Die Netzwerke der Ninjas

 

Die Aktivistin DRÍADE AGUIAR ist Guerilla-Reporterin. Zu Beginn der Fußballweltmeisterschaft sprach sie mit FIONA SARA SCHMIDT über die neue Qualität des gesellschaftlichen Protests in Brasilien.

 

an.schläge: Sie sind Mitglied der Gruppe „Mídia NINJA“, Guerilla-Reporter_innen, die seit rund einem Jahr über die Proteste in Brasilien informieren und mit einer App, dem Sender „PósTV“ sowie über soziale Netzwerke unabhängig berichten. Wie sieht die Arbeit konkret aus?

Dríade Aguiar: Ich war von Anfang an dabei und komme von „Fora do Eixo“, einem Netzwerk von Kollektiven, einer sozialen Bewegung, die in Brasilien zu Kultur und Kommunikation arbeitet. Ich wohne mit rund zwanzig anderen in einem Kollektiv in Rio und habe auch schon in Brasilia, São Paulo und Cuiabá gelebt. Gemeinschaft bedeutet für uns ein gemeinsames Verständnis dafür zu haben, was Ninja ist, eine tiefe Verbundenheit untereinander. Ninja arbeitet mit verschiedenen Partner_innen für gesellschaftliche Veränderung, vermittelt diese Prozesse und beobachtet, was alles in Brasilien passiert. Wir sind in dreihundert Städten verortet, in den Gemeinschaften wird zu den Themen Erziehung, Politik, Literatur, Film und unabhängige Festivals gearbeitet. Das Kommunenleben verändert die Definition von Arbeit, Aktivismus und Privatleben, wir leben rund um die Uhr zusammen, autonom und in solidarischer Ökonomie.

Was ist seit den Protesten rund um den Confederations Cup letztes Jahr passiert, als Hunderttausende auf die Straße gingen, um gegen die korrupte Politik und für bessere Versorgung und Lebensbedingungen zu demonstrieren?

Es ist wahnsinnig viel los, an ganz unterschiedlichen Fronten. Jetzt geht es vor allem darum, die Grundversorgung für alle zu verbessern: öffentlicher Raum, Recht auf Wohnraum, medizinische Versorgung und Bildung.
Wir haben seit zwölf Jahren eine sozialdemokratische Regierung, die die Menschen ermutigt, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Die Leute begreifen, dass politische Entscheidungen Auswirkungen auf ihr persönliches Leben haben – nicht nur durch die Teilnahme an Wahlen, sondern auch, indem sie selbst für ihre Rechte eintreten. Das begann schon lange vor der Fußballweltmeisterschaft, in São Paulo zum Beispiel wurden Büros und Regierungsgebäude besetzt. Früher war der öffentliche Raum nur dazu da, um von A nach B zu kommen, jetzt holen sich die Leute öffentliche Plätze zurück, mit Demonstrationen bis hin zum Straßenkarneval. Das geschieht in zahlreichen Städten, Millionen Menschen gingen immer wieder auf die Straße. 

Welche Rolle hat Staatspräsidentin Dilma Roussef, die wie ihr Vorgänger Lula da Silva Mitglied der linken Partido dos Trabalhadores ist und in den 1970er Jahren dem Widerstand gegen die Militärregierung angehörte? 

Die gegenwärtige Regierung ist offen und volksnah. Dilma gibt ihr Bestes, um mit den sozialen Bewegungen in einen Dialog zu treten, genau wie Lula es tat. Die Probleme liegen viel tiefer, als dass man sie an ihrer Person festmachen könnte, der Aktivismus richtet sich nicht gegen die Präsidentin und ihre Partei, sondern stellt das gesamte politische System Brasiliens infrage. Politik, wie wir sie kennen, steht vor einer Zerreißprobe. Dilma hat jetzt die Chance, offen auf die sozialen Bewegungen zuzugehen und die Menschen einzubinden. Die Wahlen im Oktober werden die demokratische Kultur stärken, weil alle Parteien Vorschläge liefern müssen, wie die politische Kultur verbessert und die Forderungen des Volkes berücksichtigt werden können. Ich glaube nicht, dass die rechten Parteien eine Chance haben, weil das Volk weniger Partizipation nicht akzeptieren wird. 

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Foto: Mídia Ninja

Wie sieht feministischer Aktivismus in Brasilien aus?

Es gibt spezielle Frauenproteste wie etwa Lesbendemos, den World Women Walk und Slutwalks, aber viele Pro-bleme sind nicht frauenspezifisch. Wir müssen herausfinden, wie Frauen die Proteste für sich nutzen können, wie unsere Sichtweisen in den Widerstand getragen werden. Zum Beispiel ist Sicherheit für alle ein großes Problem, aber wir Frauen werden auf der Straße häufiger überfallen, und Schwarze Frauen öfter als weiße. Wir müssen unsere Rolle in der Revolution ernst nehmen und das tun wir bei Debatten, Streiks und Demonstrationen. 
Wir sprechen jetzt offener darüber, wie unterschiedlich wir alle sind. Der Konflikt ist alt, aber jetzt gibt es mehr Berichterstattung über diese Bewegungen. Zum Beispiel gibt es sehr viele Impulse aus den Favelas, wo sich Menschen gegen Morde an unserer jungen Schwarzen Bevölkerung erheben. Auch Frauen kämpfen gegen die verbreitete Meinung, es sei die Aufgabe von Polizisten, die „bad guys“ umzubringen.

Ninja nutzt in erster Linie Bürger_innenjournalismus und soziale Netzwerke für die Berichterstattung. Welche neuen Protestformen ergeben sich daraus, was hat sich schon verändert? 

Wir haben in Brasilien eine lange Geschichte von gesellschaftlichem Protest. Manche engagieren sich zum Beispiel in Gewerkschaften, jetzt finden alle zusammen, wir haben gemeinsam eine neue Stufe erreicht. Ich bin eine 23-jährige Schwarze Frau aus einer Kleinstadt, die Arbeit mit Fora do Eixo und Ninja hat mich sehr empowert. Ich verstehe jetzt, dass meine persönlichen Probleme kollektiver und öffentlicher Natur sind. Wir kämpfen auch gegen Schönheitsideale, wie wir mit Körpern umgehen, ist sehr wirkmächtig. In Brasilien sind immer weniger Frauen feministisch aktiv, weil sie auf Klischees hereinfallen. Selbst Frauen, die für Frauenrechte kämpfen, behaupten, sie seien keine Feministinnen! Ich vermute, weil sie nicht mit den Vorurteilen zum äußeren Erscheinungsbild von Feministinnen konfrontiert sein wollen, die es immer noch gibt. 

Wie können die Sichtbarkeit von Frauen bei Protesten erhöht und Frauenrechte gestärkt werden? 

Mit Ninja ermutigen wir neue Leute und vor allem Mädchen, ihre Forderungen durchzusetzen. Durch den Medienaktivismus setzen sie Probleme wie Rassismus, Sexismus, Homophobie und Prostitution auf die Tagesordnung. Frauen sorgen für Livestreams von den Straßen oder gestalten unsere Online-Inhalte.
Bewegungen müssen sich fragen, wie sie vorgehen wollen. Wir sollten Frauen nicht in exponierte Positionen bringen, weil es erwartet wird, ohne uns Gedanken darüber zu machen, welche Konsequenzen das für sie hat. Wir sollten uns fragen, wie wir uns gegenseitig ermutigen und bestärken können. Ich glaube, die Frauenbewegung in Brasilien leistet in diesem Bereich einen gewaltigen Beitrag, und es liegt an uns, sie zu unterstützen.

 

Dríade Priscila Faria Aguiar ist eine der Organisatorinnen des Kommunikationsnetzwerks „Fora do Eixo“ in Brasilien und leitet den Bereich Social Media. Neben ihrer Arbeit bei Mídia NINJA engagiert sie sich bei ELLA (Latin American Meeting of Women) und organisiert Festivals. Anfang Juni war sie auf Einladung von maiz, dem autonomen Zentrum für Migrantinnen, in Wien und Linz zu Gast.

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