Der Westen & Russland – zum Diskurs*

 

„Fast 24 Jahre lang basierte die Sicherheitsordnung in Europa auf den Prinzipien der Unverletzbarkeit der Grenzen, des Gewaltverzichts, der friedlichen Beilegung von Konflikten und des Respekts der Souveränität der europäischen Staaten. Diesem regelbasierten Ordnungssystem […] hat Wladimir Putin seit März 2014 eine krachende Absage erteilt.“
Mit diesen Sätzen beginnt der „Eine neue Ordnung“ betitelte Beitrag von Claudia Major (Stiftung Wissenschaft und Politik/SWP) und Jana Puglierin (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik/DGAP) in der aktuellen Ausgabe der DGAP-Zeitschrift Internationale Politik.
Einen Aufsatz, der mit einer solchen Passage beginnt, kann man an sich getrost, ohne noch weiter zu lesen, wieder beiseitelegen. Denn was kann von Autorinnen schon Substanzielles erwartet werden, die bereits in ihren ersten Sätzen historische Ignoranz, (ideologisch bedingte?) antirussische Sichtverkürzung oder wahlweise auch ein Setzen auf die Vergesslichkeit ihres Publikums und insgesamt den Versuch erkennen lassen, an der Koloratur des Feindbildes Putin/Russland mitzuwirken?
Hätte Moskau in vergleichbarer Weise wie heute der Westen im derzeitigen Ukraine-Konflikt reagiert, als NATO-Staaten 1999 unter Führung der USA die eingangs zitierten Prinzipien der Sicherheitsordnung in Europa mit Füßen traten, indem sie knapp drei Monate lang die damalige Bundesrepublik Jugoslawien bombardierten und anschließend die Separation des Kosovo durchsetzten, man hätte wohl schon seinerzeit „das Ende einer halbwegs kooperativen Sicherheitsordnung und den Beginn einer konfrontativen und instabilen Ära“, beklagen müssen, wie die beiden Autorinnen es jetzt mit ausschließlichem Verweis auf Russland tun.
Da die SWP jedoch, folgt man ihrer Satzung, dem Zweck dient, „im Benehmen mit dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung wissenschaftliche Untersuchungen auf den Gebieten der internationalen Politik sowie der Außen- und Sicherheitspolitik mit dem Ziel der Politikberatung auf der Grundlage unabhängiger wissenschaftlicher Forschung durchzuführen und in geeigneten Fällen zu veröffentlichen“ und auch die DGAP als namhafte politologische Adresse gilt, soll der Blick wenigstens noch auf zwei weitere Passagen des Aufsatzes gerichtet werden.
So meinen die Autorinnen, der Fall Ukraine zeige, „dass Putin die territoriale Integrität seiner Nachbarn im postsowjetischen Raum und die Unverletzbarkeit ihrer Grenzen nur so lange respektiert, wie diese nicht auf die Idee kommen, sich von russischem Einfluss lösen zu wollen“. Diese Interpretation verstellt den Blick auf den Kern des Problems mehr als es diesen erhellt: Russland unter Putin will nicht akzeptieren, dass ihm die NATO durch Integration weiterer Staaten noch unmittelbarer auf die Pelle rückt, als dies bereits geschehen ist und von Russland in seinen schwachen, chaotischen 1990er Jahren zähneknirschend akzeptiert worden war. Um in dieser Hinsicht Pflöcke einzuschlagen, hat Moskau die Krise in der Ukraine genutzt und die Krim annektiert. Russland ein Angebot zu machen, das den Verzicht auf jede weitere Ost-Ausdehnung der NATO einschließt, wäre meines Erachtens der richtige Hebel zur Lösung des Ukraine-Konflikts. Man kann sich natürlich mit dem „Recht auf freie Bündniswahl“, auf das die Autorinnen verweisen, selbst blockieren. Man kann es aber auch mit Henry Kissinger halten: „[…] es gibt kein Recht auf Mitgliedschaft in der NATO.“
„Auf militärischer Ebene“, so schlussfolgern die Autorinnen desweiteren, „bedeutet die Ukraine-Krise, dass Streitkräfte und militärische Mittel wieder an Bedeutung gewinnen.“ Die Krise zwinge „auch die Europäer dazu, wieder intensiver über Militär und den Einsatz von Streitkräften (Hervorhebung – W.S.) nachzudenken“. Das ist sehr konservativ gedacht und führt direkt in die Sackgasse, wenn dem nicht die Prämisse vorangestellt wird, dass Atommächte nicht gegeneinander Krieg führen können, ohne das Risiko einer thermonuklearen Eskalation einzugehen. Weniger konservativ gedacht, könnte man auch zu der Erkenntnis gelangen, dass der faktische Abbruch des Verhandlungs- und Vertragsprozesses über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) durch den Westen nach 1999 ein strategischer Fehler war, um dessen Korrektur man sich intensiv bemühen müsste. Zumal dies, da sind sich Experten einig, auch der einzige Weg wäre, das immense russische Arsenal an taktischen Kernwaffen – amerikanische Quellen gehen von bis zu 4.000 aus, davon etwa 2.000 unmittelbar einsatzfähig – irgendwann zum Gegenstand von Verhandlungen und Vereinbarungen zu machen.
Demgegenüber fabulieren die Autorinnen mit Blick auf die NATO-Ostgrenze davon, „eine umfassende konventionelle Verteidigung zu garantieren“. Dazu ausführlicher im nächsten Abschnitt.

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Der deutsche NATO-General Hans-Lothar Domröse ist derzeit unter anderem zuständig für den auf dem jüngsten NATO-Gipfel in Newport/Wales beschlossenen Aufbau einer Schnellen Eingreiftruppe von bis zu 7.000 Mann für militärische Auseinandersetzungen mit Russland im Baltikum, in Polen und wo auch immer sonst noch. Domröse kann sich vorstellen, so berichtete die Süddeutsche Zeitung, „dass die Allianz künftig Übungen mit bis zu 40.000 Soldaten in Osteuropa und im Baltikum veranstaltet“. Damit dürfte er in Warschau, Estland, Lettland und Litauen offene Türen einrennen, denn dortige politische und militärische Verantwortungsträger fordern seit Monaten mehr NATO-Präsenz in der Nähe zu Russland.
Vielleicht sollte General Domröse als auch militärhistorisch gebildeter Offizier – es soll hier einfach einmal angenommen werden, er sei ein solcher – die betreffenden Kreise komplementär zu seinen Manövervisionen auch einen kurzen Blick zurück in den Kalten Krieg werfen lassen, der zugleich einer in deren mögliche Zukunft wäre?
Bis zum Ende des Kalten Krieges wähnte die NATO die konventionellen Streitkräfte des Warschauer Vertrages, speziell auf dem potenziellen zentraleuropäischen Kriegsschauplatz, so hochgradig überlegen, dass sie davon ausging und ihre Einsatzplanungen darauf fokussierte, einen östlichen Vormarsch nur durch den Ersteinsatz taktischer Kernwaffen auf dem Schlachtfeld sowie durch nukleare Schläge gegen militärische Schlüsseleinrichtungen, wie etwa Flugplätze, und gegen neuralgische Punkte in der Nachschubinfrastruktur, zum Beispiel Brücken, stoppen zu können. So veranschlagten die Planer 25 nukleare 10-Kilotonnen-Ladungen – zum Vergleich: die Hiroshima-Bombe brachte es auf 13 Kilotonnen – um eine Panzerdivision durch Zerstörung von 60 Prozent ihres Bestandes auszuschalten. Allein auf dem Territorium der DDR rechneten sie dabei mit zehn sowjetischen und zwei Panzerdivisionen der NVA.
Es ist unschwer vorstellbar, wie das Gebiet der DDR nach einem entsprechender Waffeneinsatz ausgesehen hätte. Und das der BRD dito, denn natürlich wussten die NATO-Experten auch, dass die Sowjetunion nuklear kontern würde. Im Übrigen wurde die Frage, ob beziehungsweise wie in einem solchen Fall ein nukleares Aufschaukeln bis zum allgemeinen globalen Schlagabtausch hätte verhindert werden können, bis zum Ende des Kalten Krieges nie schlüssig beantwortet.
Inzwischen hat sich das Blatt quasi umgekehrt: In einem militärischen Konflikt mit der NATO im Baltikum oder anderswo in Osteuropa sähen sich die russischen konventionellen Streitkräfte in der Lage des gegenüber dem Nordatlantikpakt quantitativ und qualitativ stark Unterlegenen, worauf bereits in einem früheren Beitrag dieser Reihe im Detail eingegangen worden ist. Bange muss Russland deswegen jedoch nicht sein, denn den Spieß des Kalten Krieges einfach umdrehen, das könnte Moskau allemal – unter Rückgriff auf sein Arsenal an taktischen Kernwaffen. Nur dass der Einsatz künftig nicht mehr vorrangig in Zentraleuropa stattfinden würde, sondern im Baltikum und in Polen …
Genau diese Sachlage sollte stets vor Augen haben, wer vor Russlands Haustür militärische Spielchen, Großmanöver eingeschlossen, treiben will und sich insbesondere in spannungsreichen Situationen wie der gegenwärtigen hin und wieder „die bange Frage“ stellen, „ob […] erhöhte Nervosität womöglich eine ungewollte Eskalation herbeiführen könnte“. So Michael Stabenow kürzlich in der FAZ.
Mich hat all dies jedenfalls zu der Schlussfolgerung geführt, dass auch und gerade für die osteuropäischen NATO-Staaten Sicherheit, die mehr ist als ein prekäres gegenseitiges Abschreckungsverhältnis, das (auch atomaren) Krieg als Möglichkeit stets mit einschließt, nur in Kooperation mit und nicht gegen Russland zu haben ist. Und wer die artikulierten sicherheitspolitischen Ängste dieser Staaten vor Russland ernst nimmt, wie das der geschätzte Kollege Karsten Voigt in diesem Magazin wiederholt getan hat, der sollte in Warschau, Riga und anderswo gelegentlich vielleicht auch – unter Verweis auf die deutschen Erfahrungen – darauf hinweisen, welche Risiken sich diese Staaten mit ihrer derzeitigen Fixiertheit auf den militärischen Faktor im Verhältnis zu Russland gegebenenfalls einhandeln. Polen zum Beispiel hat seine Militärausgaben allein von 2004 bis 2013 um 30 Prozent erhöht und will die Zwei-Prozent-Zielmarke der NATO (Anteil des Rüstungsbudgets am Bruttosozialprodukt) schon 2016 erreichen. Das ist ebenso Polens souveränes Recht wie es unsinnig ist: Am skizzierten sicherheitspolitischen Dilemma, in einem Krieg der NATO mit Russland als quasi Frontstaat zu Tode verteidigt zu werden, würde auch ein Vier-Prozent-Anteil grundsätzlich nichts ändern. Eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland aber schon eher…