Schreiben, um zu verstehen

Die Herausgeber der Zeitschrift Das Argument haben mich eingeladen, einen Beitrag über ästhetische Praxis zu verfassen. Da ich keinerlei philosophische Ausbildung habe, nicht mal eine literarische im engeren Sinn, ziehe ich mich aus der Affäre, indem ich auf meine Kompetenz als Historikerin setze: Ich versuche zu analysieren, welche Ereignisse, Begegnungen, Kämpfe und Niederlagen schließlich dazu geführt haben, dass ich Schriftstellerin wurde, was auch eine Art Antwort auf die Frage darstellen kann.

Als Kind und Jugendliche badete ich in »klassischer« Kultur, verinnerlichte griechische, lateinische und französische Sprache und Literatur, doch nie, zu keinem Zeitpunkt, träumte ich davon, Schriftstellerin zu werden. Es waren die ersten Jahre von de Gaulles Präsidentschaft und die letzten Jahre des Algerienkrieges. Ich las viele Romane. Aber ich vertraute mehr auf die Geschichtswissenschaft, wenn es darum ging zu verstehen, wie wir so weit gekommen waren: koloniale Unterdrückung, Massaker, Folter, Staatsstreich. Und ich ahnte bereits, dass es auf diese Fragen keine einfachen Antworten gab.

Am Tag meiner Einschreibung an der Universität wurde ich Mitglied der Unef, der damaligen Studentengewerkschaft, die öffentlich für die Unabhängigkeit Algeriens eintrat – was nicht eine der französischen Parteien tat – und unter dieser Parole einen Massenkampf führte. Ein Jahr später schloss ich mich dann der Gewerkschaft Union des Étudiants Communistes an, die gleichzeitig marxistisch war und im offenen Widerstand gegen die PCF und die sowjetische Orthodoxie antrat. Ich erlebte fünf außergewöhnliche Jahre, fünf Jahre des Kampfes gegen den Krieg, gegen Französisch-Algerien und die OAS1, gegen eine verknöcherte kommunistische Partei, für die Demokratisierung der Universitäten. Ich setzte kaum einen Fuß in die Hörsäle der Sorbonne, aber wir lasen fieberhaft alle wichtigen Texte des Marxismus, von Marx über Gramsci bis Rosa Luxemburg. Diese Texte waren für uns nicht abstrakt, wir suchten darin begierig nach Mitteln, um unsere Welt und unsere Gegner besser zu verstehen und dadurch wirkungsvoller handeln zu können. Es gab endlose leidenschaftliche Debatten, und wir steckten unser ganzes Leben hinein. Jedes gesprochene und geschriebene Wort hatte einen Sinn, es war dazu bestimmt, Tat zu werden. Gleichzeitig hatten wir das erhebende Gefühl, mitten in der Geschichte zu stehen, während sie gemacht wurde. Die großen bewaffneten nationalen Befreiungskämpfe, die Aktivisten und Theoretiker, die sie hervorbrachten und denen wir mit Respekt begegneten, schienen uns die Tür zu einer neuen Welt zu öffnen. Wir glaubten an die Macht der Analyse, der Vernunft, und wir arbeiteten unermüdlich an der Abstimmung unserer Argumente und unserer Handlungsmöglichkeiten.

Mir ist sehr bewusst, wie viel meiner schriftstellerischen Arbeit sich diesen Lehrjahren verdankt. Mein Verhältnis zu Worten, zur gesprochenen und geschriebenen Sprache, ist bis heute unverändert. Ich will, dass sie Werkzeuge der Kommunikation sind, klar und schlagkräftig. Und auch wenn ich auf politische Aktion keine Hoffnung mehr setze, so schreibe ich immer noch, um zu verstehen. Ein Ereignis verstehen oder eine Folge von Ereignissen: Wie ist die französische Linke zum Kult des Geldes konvertiert? Oder was ist in jener lothringischen Fabrik passiert, die in Flammen stand? Personen verstehen: Was ist ein Machtmensch? Wie reagiert er? Wo und wie erwirbt er das Gefühl, jederzeit straffrei auszugehen? Warum hat er ein solches Verlangen nach Sex? Ich konstruiere also Romangeschichten als kohärente, verzahnte Räderwerke wie früher als Aktivistin meine Argumentationen. Nach einem akribischen und systematischen Plan. Ich erinnere mich an meine Verwunderung, als eine befreundete Autorin mir erzählte, sie beginne mit dem Schreiben eines Romans, wenn eines Tages in ihrem Geist ein fertiger Satz aufblitze, der in ihren Ohren gut klinge, und schreite dann durch Ideen- und Klangassoziation voran in Richtung einer Auflösung, die sie stets überrasche. Diese Vorgehensweise entzieht sich meinem Verständnis.

Dann kam der Mai ’68, und es war, als wären die Aussichten auf gesellschaftliche Veränderung plötzlich nicht mehr auf die Dritte Welt beschränkt, sondern eröffneten sich auch für uns. Ich nahm unsere Bekenntnisse dieses Jahrzehnts sehr ernst: Ablehnung jeglicher Avantgarde, gesellschaftliche Massenbewegung, Stellenwert der Arbeiterkämpfe. Mehrere Jahre war ich bei einer Zeitschrift aktiv, die in ihrem Ansatz ziemlich einzigartig war: Les Cahiers du Mai. Wir wollten von den gesellschaftlichen Kämpfen berichten, während sie sich ereigneten, so dicht wie möglich an den Akteuren selbst, wollten den Informations- und Erfahrungsaustausch unter den Arbeitergruppen anregen, horizontal, nicht durch den Filter der Gewerkschaftsführungen, um die Diskussion und Reflexion an der Basis anzufachen. Wir haben schrittweise unsere Arbeits- und Interventionsmethoden entwickelt, indem wir uns unter anderem auf die theoretischen Texte der Italiener zur Arbeiterumfrage stützten. In der Hitze des Gefechts gingen wir in die Fabriken, während der Auseinandersetzungen, Momente, wo sich die Zungen leichter lösen, wir versammelten Arbeiter aus unterschiedlichsten Lagern und ließen sie von ihren laufenden Kämpfen berichten, indem wir sie mit unseren Fragen so weit wie möglich trieben. Die ersten Sätze, die die Arbeiter äußerten, waren oft wie abgesprochen, sie drückten eine Art Durchschnittskonsens aus, es waren »Kampf-Phrasen«. Man musste diesen Panzer aufbrechen, die Frustrationen, tiefen Sehnsüchte, anklingenden Träume herauskitzeln. Im Anschluss erstellten wir ein Protokoll der kollektiven Diskussion und gingen damit zurück, um es von der Gruppe unserer Gesprächspartner prüfen und absegnen zu lassen. Diese Überprüfung war ein faszinierender Schritt im Prozess. Weil sie sich mit freudiger Erregung in dem Text wiedererkannten und oft mit einem halben Lächeln sagten, sie fänden sich »intelligenter, als sie dachten«. Die Cahiers du Mai waren fünf Jahre lang stark verbreitet, und ich denke, sie waren eine ganze Weile sehr nützlich, in der Zeit der intensiven gesellschaftlichen Kämpfe der 60er und 70er Jahre.

Diese Erfahrung hat mich das Schreiben gelehrt. Zuallererst hat sie mir beigebracht, zuzuhören. Was gar nicht so einfach ist. Es setzt großen Respekt voraus und die Überzeugung, dass jeder etwas zu sagen, jeder eine Geschichte hat. Außerdem erhöhte Achtsamkeit – gegenüber Veränderungen in der Stimme, gegenüber Blicken, Mimik, Gestik – auch Körper sprechen. Und dann bedeutet Zuhörenkönnen auch, sich nicht täuschen zu lassen. Nicht jedes Wort für bare Münze zu nehmen. Man muss wissen, wie man jemanden knackt, eine lebendige Stimme zum Sprechen bringt. Wenn man das Zuhören beherrscht, beherrscht man auch das Schreiben. Ich jedenfalls glaube das. Diese Achtsamkeit gegenüber dem anderen, scheint mir, macht einen Großteil der schriftstellerischen Arbeit aus. Und heute schöpfe ich aus meinen Erfahrungen dieser Zeit. Ich behandle meine Figuren, wie ich in den 70er Jahren meine Gesprächspartner behandelt habe. Respektvoll, aber unnachgiebig. Alles menschliche Wesen, meine Brüder. Aber sie sollen nicht auf halbem Wege stehen bleiben, sollen ausspucken, was in ihrem Bauch rumort. Einfühlsam, doch niemals mitleidig.

Beim Schreiben dieser Zeilen fiel mir plötzlich ein, dass der Gründer der Cahiers du Mai, Daniel Anselme, Romanautor war. Diese Tatsache hatte ich ausgeblendet. Und schließlich bin ich auch Historikerin geworden – die Bildung, die ich durch die Lektüre von Marx und seinen Genossen erworben hatte, reichte locker, um Prüfungen und Hochschulexamen zu bestehen –, und ich liebe diesen Beruf. Ich war Teil der Historikergruppe, die sich in das Abenteuer des nach ’68 gegründeten Centre expérimental de Vincennes stürzte. Wir hatten Großes vor. Wir wollten das Fach revolutionieren. Die Brücken zwischen Literatur, Soziologie, Ökonomie und Geschichtswissenschaft ausbauen, eine »Geschichte der zeitgenössischen Welt« betreiben. Wir sind gescheitert. Es ist genauso schwierig, die Führungskräfte an den Hochschulen in Bewegung zu versetzen, wie die Rentenprivilegien für Staatsbedienstete abzuschaffen.

Von den Historikern habe ich gelernt, wie man dokumentiert. Vor allem habe ich mir die Fachtugenden Distanz und Hierarchisierung angeeignet, um nicht unterzugehen, wenn ich frohlockend in einen Wust von Dokumenten eintauche, ohne zu wissen, was ich finden werde, mich von Begegnungen und Entdeckungen überraschen lasse. Wenn ich einen neuen Roman angehe – bevor ich eine einzige Zeile schreibe –, beginne ich immer mit dem Anlegen einer Dokumentation, mit den gleichen Methoden wie die Historiker, aber nicht mit demselben Ziel. Mir geht es darum, ein paar erwiesene, gut belegte Tatsachen auszuwählen, die ich als signifikant erachte für die Epoche und das Milieu, von denen ich erzählen will. Sie sind die Garanten für die Wahrhaftigkeit meines Romans. Diese Auswahl unterliegt nicht der Methode des Historikers, sondern der des Schriftstellers. Hierbei verlasse ich mich ausschließlich auf meine Intuition und meine Lust. War meine anfängliche Wahl stichhaltig, kann ich meiner Phantasie anschließend freien Lauf lassen, ohne jeden Zwang. Und allmählich sehe ich, wie sich Silhouetten abzeichnen, höre, wie Dialogfetzen ausgetauscht werden. In diesem Moment weiß ich, dass mein Sujet mich tief genug durchdrungen hat, um mit dem Schreiben anfangen zu können.

Bleibt noch das Wesentliche der Ausgangsfrage: die ästhetische Praxis. Die oben beschriebenen Aktivitäten haben mich geradezu naturgemäß zum behavioristischen Stil2 geführt: Ich interessiere mich für Wesen aus Fleisch und Blut, die in Gesellschaft leben und handeln, und just in diesem Gewirr sozialer Beziehungen versuche ich sie zu packen. Ich schätze, diese Grundsatzentscheidung ist ebenso sehr eine Weltanschauung wie eine literarische Vorliebe. Mit Leidenschaft habe ich Dos Passos gelesen, der mich stark beeinflusst hat. Ich habe viele amerikanische Filme der »Schwarzen Serie« der 40er bis 60er Jahre gesehen. Der gewaltige Einfluss des Kinos auf meine Generation steht für mich außer Frage. Es war eine radikale Wende. Wir können eine Geschichte nicht mehr so erzählen wie die Autoren des 19. Jahrhunderts. Wenn in meinem Umfeld von den »Genre-Regeln des noir« die Rede ist, weiß ich nicht, was das sein soll. Die einzigen Regeln, auf die ich mich bisweilen augenzwinkernd berufe, sind die, die Cecil B. DeMille aufgestellt hat (mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern), oder Billy Wilder (wenn eine Erzählung zu Ende ist, ist sie zu Ende – keine Gefangenen). Über den Film noir habe ich den amerikanischen Roman noir entdeckt, und hier an erster Stelle Hammett, dessen Lebensregel (Never explain, never complain) mir auch einen Schreibstil zu erzwingen scheint. Vom Kino her kommt mein Unvermögen, eine Szene zu schreiben, ehe ich sie nicht vor mir sehe (manchmal in Schwarzweiß …). Ebenfalls vom Kino her kommt meine Lust, in Dialogpassagen Betrachtungen, Gesten einzuflechten, die Trennung aufzuheben, die die Typographie zwischen Dialog und Erzählung schafft. Das Filmbild macht diese bedeutsame Einheit sichtbar. Vielleicht auch die Verwendung des Präsens: die Handlung wiedergeben, während sie sich ereignet, in ihrer Unabgeschlossenheit, vor den Augen des Leser-Zuschauers. Schließlich der Versuch zu zeigen, auf welche Weise sich die Entscheidung vollzieht, aufgrund derer gehandelt wird. Selten am Ende eines ruhigen, wohlgeordneten Gedankengangs. Eher in aller Eile, anhand einiger Satzfetzen, Empfindungen, Impulse – diese Dichte gelebten Lebens.

Und dann kam Ellroy. Ohne das Erbe von Hammett im Geringsten zu leugnen, läutet er das Ende des lonesome detective (Nachfahre des lonesome cowboy) ein, das Ende von Gut und Böse, die Ordnung fortan das Produkt von Gewalt, Verbrechen und Korruption. Und er erzählt das in einem Stil, so rasant und schroff wie bei Hammett, aber er versteht es – und das ist bewundernswert –, seine Sätze mit Gefühlen aufzuladen, den Leser in direkten Kontakt zu bringen mit prallen Figuren aus Fleisch und Blut. Eine Alchimie, deren Gelingen ein äußerst komplexer Vorgang ist. Wie seinerzeit Hammett hat Ellroy die Art, wie Romans noirs geschrieben werden, revolutioniert. Seine Sätze folgen dem Rhythmus seiner Figuren. Sie sind aus gewichtigen Wörtern gebaut (»mots matière«, würde Simenon sagen3), die aus sich heraus Bestand haben, ohne auf Krücken wie Adjektivreihen oder Vergleiche angewiesen zu sein.

Nach der Lektüre des L.A.-Quartetts war ich so aufgewühlt, dass ich beschloss, mich auf das Abenteuer des Schreibens einzulassen.

 

Aus dem Französischen von Iris Konopik

 

Fußnoten

1 Organisation de l’armée secrète

2 »Behavioristisch«, hier nicht als wissenschaftstheoretisches Konzept gemeint, bezeichnet in Amerika und Frankreich auch einen literarischen Stil (z.B. Hammett, Hemingway): keine Psychologisierung, keine inneren Monologe, die Figuren charakterisieren sich über ihr Handeln.

3 Wörter, »die das Gewicht der Materie haben, Wörter mit drei Dimensionen wie ein Tisch, ein Haus, ein Glas Wasser«, zit. n. Hanjo Kesting, Simenon, Laatzen 2003, 36.

 

© DAS ARGUMENT 309/2014, S. 475-478