Spinoza und Nietzsche

Wider die Verwechslung von Handlungsfähigkeit und Herrschaftsmacht

in (23.07.2014)

Dass Nietzsches Machtbegriff in Kontinuität zu Spinozas potentia zu verstehen sei, ist zu einem Gemeinplatz in der Sekundärliteratur geworden. So meinte z.B. William Wurzer, auch wenn Nietzsche Spinozas Ziel einer ewigen Ruhe in Gott abgelehnt habe, glaubten beide übereinstimmend, dass die Macht die Quelle der Bewegung und folglich der Existenz sei (1975, 171; 200f). Davor hatte Gilles Deleuze schon 1962 den nietzscheschen Willen zur Macht von Spinozas »Affizierbarkeit der Kräfte« her abgeleitet und als »differenzielle Sensibilität« der Kraft gedeutet (1991, 69f). Michael Hardt hat in seinem Buch über Deleuze dessen Kontinuitätsbehauptung zwischen Spinozas und Nietzsches Machtbegriff ohne philologische Prüfung übernommen (1993, 34ff), und so ist es nicht erstaunlich, dass die These unbesehen in Hardt/Negris Empire wieder auftaucht – der Unterschied wird lediglich darin gesehen, dass Nietzsches Macht stärker »expansiv« und werte-schaffend ausgerichtet sei (2002, 367). Die Auskunft ist insofern erstaunlich, als Negri zuvor bei Spinozas potentia gerade den ausgreifenden, »expansiven« Charakter herausgearbeitet und mit Marx’ Begriff der Produktivkräfte vermittelt hat (1982, 42; 75; 245).

Die Identifizierung der Machtbegriffe Spinozas und Nietzsches ist Teil einer Großerzählung geworden, die sowohl den Mainstream der Nietzsche-Forschung als auch die poststrukturalistischen Interpretationen weitgehend beherrscht. Losurdo hat sie als »Hermeneutik der Unschuld« gekennzeichnet, die die radikal-aristokratische und elitäre Perspektive aus dem Nietzsche-Bild tilgt (2009, 716ff). So vermag z.B. Müller-Lauter im Willen zur Macht nichts anderes zu sehen als einen »Willen-zur-Macht-Pluralismus«, bei dem es um die »Vielheit« von Kräften und pluralen »Machtquanten« geht (1999, 40ff). Während Nietzsches Genealogie der Moral ihren Ausgangspunkt in einem »Pathos der Vornehmheit und Distanz« suchte, das ausdrücklich im »ständischen« Sinne einer aristokratischen Klassenherrschaft bestimmt wurde (KSA 5/259, 261), verwandelt Deleuze die sozialen Gegensatzbegriffe hochniedrig, vornehm-gemein, gut-schlecht in ein »differentielles Element«, das zwischen »aktiven«, »bejahenden« und »reaktiven«, »verneinenden« Kräften zu unterscheiden erlaubt (1991, 5ff; 62ff). Mithilfe einer solchen allegorisierenden Lektüre wird Nietzsches Wille zur Macht zum »inneren Willen« des Kraft-Begriffs, zum »genealogischen Element der Kraft« entnannt (56).1 Noch 2013 konnte auf einer Konferenz zum Thema Spinoza and Nietzsche in Dialogue unwidersprochen behauptet werden, zwischen Spinozas und Nietzsches Machtbegriff gebe es eine »remarkable affi nity« (Grosse Wiesmann 2013), und die ethische Position von Nietzsches »Wille zur Macht« sei die gleiche wie die von Spinozas potentia (Rutherford 2013).

Ich möchte zeigen, dass eine solche Kontinuitätsthese philologisch unhaltbar und philosophisch fragwürdig ist, da sie den politisch-ethischen Gegensatz zwischen Spinozas potentia agendi als kooperativer Handlungsmacht und Nietzsches aristokratischer Herrschaftsmacht zum Verschwinden bringt. Dieser Gegensatz ist verdeckt von einem anderen, von Nietzsche entlehnten.

 

»Statische« versus »dynamische« Macht?

Soweit Unterschiede zwischen Spinozas und Nietzsches Machtbegriff thematisiert werden, erfolgt dies in der Regel dahingehend, dass Nietzsche den Machtbegriff Spinozas auf zweifache Weise philosophisch weiterentwickelt habe, nämlich zum einen, indem er ihn von der überholten Verbindung mit einer auf Gotteserkenntnis ausgerichteten Vernunft befreite, zum anderen, indem er ihn nicht mehr mit einem bloß statischen Trieb der Selbsterhaltung identifi zierte, sondern in eine expansive Machterweiterung verwandelte.

Der erste Unterschied lässt sich an zahlreichen Distanzierungen Nietzsches festmachen, z.B. wenn er Spinozas Vernunftorientierung als »Vorurteil« bezeichnet (KSA 9/517, 490). Der Vorwurf lautet, Spinoza wolle über die Vernunft die Affekte durch Analysis und Vivisektion »zerstören« (KSA 5/118). Bei Spinoza kann jedoch die Erkenntnis als solche überhaupt keinen Affekt einschränken, sondern nur, insofern sie selbst ein Affekt ist, und zwar ein stärkerer (Ethik, IV LS 7; LS 14 u. Bew). Sie muss, wie auch Nietzsche in seinem Spinoza-Exzerpt notiert, »Affekt sein, um Motiv zu sein« (KSA 9/517). Entgegen Nietzsches Verdikt ist Spinozas Vernunft eine, die auf den Affekten zu »surfen« versucht: es geht darum, sie auf vernünftige Weise zu »ordnen und zu verketten« (ordinandi & concatenandi), übermäßige Dominanzen einzelner Begierden auszugleichen, eine Gleichmäßigkeit der Affi zierbarkeit herzustellen, wie er sie z.B. in der Heiterkeit verwirklicht sieht (Ethik V LS 10; LS 14; IV LS 42 Bew).

Die zweite Unterscheidung stößt auf die Schwierigkeit, dass auch Spinoza die potentia keineswegs statisch angelegt hat, sondern sich gerade für ihre Erweiterung interessierte. So bestimmt er die Affekte nach dem Kriterium, ob durch sie »das Tätigkeitsvermögen (potentia agendi) des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird«, und es ist insbesondere die Freude, die die potentia agendi des Körpers vermehrt (III, Def 3; IV, LS 41 Bew). Im Gegensatz zu jedem Körper-Geist-Dualismus fördert das, was das Tätigkeitsvermögen unseres Körpers vermehrt, auch das Denkvermögen unseres Geistes (III, LS 11; LS 12). Es kommt hinzu, dass auch Nietzsche sich des dynamischen Charakters von Spinozas potentia agendi bewusst war. Dies zeigt sich z.B. in einem zwischen Ende 1886 und Frühjahr 1887 verfassten Exzerpt, in dem er Spinozas Verknüpfung von Handlungsvermögen und »Ethik« dahingehend zusammenfasst, dass das Gute mit der Förderung der Macht zusammenfällt: »›Was wir tun, thun wir, um unsere Macht zu erhalten und zu vermehren.‹« (KSA 12/261) Das hindert ihn freilich nicht, Spinozas Philosophie in der Fröhlichen Wissenschaft vom Standpunkt der »Machterweiterung« als Ausdruck von »Menschen in Nothlagen« zu kritisieren (KSA 3/585). Damit hat er eine Fährte gelegt, auf der sich ein Großteil der Literatur nachhaltig verirrt hat.

Die Auswirkung ist auch dort noch zu sehen, wo Nietzsches Fehlinterpretation philologisch erkannt ist. Wie z.B. Günter Abel richtig beobachtet, entzieht Nietzsche der Lehre Spinozas das Moment der Machtsteigerung, fügt beide in seine Gedankenwelt ein und legt Spinoza auf den Grundsatz der Selbsterhaltung fest (Abel 1998, 51). Statt dies als irreführende Manipulation zu kritisieren, hält er Nietzsches Umgang mit Spinoza für philosophisch fruchtbar, weil er den Weg öffne, die in Spinozas conatus der Selbsterhaltung immer noch enthaltene »Teleologie« zu überwinden und damit zu einer »völlig adualistischen Auffassung der Geschehensprozesse « zu gelangen (53). Es bleibt rätselhaft, warum Nietzsches Willen zur Macht nicht auch »teleologisch«, nämlich auf das Telos der Macht-Erweiterung gerichtet ist, und warum es überhaupt sinnvoll sein soll, jede Refl exion über Lebensantriebe, -ziele und -motivationen als zu überwindende »Teleologie« zu interpretieren, als gäbe es keine Unterschiede zwischen einer a priori festgelegten Teleologie der Natur oder Geschichte und den von den Menschen selbst in ihren Lebenspraxen jeweils neu entwickelten Antizipationen.2 Auch Hannah Grosse Wiesmann kann detailliert nachweisen, dass Nietzsche das Konzept des conatus bei Spinoza bewusst einseitig auf statische Selbsterhaltung reduziert. Statt von dort aus weiterzufragen, warum Nietzsche dies tut, zieht sie sich auf die Standarderklärung der inneren Verwandtschaft beider Machtbegriffe zurück. Der Unterschied liege lediglich darin, dass es bei Nietzsches nicht mehr ein Subjekt sei, das sich erhalten wolle, sondern der Wille zur Macht selbst (Grosse Wiesmann 2013). Über den philosophischen Sinn einer solchen pauschalen Subjekteliminierung legt sie keine Rechenschaft ab.

Ich möchte dagegen vorschlagen, Nietzsches Irreführung als Symptom zu lesen, mit dessen Hilfe verdeckt wird, dass der wirkliche Unterschied zwischen seinem Willen zur Macht und Spinozas potentia agendi ganz woanders zu suchen ist. Schon die terminologische Übereinstimmung mithilfe des Ausdrucks »Macht« ist problematisch und geht auf eine einseitige Übersetzung zurück.

 

Folgen einer problematischen Übersetzung

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Nietzsche Spinoza jemals im Original gelesen hat (vgl. Brobjer 2004). Stattdessen hat er ihn v.a. über Kuno Fischers Geschichte der neueren Philosophie (1880) rezipiert, in der die potentia agendi mit »Macht« schlechthin wiedergegeben wird. In den neueren, auf Jakob Sterns Übersetzung gestützten Ausgaben der Ethik ist der Term meist mit »Tätigkeitsvermögen« übersetzt. Im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus wird er im Stichwort »Handlungsfähigkeit« behandelt und auf diese Weise mit dem gleichlautenden Begriff der Kritischen Psychologie verkoppelt, die ihn als subjekttheoretische Grundlagenkategorie eingeführt hat, um die lebenspraktische Vermittlung der individuellen mit der gesellschaftlichen Reproduktion zu fassen.

Auf eine ähnliche Grundbedeutung stößt man aber auch, wenn man sich die Etymologie von Macht vornimmt. Im gotischen mahts und magan findet sich die Bedeutung von können, die noch im deutschen Verb vermögen sichtbar ist. Dass sich von diesem Können/Vermögen im Mittelhochdeutschen das Verb mögen im Sinne von gern wollen und gern haben abgezweigt hat, kann als Hinweis interpretiert werden, wie eng Handlungskompetenz und der Affekt eines zugewandten Wollens zusammengefühlt wurden; eine andere Abzweigung erfolgte zur Möglichkeit. Diese semantischen Verknüpfungen sind kein deutscher Sonderfall, sondern lassen sich ähnlich in den romanischen Sprachen nachweisen: so gehen z.B. im Französischen sowohl pouvoir als auch puissance auf das Verb pouvoir (können) zurück, das wiederum in die possibilité hineinreicht usw. In diesem allgemeinen Sinne konnte z.B. das Zedlersche Universallexikon von 1739 die Macht als Vermögen bezeichnen, »das Mögliche wirklich zu machen« (zit.n. Röttgers 1980, 585).

Was die Grundbedeutung der Macht als Kompetenz auszeichnet, ist, dass sie der Möglichkeit nach verallgemeinerbar und demokratisierbar ist. Das unterscheidet sie grundsätzlich von der Herrschaft bzw. der romanischen und englischen domination, die vom Standpunkt des Herrn, des dominus als des Knotenpunkts von Patriarchat und Klassenherrschaft gebildet wurde und damit prinzipiell nicht demokratisierbar ist. Freilich kennzeichnen die Begriffe nicht strikt voneinander getrennte gesellschaftliche Bereiche, sondern gehen in der empirischen Wirklichkeit Verbindungen ein. Was das Vermögen, »das Mögliche wirklich zu machen«, wirklich vermag, hängt unter antagonistischen Verhältnissen maßgeblich von der jeweiligen Position im gesellschaftlichen System der Klassen-, Geschlechter- und Rassenverhältnisse ab. Somit kann die Grundbedeutung des Könnens leicht hinübergleiten in die eines partikularen Vermögens qua Herrschaftsmacht, ohne dass sich bei einem solchen fließenden Übergang das Wort ändern muss. Von dieser inhärenten Zweideutigkeit ist die gesamte philosophische Begriffsgeschichte der Macht durchzogen, die selbst wiederum als ein Feld hegemonialer Machtkämpfe entziffert werden kann. Wie eine Ellipse kreist sie um die Pole einer allgemeinen Handlungsmacht und einer engeren Bedeutung, bei der die potentia des Machen-Könnens auf der Seite der Herrschaftsmacht verbucht und vereinnahmt wird.

Bevor wir darangehen, Spinozas und Nietzsches »Macht« auf dieser Ellipse zu verorten, können wir jetzt schon festhalten: Bereits die Wiedergabe von Spinozas potentia agendi als Macht schlechthin, ohne die die Assoziation mit Nietzsches Willen zur Macht nicht möglich wäre, geht auf eine problematische semantische Verschiebung in Fischers Übersetzung zurück. Vor allem aber sagt die Verwendung des mehrdeutigen Terms Macht noch nichts über den Machtbegriff aus, dessen Inhalt nur aus den jeweiligen Verwendungsweisen und Verknüpfungen rekonstruiert werden kann. Betrachten wir zunächst, wo Nietzsche sich von Spinozas Philosophie hat inspirieren lassen und wo er zu ihr auf Distanz ging.

 

Die Abkehr des späten Nietzsche von Spinoza

Dass Nietzsche von Spinozas Kritik der Teleologie, der Moral und der »traurigen Gefühle« sich hat anregen lassen, geht schon aus der bekannten Postkarte an Overbeck 1881 hervor, in der er Spinoza als seinen »Vorgänger« bezeichnet: »er leugnet die Willensfreiheit –, die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse« (KGB III.1, 111). Wie Wurzer gezeigt hat, fällt Nietzsches positive Spinoza-Rezeption mit der »mittleren« ideologiekritischen Periode zusammen, in der er in seinem Kampf gegen den (eigenen) Idealismus vom Typ »›Opiat‹ Wagner« auf das Instrumentarium eines naturalistischen Materialismus zurückgreift (1975, 40ff). Die Gemeinsamkeiten mit Spinoza sind am größten, wo Nietzsche die der Moral zugrundeliegende Unterstellung eines »freien Willens« vom Gesichtspunkt eines naturgesetzlichen Determinismus aus kritisiert. Hier beruft er sich auch auf einen »Trieb der Erhaltung« (KSA 2/95) und damit auf ein Konzept, das er später vom Standpunkt seines Willens zur Macht auf Spinozas »Schwindsucht« zurückführen wird (KSA 3/585).

Die ideologiekritische Periode Nietzsche ist wiederum maßgeblich von seiner Freundschaft mit dem von Spinoza beeinflussten Paul Rée geprägt, der im Übergangsfeld zwischen Naturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Philosophie an einer empirischen Moralwissenschaft arbeitete. Trotz des bis heute weit verbreiteten (und vom späten Nietzsche übernommenen) Bildes, dem zufolge Rée neben dem »Genie« Nietzsches als mittelmäßiger und flacher Denker erscheint, ist sein intellektueller Einfluss auf Nietzsches mittlere Phase kaum zu überschätzen. Über ihn ist Nietzsche offenbar zuerst auf die Philosophie Spinozas gestoßen, durch ihn und mit ihm zusammen macht er sich mit den französischen Moralkritikern (»Moralisten«) Montaigne, LaRochefoucauld, Vauvenarges, La Bruyère und Stendhal vertraut, und vieles spricht dafür, dass Nietzsche durch die Freundschaft mit dem jüdischen Intellektuellen auch ein Stück seines früheren Antisemitismus überwindet, zumindest vorübergehend (vgl. Losurdo 2009, 264). Dementsprechend führt nicht nur Wagner selbst Nietzsches Trennung von ihm auf den »zersetzenden« Einfluss Rées zurück, sondern auch andere Zeitgenossen, die seine Kritik der Ideale in Menschliches, Allzumenschliches als eine befremdliche Verirrung wahrnehmen – auf Nietzsches Ideologiekritik reagiert das »Milieu« mit antisemitischen Schuldzuschreibungen.3

Bekanntlich schlägt Nietzsches Freundschaft mit Rée in Feindschaft und Verachtung um, weil beide sich in Lou Andreas-Salomé verlieben. Gegen Ende 1882 kommt es zum Bruch, der zugleich ein Bruch zwischen Nietzsche und Salomé ist. Die Krise der unglücklichen Liebe fällt mit der Abfassung des Zarathustra zusammen, durch die Nietzsche sich, wie er in einem Brief an Overbeck schreibt, »›senkrecht‹ aus dieser Tiefe in [s]eine Höhe erhoben [hat]« (KGB III, 1, 324).4 Diese neue und prekäre »Höhe« wird die nietzschesche Spätphase bis zum Zusammenbruch kennzeichnen.

Wir sind hier an einem Punkt, an dem sich biographische und philosophische Stränge in intensiver Weise verdichten. Zum einen fällt der Bruch mit Rée und Salomé gegen Ende 1882 mit der Einführung des »Willens zur Macht« zusammen, den Nietzsche erstmals im November 1882 in Vorbereitung des Zarathustra erwähnt (KSA 10/187), und der von nun an den bis dahin benutzten Term der »Selbsterhaltung « ablöst. Zum anderen beginnt Nietzsche nun im Frühjahr-Sommer 1883, also kurz nach dem Bruch mit Rée, sich von Spinoza zu distanzieren.

Die Unschuldshermeneutik sucht die Kontinuität zwischen Nietzsche und Spinoza also gerade dort, wo sie am wenigsten zu finden ist: ihre Gemeinsamkeiten lagen in der Kritik des Idealismus, seiner Freiheitsillusionen und seiner Teleologie, aber gerade nicht im Willen zur Macht. Im Gegenteil. Sobald Nietzsche sich daranmacht, sein Material von diesem Prinzip aus neu anzuordnen, wendet er sich nicht nur gegen Paul Rée und die »englischen« Moralgenealogen, sondern auch immer schärfer gegen Spinoza, dessen conatus der Selbsterhaltung er als eine plebejische »Grundlage des englischen Emipirismus« (KSA 11/224) attackiert. Zu analysieren wäre gerade die Vehemenz, mit der sich Nietzsche ab 1882 vom »schwindsüchtigen Spinoza« und seinem angeblich immer blasser werdenden Begriffs-»Geklapper« abstoßen muss, bis er ihn schließlich dem gegnerischen Lager der »raffinierten Rachsüchtigen und Giftmischer« zuschlägt.5 Nachdem er noch in Menschliches, Allzumenschliches gemeint hat, den Juden verdankten wir Spinoza als den »reinsten Weisen« (KSA 2/310), verfasst er im Herbst 1884 ein Spottgedicht, in dem er Spinozas Religionskritik als »jüdischen« Hass entlarvt: »Doch unter dieser Liebe fraß unheimlich glimmender Rachebrand: – am Judengott fraß Judenhass! – Einsiedler hab ich Dich erkannt?« (KSA 11/319)

Hier wäre also eine Wende im Verhältnis zwischen Nietzsche und Spinoza zu reflektieren, die, als dialektische verstanden, bestimmte Gemeinsamkeiten auch in Nietzsches Spätphase keineswegs ausschließen würde. Freilich sind Widersprüche und Brüche in den Spinoza-Nietzsche-Kontinuitätskonstruktionen nicht zugelassen. Dies gilt paradoxerweise auch für poststrukturalistische Interpretationen, die sich ansonsten in der Betonung des Fragmentarischen und Nicht-Linearen zu überbieten versuchen. Den verschiedenen Varianten ist die Unterstellung gemeinsam, dass Nietzsche und Spinoza grundsätzlich das Gleiche meinen, wenn sie von potentia bzw. Macht sprechen.

 

Ein »absoluter Antagonismus« von potentia und potestas?

Kennzeichnend für Spinoza ist zunächst, dass er für das gewöhnlich als »Macht« Übersetzte zwei verschiedene Termini verwendet, den der potentia und den der potestas. Das Verhältnis beider ist zum Gegenstand kontroverser Debatten geworden, nachdem Negri es als »absoluten Antagonismus« interpretiert hat (1982, 257): Potentia bezeichne das kreative Vermögen der Vielen, ihre schöpferische Arbeit und kollektive Praxis und begründe damit eine materialistische »Metaphysik der Produktivkraft« (245); die potestas stehe für die »Gewalt [...] als Unterordnung der Vielheit, der Intelligenz, der Freiheit, des Vermögens« (215). Die These eines absoluten Gegensatzes ist durchkreuzt von einer zweiten: als »konstitutive Verknüpfung« des Einzelnen und der Multitude (ibid.) sei die potentia ontologisch primär, während die potestas eine sekundäre, reaktive Gewalt darstelle, die die potentia in eine starre Form zu bringen versuche. Damit ist die zentrale begriffl iche Anordnung der späteren, mit Michael Hardt verfassten Bücher Empire, Multitude und Commonwealth vorgezeichnet, der zufolge der biopolitischen Produktivkraft der Multitude ein nurmehr parasitärer Aneignungsapparat des Empire entgegensteht.

Terpstra hat dagegen eingewandt, dass sich ein solcher terminologischer Gegensatz nicht durchgängig belegen lässt, weil Spinoza meinte, das potestas-Konzept in seinem Begriff der potentia integrieren zu können (1990, 80ff). Martin Saar kritisiert Negris »Überinterpretation einer terminologischen Unterscheidung«, die er z.B. dadurch widerlegt sieht, dass Spinoza die potestas zuweilen nicht als Gegenbegriff sondern im Sinne einer Intensivierung der potentia verwende (2013, 175f). Negris Dichotomie verschleiere, dass es bei Spinoza keinen grundsätzlich anti-institutionellen Impuls gebe und »das Ausgestalten institutioneller und prozeduraler Regelungen (und damit der potestas-Dimension der Politik) geradezu eine Kernaufgabe des politischen Denkens ist« (178).

Tatsächlich stellt Negris These eines »absoluten Antagonismus« zwischen potentia und potestas eine Vereinfachung eines komplexen Verhältnisses dar. In Kapitel 16 des Theologisch-Politischen Traktats zu den »Grundlagen des Staates« wird potestas in der Bedeutung höherer staatlicher Gewalten (superiores potestates) verwendet, während die potentia die Kompetenzen bezeichnet, die die einzelnen auf eine solche höhere Regierungsmacht übertragen. Spinoza hält eine solche Machtübertragung für notwendig und befürwortet eine starke potestas des Staates6 – vermutlich schon deshalb, um vor den »potestates« der ihn denunzierenden und verfolgenden jüdischen und christlichen Religionsgemeinschaften geschützt zu sein. Dennoch hält er die potestates des Staates und die potentiae der Vielen begrifflich auf Distanz. Niemals haben die Menschen »so ihre Macht auf andere übertragen, dass sie nicht von denjenigen, die diese übertragene Macht akzeptiert haben, gefürchtet würden«, und nie wird einer »seine Macht (potentia) […] auf einen anderen übertragen können, dass er aufhörte Mensch zu sein, und niemals wird es eine höchste Gewalt (potestas) geben, die alles so ausführen könnte, wie sie will« (TTP 248). Bei dem notwendigen Machttransfer ist die Demokratie die »natürlichste« Regierungsform, weil hier niemand sein Recht derart auf jemand anderen überträgt, »dass er selbst fortan nicht mehr zu Rate gezogen wird; vielmehr überträgt er es auf die Mehrheit der gesamten Gesellschaft, von der er selbst ein Teil ist. Auf diese Weise bleiben alle gleich« (240). Dies führt Spinoza bis zu der Vorstellung, »dass […] die ganze Gesellschaft womöglich gemeinschaftlich die Regierung in der Hand behalten muss, so dass alle sich selbst und keiner seinesgleichen dienen muss« (85). Der letzte Zweck des Staates ist nicht »zu herrschen [non esse dominari] noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern […] die Freiheit.« (301)

Von Bedeutung ist, dass bei Spinoza die potentia nicht an die potestas ausgeliefert wird. Im Kontext des »absolutistischen« 17. Jahrhunderts artikuliert sie ein bedeutsames demokratisches Gegengewicht. Matheron zufolge gibt es gar keinen Machttransfer im eigentlichen Sinne, da das Souveränitätsrecht nicht durch die Macht des Souveräns sondern durch die der Multitude definiert bleibt (1997, 214f). Balibar zufolge wird bei Spinoza der von Gegensätzen zerrissene Naturzustand nicht durch ein gegensatzloses Staatsgesetz abgeschafft, sondern die Begriffsanordnung bleibt dialektisch offen für den Gegensatz zwischen den etablierten summae potestates und der plebejischen multitudo – die potestas kann ihre Macht nur effektiv ausüben, soweit die Individuen, die sie konstituiert haben, sie durchgängig als ein Gesetz anerkennen, das ihrem Willen entspricht (1997a, 174ff). Hegemonietheoretisch betrachtet geht es darum, dass die potestas nicht die Konsensgrundlage verliert, sondern an die potentia der Mehrheit zurückgebunden bleibt.

 

Wo Negri dennoch recht hat

Dass Negri ein widersprüchliches Wechselverhältnis auf einen »absoluten Antagonismus« reduziert, hängt v.a. mit seiner pauschalen Ablehnung von Dialektik und gesellschaftlichen Vermittlungen zusammen. Dies wird ihn (und Hardt) zu der illusorischen Annahme verführen, die »immaterielle Arbeit« der Multitude stünde dem Empire ohne zivilgesellschaftliche Vermittlungen in unmittelbarer Konfrontation gegenüber. Aber hinsichtlich eines ontologischen Vorrangs der potentia bei Spinoza liegt Negri durchaus richtig. Eine Kritik, die auf seine undifferenzierte Entgegensetzung von potentia und potestas fixiert bleibt, läuft damit Gefahr, selbst undifferenziert zu verfahren. Sie übersieht, dass Spinozas schwankende Verhältnisbestimmung der jeweils unterschiedlichen Bestimmung der potestas (nicht der potentia) geschuldet ist. Die Unklarheit ist nicht zuletzt in der Sache begründet: die Frage, ob oder in welchem Maße die staatliche potestas sich hegemonial aufs Vermögen der Vielen stützen kann oder nicht, ist nicht ein für alle Mal zu entscheiden. Nachzutragen ist außerdem, dass Negri seine Zuschreibung eines absoluten Antagonismus später als »missverständlich« kritisiert und stattdessen von einem »asymmetrischen Verhältnis« spricht, bei dem die potentia sowohl gegen als auch innerhalb der potestas wirkt (2013, 13; 25).

In Spinozas Ethik taucht die potentia zunächst im Zentrum des Gottesbegriffs auf. Sie bezeichnet Gottes »unendliches Vermögen« zu existieren sowie Unendliches hervorzubringen, und ist damit Gottes »tätiges Wesen« (Dei actuosa essentia) selbst (Ethik, I Def 7; I LS 11 u. 34; II LS 3). Sie ist es, die die Gleichung Gott = Substanz = Natur (natura naturans) vermittelt und im Inneren zusammenhält. Gott selbst ist als universelles Produktionsvermögen verstanden, das zugleich im Innern jeder individuellen Realität wirkt. Der Begriff einer subjektlosen »Produktivkraft« Gottes ist zugleich Grundlage einer Kritik transzendenter Religion, die Althusser als »die erste, jemals gedachte Theorie der Ideologie«, des Imaginären und der Subjekt-Illusion würdigt (1975, 75f).

Untersucht man die Passagen zur potentia agendi, kann man feststellen, dass diese an keiner Stelle als Herrschaftsmacht über andere behandelt wird. Von der göttlichen potentia unterscheidet sie sich v.a. dadurch, dass sie von der potentia der äußeren Ursachen unendlich übertroffen und beschränkt wird (Ethik IV LS 3). Deshalb muss sich der Mensch notwendig an die Natur anpassen und ist den Leiden (passionibus) unterworfen (IV LS 4 FS). Leiden/Erleiden (passio/pati) meint bei Spinoza ein Geschehen, das wir nicht selbst »adäquat« verursachen, sondern dem wir ausgeliefert sind; ihm steht das Handeln (agere) entgegen, bei dem ausschließlich wir selbst die »adäquate Ursache« bilden (III Def 1 u. 2). Auf diesen emphatischen Begriff eines selbst verursachten, selbst bestimmten, wenn auch de facto immer begrenzten Handelns bezieht sich Spinozas potentia, die wiederum den Angelpunkt bildet, von dem aus in Teil III und IV der Ethik sowohl die Affekte als auch die ethischen Tugenden und Untugenden bestimmt und neu angeordnet werden.

Spinozas Ethik ist eine Moralkritik, insofern sie den transzendental begründeten Werten eine »Geometrie« der Gefühle und Tugenden entgegensetzt (III Vorw), die nach ihren handlungsfördernden oder -hemmenden Eigenschaften hin abgemessen werden. Aber die »Macht«, von der aus Spinoza die Moral kritisiert, ist als kooperatives Vermögen gefasst. Im Gegensatz zu Nietzsches heroischem Einsamkeitskult geht es hier um den Vergesellschaftungsmodus einer prozessualen »Transindividualität «, die auf Synergie-Beziehungen mit anderen gerichtet ist (Balibar 1997b). Die potentiae der Individuen verwirklichen sich in gesellschaftlicher Arbeitsteilung: Auch wenn Satiriker, Theologen und Melancholiker die menschlichen Gemeinschaften schlecht redeten, müssen sie sich doch der Defi nition des Menschen als gesellschaftliches Wesen (zôon politikón oder animal sociale) anschließen und »die Erfahrung machen, dass die Menschen durch wechselseitige Hilfeleistung sich ihren Bedarf viel leichter verschaffen und nur mit vereinten Kräften die Gefahren, von denen sie überall bedroht sind, vermeiden können« (Ethik IV LS 35 Anm; vgl. TTP 84). Spinozas Handlungsvermögen ist in diesem kooperativen Zusammenschluss verortet. Wenn der Mensch mit solchen Individuen lebt, die mit seiner Natur übereinstimmen, »wird dadurch seine potentia agendi gefördert oder genährt werden«, heißt es im Appendix von Teil IV (Kap. 7). Die potentia ist das Vermögen, das die Menschen miteinander übereinstimmen lässt, während Unvermögen (impotentia) und passives Erleiden sie voneinander trennen und einander entgegensetzen (IV LS 32-34). Die aus dieser Handlungsfähigkeit abgeleitete Tugend ist auf Verallgemeinerbarkeit angelegt, indem man das Gut, das man für sich begehrt, auch den übrigen Menschen wünscht (IV LS 37).

Saar wendet gegen Negris Interpretation u.a. ein, Spinozas potentia belege »alle Felder des klassifi katorischen Schemas« der Macht, so dass sie grundsätzlich beide Pole bezeichne, Verstärkung und Gefährdung, Ermächtigung oder Entmächtigung (2013, 161f). Dieser Interpretation, die hier bezeichnenderweise auf Textbelege verzichtet, ist entgegenzuhalten, dass Spinoza die potentia agendi für Prozesse der Entmächtigung und Zerstörung gerade nicht verwendet. Saar vermengt die Ebene theoretischer Begriffe und der Beschreibung des Konkreten als »Zusammenfassung vieler Bestimmungen, also Einheit des Mannigfaltigen« (MEW 13, 632). Auf theoretischer Ebene geht es darum, analytische Begriffe für Dimensionen zu entwickeln, die die konkrete Wirklichkeit antagonistischer Klassen- und Geschlechterverhältnisse quer durchziehen und in widersprüchlichen Kombinationen auftreten. Dass das Handlungsvermögen von den potestates der Herrschaft angeeignet, akkumuliert und für eigene Zwecke eingesetzt wird, ist unbestritten. Man wird allerdings diesen Vorgang nicht theoretisch begreifen können, wenn man Herrschaftsaneignung und -umwandlung bereits in den Begriff des Handlungsvermögens einschleust. Saar meint, man solle Spinozas Machtbegriff nicht eine »Differenzierungsschärfe« geben, die »verwandte Probleme wieder künstlich zerrreißt« (163). Umgekehrt wird ein Schuh daraus: es geht darum, den Begriff der potentia analytisch trennscharf zu halten, um mit seiner Hilfe die komplexen Verfl echtungen von Macht und Herrschaft in der Wirklichkeit untersuchen zu können.

 

Nietzsches Umpolung der potentia agendi ins exterministische Gegenteil

Beim späten Nietzsche ist die Macht dagegen als ein »Überwältigen«, »Herrwerden« über weniger Mächtiges, Unterdrücken, Vergewaltigen und Ausbeuten konzipiert (KSA 5/208, 313f; 13/258). Die Bedeutung des Syntagmas »Willen zur Macht« besteht darin, die Herrschafts- und Vergewaltigungsmacht zu naturalisieren und ins »Wesen des Lebens« überhaupt zu verlegen. Der Wille zur Macht erbt die Leistung des kantischen Subjekts, nämlich »Ordnung zu bringen ins sensuelle Chaos«, bemerkt Manfred Frank und fügt hinzu: »In dem Maße also, wie das Subjekt der neuzeitlichen Philosophie als eine bare ›Fiktion‹ abgewiesen wird, erbt das Subjekt des Machtwillens die vakant gewordene Funktion des Transzendentalsubjekts.« (1983, 264) Ausgestattet mit dieser philosophischen Kompetenz liegt die Funktion des Willens zur Macht in einer groß angelegten Identitätsstiftung: von gesellschaftlicher Herrschaft und Subjekt-Innerem, von »Geist« und Körper, von Mensch und Protoplasma, dessen Teilungen Nietzsche meint, in den Kategorien der Sklaverei und der Kasten beschreiben zu können,7 von organischer und anorganischer Natur überhaupt. Auf welcher Ebene auch immer: es ist allein »die herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre […], in denen der Lebenswille aktiv und formgebend erscheint« (KSA 5/316). Das Aktive und Gestaltende ist dargestellt als Effekt der Herrschaft, die selbst wiederum als Lebensbejahung verkleidet ist.

Versäumt man es, die operative Bedeutung der potentia agendi aus ihren Verknüpfungen mit den kooperativen Produktionen und Beziehungen zu rekonstruieren, wird man auch die Umwandlung nicht verstehen, die sich bei ihrer Aneignung durch Nietzsche ereignet. Wenn die Perspektive von Spinozas Machtbegriff darin liegt, durch die Verbindung mit anderen zu gemeinsamen Tätigkeiten eine »Macht-Akkumulation in einem jeden Teil eines Aggregats« zu bewerkstelligen (Röttgers 1980, 597f), ist dies das genaue Gegenteil zu Nietzsches Machtbegriff, der auf die Entmächtigung der Vielen angelegt ist. Die terminologischen Anleihen bei Spinoza sind Bestandteile einer feindlichen Übernahme, bei der die herausgebrochenen Elemente in eine entgegengesetzte Anordnung einmontiert werden. Wenn Spinoza die Tugend mit dem Handlungsvermögen zusammenfallen lässt (z.B. Ethik, IV Def 8, 445), notiert Nietzsche 1886/87 in sein Spinoza-Exzerpt: »Tugend und Macht identisch. […] Gut ist, was unsere Macht fördert: böse das Gegenteil« (KSA 12/261).

Diesen exzerpierten Satz überträgt er nun in den Antichristen und gibt ihm eine Drehung, die Spinozas Anliegen diametral widerspricht: »Was ist gut? Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht«, und schlecht ist, »was aus der Schwäche stammt«. Demnach: »Die Schwachen und Missratenen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.« (KSA 6/170; vgl. 13/192)

Nietzsche hat Spinozas Handlungsvermögen überwältigt und in seine Herrschaftsmacht einverleibt, die er konsequent bis zum Zugrunde-Gehen der »Schwachen« weiterspinnt. Was in den Konstruktionen einer homogenen Spinoza-Nietzsche-Linie ausgeblendet wird, ist letztlich nichts weniger als die »Differenz« zwischen gesellschaftlicher Kooperation und projizierter Massenvernichtung. Diesen Gegensatz nicht zu sehen, ist intellektuell und ethisch skandalös. Auch Negri ist hier mit Ahnungslosigkeit geschlagen. Er merkt zwar an, Nietzsches Kritik an der konstitutiven Funktion von Spinozas potentia sei »extrem hart und aggressiv« (2013, 70f; 80), verzichtet aber auf jede Erklärung dieser Polemik. Dies liegt wiederum an dem vermutlich von Deleuze übernommenen Vorurteil, es gäbe »bei Nietzsche nichts, das in eine reaktionäre Richtung weist« (67). Das Nicht-Sehen des machttheoretischen Gegensatzes bildet die stillschweigende Voraussetzung dafür, dass Nietzsche in der Verkleidung Spinozas seinen Triumphzug im Poststrukturalismus antreten konnte. Die Gemeinsamkeiten beider in der Moralkritik aufzulisten und die gegensätzlichen Machtperspektiven, von denen aus sie erfolgt, beharrlich zu überlesen, reproduziert die Umwertung Spinozas durch Nietzsche und setzt sie fort.

Wenn Walter Benjamin in den Thesen Über den Begriff der Geschichte die Aufgabe formuliert, die Überlieferung in jeder Epoche »von neuem dem Konformismus abzugewinnen« und »im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen« (GS I.2, 695ff), gilt dies für Spinoza ganz besonders. Seine potentia agendi ist für eine Erneuerung kritischer Theorie schon deshalb von Bedeutung, weil sowohl die Ideologiekritik im Gefolge von Horkheimer und Adorno als auch die Ideologietheorie Althussers sich kaum für Handlungsimpulse interessierten, die sich den ideologischen Anrufungen widersetzen oder entziehen könnten. Ohne die Dimensionen horizontaler und kooperativer Handlungsfähigkeit im Alltag freizulegen, ist es freilich unmöglich, die lebenspraktischen Antriebe einer Hegemoniegewinnung von unten zu begreifen. Indem Spinozas Ethik sich gegen alles wendet, was die Lebenstätigkeit passiviert, kann eine Kritik fremdbestimmter Verhältnisse fruchtbar an sie anknüpfen.

Linke Politik kann sich nicht aufs Ressentiment, auch nicht auf das »gegen die da oben«, gründen. Sie muss sich auf Projekte »guten Lebens« orientieren, die von den Menschen selbst entworfen und erstritten werden. Auch hier kann Spinoza, der Bloch zufolge »eine der heitersten Ordnungslandschaften der Welt entworfen« hat (1959, 997), als philosophische Orientierung genutzt werden. Seine Verbindung von kooperativer Handlungsfähigkeit und Freude mag uns dabei helfen, Bilder und Vorstellungen eines »guten Lebens« zu entwickeln, die die glitzernden Glücksversprechen der Warenästhetik und des Konsumismus als das offenbaren, was sie sind: traurige Manifestationen eines rastlosen Getriebes kapitalistischer Akkumulation und Distinktion. Spinozas häufig als naive Vernunftorientierung denunzierte Verkopplung von potentia agendi und potentia cogitandi ist hilfreich bei Entwürfen eines erkannten und erkennenden Lebens. Die »Lebensbejahung«, die Nietzsche mit dem aristokratischen »Pathos der Distanz« zu verschmelzen versuchte, tritt hier ins demokratische Freie. Mit ihr ist der gedankliche und ethische Grund gelegt für die von Marx antizipierte »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4, 482).

 

Fußnoten

1 Vgl. zur Kritik Rehmann 2004, 26-60. Während Deleuze Nietzsche spinozisch umdeutet, unterzieht er komplementär Spinoza einer »nietzscheanisch-lebensphilosophisch inspirierten « Lektüre (Oittinen 1994, 65). Wie Reitter gezeigt hat, gibt er der Philosophie Spinozas eine »a-soziale Wendung«, indem er an die Stelle des freien Gemeinwesens Nietzsches »starken Menschen« setzt (2011, 350).

2 Negri bezeichnet solche Antizipationen als »Teleologie der Praxis« von unten, die auf die Herstellung des Gemeinsamen gerichtet ist (2013, 8; 78f). Zur Bedeutung der Antizipation bei Bloch und im Marxismus, vgl. Rehmann 2012.

3 Cosima Wagner notiert am 1.11. 1876 in ihr Tagebuch: »Abends besucht uns Dr. Rée, welcher uns durch sein kaltes pointiertes Wesen nicht anspricht, bei näherer Betrachtung finden wir heraus, dass er Israelit sein muss« (zit.n. Treiber 1999, 515).

4 »Wenn ich nicht das Alchimisten-Kunststück finde, auch aus diesem – Kothe Gold zu machen, so bin ich verloren«, schreibt er am 25. Dezember 1882 (KGB III, 1, 312).

5 Vgl. KSA 3/585, 624; 5/43; 6/ 126; 6/184; 10/340; 11/226; 13/504, 537.

6 Vgl. TTP 237, 240, 285, 295.

7 Vgl. hierzu u.a. KSA 9/490ff, 12/92, 424, 13/360f.

 

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© DAS ARGUMENT 307/2014, 213-225