirtschaftsunion zwischen Kasachstan, Russland und Weißrussland bildete die Ausgangsbasis. Für 2015 ist die Gründung der politischen Union geplant. Tadschikistan ist bereits zum Beitritt bereit; Kirgisien könnte folgen. Die übrigen zentralasiatischen Staaten stehen ebenso im Fokus wie die Ukraine und die kaukasischen Staaten. Schnelle Erweiterungen, wie sie die EU in die Krise getrieben haben, sollen jedoch vermieden werden.

In Brüssel wird die Eurasische Union bisher unterschiedlich bewertet. Einerseits wird sie als möglicher Garant der Stabilität begrüßt, zudem auch als mögliches Bollwerk gegen China sowie gegen den wachsenden Einfluss der „Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ). Andererseits wird sie aber auch als Produkt Putinscher Großmannssucht kritisiert und durch vermehrte Einflussnahme auf die Staaten der eurasischen Integrationszonen zu hintertreiben versucht. Das gilt insbesondere für die EU-Politik gegenüber der Ukraine, dem nachgeordnet auch für Weißrussland sowie für die kaukasischen und zentralasiatischen Staaten.

Letztlich sind EU und USA – ungeachtet ihrer seit 2008 geänderten Arbeitsteilung – nach wie vor bestrebt, den russischen Einfluss einzudämmen. Anders als während der Phase der Nato- und EU-Erweiterungen zielt ihre jüngere Kaukasus- und Zentralasienpolitik jedoch nicht mehr auf offene Konfrontation – wenn man von der Raketenstationierung vor den Grenzen Russlands einmal absieht. Diese Politik konterkariert die vordergründige Zurückhaltung. Offensichtlich wurde im atlantischen Bündnis in den Jahren nach 2008 noch keine Einigkeit erzielt, wie mit dem Aufkommen der Eurasischen Union strategisch umzugehen ist. Angesichts der Verschiebung des globalen Machtzentrums von Westen nach Osten Richtung China schlägt der Altstratege Zbigniew Brzezinski vor, Russland nicht länger aus dem atlantischen Lager auszugrenzen, sondern einzubeziehen.

Die Eurasische Union auf der Zielgeraden

Ungeachtet dieser Widersprüche im atlantischen Lager nimmt die Idee der Eurasischen Union immer deutlichere Formen an: Bereits 2011 ist es zu einer Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland gekommen. Mittlerweile gibt es eine gemeinsame Wirtschaftskommission mit Sitz in Moskau, für die mehr als 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig sind. In Russland werden bereits Stimmen laut, die nicht nur Tadschikistan und andere zentralasiatische Länder, sondern auch die kaukasischen Staaten in die Union einbeziehen möchten. Sogar Indien und die Türkei zeigen sich interessiert an einer Kooperation. Kurzum: Die Eurasische Union ist dabei, zu einem neuen Faktor der internationalen Politik zu werden. Darüber sollten auch die internen Streitigkeiten beispielsweise um Abstimmungsverfahren nicht hinwegtäuschen. Dabei handelt es sich, wie aus der Geschichte der EU hinreichend bekannt, lediglich um Wachstumskrankheiten.

Inzwischen unterzeichneten nicht nur Russland, Kasachstan und Weißrussland, sondern auch Tadschikistan, Armenien, Moldawien und die Ukraine ein Abkommen für die Bildung einer eurasischen Freihandelszone. Gewiss, im Falle der zuletzt Genannten sind dies noch keine Verträge, sondern bloß Absichtserklärungen. Dennoch treten dabei deutlich genug die kritischen Überschneidungen zwischen den Einflusszonen der West- und der Ost-Union zu Tage.[1]

Hier zeigt sich, dass Putins „Geschenk“ an die Ukraine zwar kurzfristig deren finanzielles Problem beseitigt; grundsätzlich und langfristig können finanzielle Transaktionen die Lage der Ukraine als geschichtlich stets umstrittenes Grenzland jedoch nicht lösen. „Ukraine“ der Name ist beredt: Er bedeutet wörtlich „an der Grenze“. Tatsächlich ist die Ukraine nach wie vor ein Puffer, ein Raum, der von beiden Seiten als potentielles Einflussgebiet verstanden wird. Und solange sich die westliche und die östliche Freihandelszone weiterhin als Konkurrenten begegnen, die sich gegenseitig mit den besseren Kapitalisierungsstrategien ausstechen wollen, wird es auch dabei bleiben. Letztlich sind die aktuellen Vorgänge in der Ukraine somit nur der schärfste Ausdruck der Probleme im umstrittenen Integrationsraum zwischen Europäischer und Eurasischer Union. Eine fortgesetzte Lagerbildung kann diese Schwierigkeiten nur verschärfen. Aus diesem Grund muss die Ukraine selbst über ihre Zukunft entscheiden können.

Mit der Forderung nach einer selbstbestimmten Politik, so viel ist klar, betreten wir den Raum einer anderen als einer bloß taktischen oder nur verbalen Wende. Es ist der Raum, in dem kooperative Solidarität statt imperiale Blockbildung als Grundkonsens persönlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens gilt. Doch von einer solchen Perspektive ist die heutige EU-Politik ebenso weit entfernt wie die Moskauer Vertragspartner Putin und Janukowitsch.

 


[1] Über die Folgen der nachsowjetischen Wandlungen vgl. auch www.kai-ehlers.de.

(aus: »Blätter« 2/2014, Seite 25-28)