Istanbuls schöne neue Welt (2)

Die gegen Mücella Yapici erhobenen Vorwürfe sind heftig: „Anstachelung des Volkes zum Aufruhr und Gründung einer Bande“. Bis zu 20 Jahre Haft könnten darauf verhängt werden. Das ist kein Einzelfall. In Antalya läuft derzeit ein Prozess gegen die 20-jährige Ayşe Deniz Karacagi, der man vorwirft, dort während einer Gezi-Park-Demonstration ein rotes Halstuch getragen zu haben. Die Staatsanwaltschaft beantragte 98 Jahre Haft. Offensichtlich waren die Pläne gegen diesen kleinen Istanbuler Stadtpark der berühmte Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen brachte. Zum besseren Verständnis muss man auf die Vorgeschichte blicken.
1936 beauftragte Republik-Gründer Mustafa Kemal Atatürk den französischen Architekten Henri Prost mit der Erarbeitung des Generalplanes für Istanbul. Prost ging behutsam mit der Stadt um – er wollte die soziale Struktur der Viertel, ihr gewachsenes Bild erhalten. Das nennen wir heute „behutsame Stadterneuerung“. Allerdings wollte auch Prost Zeichen der Moderne setzen – ein solches sollte in Atatürks Auftrag der Taksim-Platz mitsamt Umgebung in Beyoğlu werden.
Der Platz verkörpert auf vielfältige Weise die Geschichte der modernen Türkei. Auf ihm steht das pompöse „Denkmal der Republik“ (1928). Er wird begrenzt vom Atatürk-Kulturzentrum (AKM) und dem Gezi-Park. Für viele ist er der „Platz des 1. Mai“. Am 1. Mai 1977 wurden auf ihm 34 Demonstranten getötet. Am Taksim beginnt die İstiklal Caddesi. Auf dieser menschenüberlaufenen Shoppingmeile tobte zum Junianfang dieses Jahres „choreografierte, extreme Polizeigewalt“ – inszeniert, um „nicht nur die Bürger, sondern auch die Weltmedien zu schocken“, meinte selbst DIE WELT. Gegen ein paar hundert Demonstranten, die Stadtmitte war vollständig abgeriegelt, waren 25.000 Polizisten im Einsatz. Das AKM ist eine Ikone der türkischen Moderne. Sein derzeit abschreckender baulicher Zustand hat auch damit zu tun, dass dieser multifunktionale Kulturkomplex für einen von den Kemalisten favorisierten „westlichen“ (Hoch-) Kulturbegriff steht. 2008 begann übrigens eine Asbestsanierung. Zeitgleich flammte eine bis heute nicht beendete Abriss-Debatte auf. Dass 2008 auch der Berliner Palast der Republik nach erfolgreicher Asbestsanierung endgültig das Zeitliche segnete, war Zufall. Nicht zufällig ist, dass solche Volkskulturhäuser konservativen Kräften aller Herren Länder im Magen liegen.
Die im AKM tätigen Künstler waren mit eigenen Akzenten an den Gezi-Protesten beteiligt. Die Regierung Erdoğan hatte im vergangenen Jahr eine Art „Kulturprivatisierungsgesetz“ auf den Weg gebracht. Der Ministerpräsident meinte, es sei an der Zeit, sich von der „Staatskunst“ zu verabschieden. Er möchte die Kunstförderung neu ordnen. In welche Richtung das geht, konnte man 2010 sehen. Istanbul war Kulturhauptstadt Europas. Von den dafür vorgesehenen 170 Millionen Euro flossen 70 Prozent in die Sanierung historischer Gebäude.
Auf Henri Prosts Planungen geht auch der Gezi-Park zurück. Seit 1806 stand auf dem Areal die Topçu-Kaserne. Die wurde 1921 zum Fußballstadion umgewandelt. Prost ließ die Kaserne abreißen und den kleinen Park anlegen. Der Stadtteil hat ansonsten nicht viel Grün. Zudem ist der Park eine der wenigen Zufluchtsflächen in der eng bebauten Stadt für den Erdbebenfall. Und mit dem „großen Beben“ rechnen hier alle. Eben dieser Park sollte ab 27. Mai 2013 fallen. Der Ministerpräsident will im Rahmen der „Taksim-Erneuerung“ – eine halbherzige Untertunnelung des Platzes ist bereits realisiert; die Fahrgäste des in den Tunnel verlegten viel genutzten Busknotenpunktes dürfen jetzt tagtäglich eine gehörige Dosis Abgase inhalieren – ein Shopping-Center errichten lassen. In der äußeren Hülle der von Atatürk abgerissenen osmanischen Topçu-Kaserne. Das ist Bauen mit Symbolwert.
Am selben Tag setzten spontan die Proteste ein. Im klassischen Sinne „politisch“ motiviert waren diese anfangs nicht. „Wir wollen uns nicht mehr vorschreiben lassen, wie wir zu leben haben“, sagte mir eine junge Protestiererin. Mit den Dimensionen, die das Ganze binnen weniger Tage annahm, hatte wohl anfangs niemand gerechnet. In der „Taksim-Solidarität“ („Taksim Dayanisma“) arbeiten derzeit 130 bis 140 verschiedene Gruppen zusammen: Von extrem links bis zu den „Grauen Wölfen“ ist offenbar alles irgendwie vertreten. Neben den berufsständischen Kammern engagieren sich Oppositionspolitiker, Künstler, Unternehmer, Studenten... Diese Vielfalt ist die Stärke der Bewegung, aber auch ihre Schwäche. Eine mit ihr kommunizierende starke politische Kraft mit sozialem Hintergrund fehlt. Versuche, aus „Gezi“ heraus eine Partei zu formen, sind bislang über Ansätze nicht hinausgekommen. Mücella Yapici formulierte im Gespräch zwei konsensuale Forderungen der Bewegung: Beendigung der „unrechtmäßigen Interventionen“ in den öffentlichen Raum (die Handschrift der Architektenkammer wird deutlich) und das weltweite Verbot des Einsatzes von Tränen- und Pfeffergas. Während der Gezi-Proteste kamen dadurch mindestens acht Menschen ums Leben; Yapici spricht von mittelbar bis zu 20 Opfern.
Auch wenn sich der Fokus der Kritik auf Ministerpräsident Erdoğan und die Stadtverwaltung unter Kadir Topbaş richtet, dass die Grundsuppe allen Übels in der neoliberalen Ausrichtung der türkischen Politik liegt, räumen auch Istanbuler Intellektuelle im Gespräch ein.
Die Zahlen machen das deutlich: Das Auswärtige Amt bewertet die türkische Wirtschaft als „robust“: „Sowohl das jährliche Haushaltsdefizit von aktuell 1,2 %/BIP wie auch die Gesamtschuldenquote von 36 %/BIP liegen deutlich unter der Maastricht-Schwelle. Beispielhaft ist auch der türkische Bankensektor, der mit einer durchschnittlichen Eigenkapitalquote von rund 16 % an der Spitze der OECD-Länder steht und im Unterschied zu anderen OECD-Ländern während der Krisen der letzten Jahre keinerlei staatlicher Unterstützung bedurfte.“ Bei einem Wirtschaftswachstum zwischen 3 und 4 Prozent im laufenden Jahr beträgt das Leistungsbilanzdefizit jedoch 7,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. 2013 standen Exporten in Höhe von 152 Milliarden US-Dollar Importe in Höhe von 252 Milliarden US-Dollar gegenüber. Das BIP wird zu 60 Prozent vom Dienstleistungssektor erarbeitet. Die Wachstumsraten gehen hauptsächlich auf die Binnennachfrage und erhebliche Bauinvestitionen in die Infrastruktur auch in Istanbul zurück.
Bis 2023 soll der „Kanal-Istanbul“ zwischen Silivri am Marmarameer und Karaburun – nicht der Badeort bei Izmir! – am Schwarzen Meer auf einer Länge bis zu 50 Kilometer ausgehoben werden. Mit 150 Meter Breite und einer Wassertiefe von 25 Metern wird er den überlasteten Bosporus vor allem vom gefährlichen Tanker-Verkehr befreien. Bereits 2018 soll ebenfalls bei Karaburun der neue Istanbuler Flughafen ans Netz gehen– mit 150 Millionen Fluggästen und sechs Landebahnen wird er der weltweit größte Airport sein. Der aus allen Nähten platzende Atatürk-Airport wird dann still gelegt. Bis 2023 werden zusätzlich 200 Kilometer Schienenstrecke für den Nahverkehr gebaut. Bereits 2019 will man den Anteil des staugeplagten Autoverkehrs von 80,2 Prozent an den täglichen Beförderungsleistungen auf 49,7 Prozent drücken (gleichzeitig wird ein Autotunnel unter dem Bosporus gebaut...). Nebenbei: Die dritte Bosporus-Brücke (sie dient der Autobahntrasse Edirne-Istanbul-Ankara und dem Hochgeschwindigkeitsbahnverkehr) wird Ende 2015 fertig sein.
Istanbul wird sich für die Olympischen Spiele 2024 bewerben, Berlin will dies auch. Wie das Rennen ausgeht? „Berlin patzt, Istanbul protzt“, titelte Thomas Bormann im Januar 2013 eine Reportage für den Deutschlandfunk.
All diese Projekte unterliegen einem erheblichen Privatisierungsdruck. Der hat nur oberflächlich mit der allgegenwärtigen Korruption zu tun. Der Kapitalbedarf des Landes ist enorm. Um ausländisches Kapital ins Land zu holen, wurden allein zwischen 2002 und 2013 126 staatliche Unternehmen, Häfen und Brücken für 35,5 Milliarden US-Dollar privatisiert. Da ist erst ein Anfang. Das zitierte Tarlabaşı-Projekt umfasst nur knapp fünf Prozent der Fläche des sanierungsbedürftigen Stadtteils. Ein noch größerer Happen ist das Gebiet innerhalb der byzantinischen Landmauer, die Altstadt Konstantinopels. Aufgrund der Erdbebengefahr (sic!) soll die komplett – natürlich denkmalgerecht – saniert werden. Die dort jetzt lebenden 1,35 Millionen Menschen müssen in einen neuen Stadtteil am „Kanal-Istanbul-Projekt“ ausweichen. Das Modell dafür: 2009 wurden die in Sulukule, einem der Altstadt benachbarten Stadtteil, lebenden Roma vertrieben, ihre Grundstücke anschließend zum Mehrfachen der ihnen gezahlten Entschädigungen verhökert. Die Gewinnraten waren beträchtlich. Bei uns nennt man das Gentrifizierung. Das steckt im Kern hinter den Gezi-Protesten. Die Bürger Istanbuls wollen sich ihre Stadt nicht länger nehmen lassen.

Der erste Teil erschien in DAS BLÄTTCHEN 13/2014.