Mit dem Strom, ihm entgegen?

Michael T. Grevens Triumph über »Systemoppositionelle«

»Gerechtigkeit […] lässt sich aus der ursprünglichen revolutionären Perspektive
nur noch innerhalb des kapitalistischen Systems […] anstreben
und verwirklichen. Der revolutionäre Traum ihrer Verwirklichung durch
menschliche Praxis […] ist geschichtlich ausgeträumt.« (Greven, 282)

»Das Ziel des Kommunismus von F. Engels und K. Marx war […] eine
klassische Assoziation und Kooperation […] freier und solidarischer Individuen
[…]. Niemand kann defi nitiv wissen, ob eine solche Assoziation
jemals realisiert wird. Vielen ist nach wie vor allein der Gedanke an eine
solche Assoziation ohne Hierarchie, Oben und Unten, Besser- und Schlechtergestellte,
widerwärtig und verhasst. Andere werden ihn als weltfremdeTräumerei abtun« (Schäfer 2006, 56f).

 

Michael Greven starb kurz nach seiner Emeritierung.1 Die Nachricht überraschte jedenfalls diejenigen, die wie ich keine Verbindung mehr zu ihm hatten.2 Zeitweise Vorstandsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie war er mir gut bekannt, auch als von mir begutachteter jüngerer Kollege, bevor er, sein personfüllender Stolz, aufgrund einer Einerliste an die Uni Hamburg berufen wurde. Was sich zuvor anbahnte, brach 1999 durch. Greven befürwortete den NATO- und zugleich ersten vollen bundesdeutschen Krieg nach 1945. Er tat dies in der Sache persönlich und in der Form illoyal. Seine Rationalisierung geschah mit Hilfe der immer schon analyse-, also auch moralschwachen weberschen Dichotomie: »Gesinnungsethik«, närrisch, versteht sich, »Verantwortungsethik«, grevenisch. Letztgenannte legitimiert von Staatszäunen gebrochene Kriege, »verantwortlich« und beifallumbrandet.

Ich (und andere) verführen nach Grevens Tod falsch, verhielten wir uns nach der Devise: de mortuis nihil nisi bene. Vielmehr erhalten wir ihn uns solange als lebendigen, wenngleich auf einer anderen Seite platzierten Partner, als wir uns kritisch mit seiner hinterlassenen ›Systemgewissheit‹ auseinandersetzen. Versuchsweise wollte er jedenfalls das spielen, was man einen »öffentlichen Intellektuellen« nennt, dem Stand und Gang auf Kothurnen behagt. Was Greven mit diesem Buch dogmatisch repräsentieren will, pfeifen die Spatzen allerdings von den futternahen Dächern:

– Zur kapitalistischen Ökonomie und ihrem möglichst westgestirnten liberalen Wertehimmel samt staatlicher Herrschaftsvarianten gib es keine Alternative. Dieses Dogma schlägt in seiner globalen Reichweite alle Totalitarismen der Vergangenheit. Der andere, sozusagen postmoderne Totalitarismus, tritt freilich als Ideologie mit fast perfekter Tarnkappe auf. Die allgemeinen Verlautbarungen sind so weit in die profillose Sprache und das Gemenge von (herrschender) Wirklichkeit und Verstellung gerutscht, dass sie als Ideologeme nicht mehr wahrgenommen werden.

– »Utopien« sind spätestens nach dem 20. Jahrhundert, also mit dem Kollaps der Sowjetunion und ihrer Trabanten, dem Greisentod erlegen. Insofern west ein Ende der Geschichte. So hat es auch der Erfinder, Fukujama, verstanden. Er war unverändert auf den Kalten Krieg fixiert. Dass utopisches Denken und an ihm orientiertes Handeln seit Menschengedenken zum Denken von Menschen hinzugehört, scheint kapitalistisch aufgehoben. Die globale kapitalistische Wirksamkeit erklärt sich, weil sie das erfüllende Glück des unmittelbaren Augenblicks vorgaukelt. In diesem Sinne beseitigt sie die »Ontologie des Noch-Nicht-Seins«3.

– Die von Greven geliebte, zum Bestandteil seines losen Politikbegriffs gemachte, erst neuerlich inmitten des qualitätsabstrakten Systemdenkens flügge abgehobene Behauptung permanent gegebener Kontingenz stimmt mit der Emphase kapitalistischer Banalität überein.

– Diese Makrobehauptungen der allgemeinen Modi gesellschaftlicher Wirklichkeit schießen zusammen in dem, was man eine Systemaffirmation nennen könnte. Ihr erstaunliches und zugleich typisches Kennzeichen: sie bedarf keiner Ideologeme mehr. Wir bestätigen sie sozusagen alle, indem wir in diesem System leben. Deswegen kann es nicht verwundern – obwohl darum eine zusätzliche Irritation meine Lektüre begleitete –, dass Greven nirgendwo beschreibt, was ›sein‹ System ausmacht und warum es festgemauert in der Erden aus ewigem Kapital neu und neu – »kontingent« – ›gebrannt‹ wird. Das System ist, und indem es ist, ist es nicht zu begründen. Es ist allenfalls negativ zu legitimieren, indem abstrakt – »Systemopposition « – lächerlich gemacht wird.

Wie wird das »System«-ohne-Alternativen begründet? Was hatte Greven vor, als er eine konturenarme Gruppe von schreibenden und agierenden Autorinnen und Autoren, der schließlich als irrelevant, ja als unmöglich qualifizierten »Systemopposition« zu- und zerschlug? Er zitiert zum Teil ausführlich, bewertet punktuell und meist äußerlich; er analysiert jedoch nicht einmal Tun und Treiben Rudi Dutschkes. Ihm widmete er immerhin ein gesondertes Kapitel. Auf ihn kommt er oftmals zurück. Warum ein solcher belegebespickter Schinken, wenn nicht einmal versucht wird, die alles andere als homogene Gruppe im Kontext der Studentenbewegung und der BRD zu situieren, sie kurz- und mittelfristig in ihren Wirkungen und Nicht-Wirkungen auszumachen? Im statistischen Deutsch gesprochen: Validität wird pauschal vorausgesetzt. Dadurch wird zusätzlich die Verlässlichkeit der Zitate (»reliability«) au fond sumpfig.

 

Das Greven-Verfahren

Ohne seine Kriterien zu nennen, werden zur »Systemopposition« Einzelne promoviert, die allenfalls rar als Gruppe handelten und als solche, additiv, der »Studentenbewegung« bzw. den »68ern« zugerechnet werden. Seltsam übrigens, dass dem auf »Ideen« fixierten Greven das Interesse an der Politischen Soziologie, der schaffenden und zerstörenden Kraft von Kollektiverscheinungen abzugehen scheint, obwohl der antisystemische Rammbock sein Thema konstituiert. Antisystemisch wird (bis auf den Epilog) verengt zum nicht nur Außer-, vielmehr zum Antiparlamentarischen, wie in politikwissenschaftlich gewebte Windeln gewickelt. Hier wird eine neue Lücke früh kenntlich. Wie beim als globaler Demiurg gehandelten Kapitalismus wird die systemisch geadelte, nicht explizit zugeordnete repräsentative Demokratie als selbstverständliches normatives politisches System oder Staat apostrophiert.

Grevens Darstellung wirkt mitsamt ihrem Urteilsstreusel infolge ihrer Lücken wie eine in akademischen Leerläufen nicht seltene Form des gegenwärtig lärmend verkannten Plagiats. Er zitiert fleißig, wenngleich ohne Balance. Die Quellenangaben dürften stimmen. Ich habe sie nicht kontrolliert. Indem er aber den genetischen Grund, den Kontext des bundesdeutschen Nachnationalsozialismus und Nachkriegssystems ausspart, den ideologischen, in jeder Fuge sitzenden Antikommunismus, die Ordinarienuniversität, die polizeiliche Repression alles nicht wiederaufbauend restaurativ Frisierten, die weit über repressive Toleranz hinaus massiv marginalisierte4, erschleicht er sein Generalurteil: »Systemopposition«. Er tunkt es in die Tinte etablierten Ressentiments. Was wäre schon in einer sich freiheitlich-demokratisch plusternden Gesellschaft, an der ›Systemgrenze‹ zwischen Freiheit und totalitärer Diktatur, an einer »Systemopposition« auszusetzen? Grevens Buch gleicht bestenfalls einer »systemoppositionellen« Fluss-, keiner Flussverlaufsbeschreibung. Sie sieht vom Flussbett und den geographisch-geologischen Bedingungen des Flussverlaufs ab.

 

Das Greven-›System‹

Zehn Probiersteine, argumentativ locker aneinandergereiht, systemoppositionell verbunden, harren der Lesenden. Mit der »Einleitung. Systemopposition« hebt’s an. Sie verwundert ob ihrer Begriffsstutzigkeit, wird jedoch durch ein Thesenragout schmackhaft.

Der Beginn dieses ›roten Jahrzehnts‹ in den Jahren 1967/68 […] bildet für meine Untersuchung die hintere zeitliche Grenze. Dabei hoffe ich eines deutlich machen zu können: der nachträglich oft entstandene Eindruck eines ›Zerfalls‹ oder einer ›Aufsplitterung‹ der ›68er-Bewegung‹ ist so falsch wie die Überraschung über die antiliberalen und antidemokratischen, oft totalitären Bestrebungen einiger in dieser Phase gegründeten politischen Organisationen. Das hier ausgebreitete Material ist geeignet zu zeigen, dass dieses radikale systemoppositionelle Denken […] nicht einem ›Zerfall‹ nach 1968, sondern während der ganzen sechziger Jahre einer steten Radikalisierung bei einem Teil der Protagonisten der verschiedenen Protestbewegungen geschuldet war. (13)

Die emphatische Vagheit dauert an. Die wie unaufhörliche »Radikalisierung« findet später einen ungebundenen Strauß von Namen, entbehrt aber eines Wurzelgrunds. »In der deutschen Literatur hat sich diese Hypostasierung eines Kollektivsubjekts«, grevenisch-fragmentarisch fortgesetzt und marginalisiert, »in den nachträglich konstruierten Topoi ›1968‹ und den ›68ern‹ verfestigt. Oft erscheint es in der Literatur dann so, als meinten damals mit den gängigen Formeln wie ›wahrer Demokratie‹, ›gesellschaftliche Gleichheit‹, individueller wie kollektiver ›Emanzipation‹, ›Selbstbestimmung‹, ›nicht entfremdetes Leben‹ oder ›versöhnter Gesellschaft‹ alle dasselbe.« (15) Damit könne sich eine »an der Rekonstruktion […] bewusster Systemopposition« interessierte Untersuchung freilich »nicht zufrieden geben«; sie müsse »die nachträgliche Verwischung der damals bestehenden Unterschiede im politischen Bewusstsein herausarbeiten« (ebd.).

Das I. Kapitel, »›APO‹, ›1968‹, und die ›68er‹ als Mythen der Erinnerungskultur«, setzt Grevens Eroberung schon eroberter Gemeinplätze fort. Es habe keinen einheitlichen Akteur gegeben, vielmehr eine »unspektakulär ›systemimmanent‹ operierende Mehrheit« und eine »radikalste« Minderheit (pardon für den sprachdummen und zugleich verräterischen Superlativ). Diese schlüpft unter der die Schale aufpickenden Hilfe Johannes Agnolis endlich aus dem Ei. Es gehe um

jene systemoppositionellen Positionen, die offenkundig […] darauf ausgingen, dass gerade das ›parlamentarische System‹, oder gleichgesetzt damit die ›repräsentative Demokratie‹, oder schließlich – in der radikalsten anarchistischen Version – die Verselbstständigung eines politischen Systems in Form des Staates oder der etatistischen Demokratie das entscheidende Hindernis auf dem angestrebten Weg zur endgültigen ›Emanzipation‹ des Menschen seien und daraus den Schluss zogen, dass eine Strategie der ›Befreiung‹ des Menschen keineswegs innerhalb, sondern nur gegen den bestehenden institutionellen Rahmen der repräsentativen Demokratie Erfolg haben könnte. In diesem Spektrum wurde bereits jede Mitwirkung, etwa in etablierten politischen Parteien oder bei Wahlen, deren Ziel nicht unmittelbar instrumentell auf ›Systemüberwindung‹ angelegt war, unter den Verdacht der ›Integration‹ oder gar ›Verschleierung‹ der Herrschaftsverhältnisse gestellt und der normative Eigenwert der bestehenden demokratischen Institutionen des Grundgesetzes grundsätzlich verkannt oder gar lächerlich gemacht. (53)

Hier bellt der Pudel aus seinem Kern. Die folgenden Kapitel quellen über von Zitaten, auch Aspekten, mit denen es sich auseinanderzusetzen lohnte, indem man Grevens magersüchtige Darstellung materialistisch transzendierte. II. über die »neue Revolution«, III. zu Rudi Dutschkes »politischer Anthropologie«, IV. zur »Öffentlichkeit« und »Privatheit«, V. zur »Masse«, VI. zur Demokratiekritik, VII. zum antiimperialistischen Kampf, VIII. über die »verspätete Politisierung der Frauenemanzipation«. Der »Epilog« stellt die immer schon beantwortete, aber nicht analytisch das Material durchdringende Frage: »Ist Systemopposition noch möglich?« Mit all der bundesrepublikanisch satten Chuzpe, mit systemoppositionellem Gerinsel, das mit »68« etikettiert wurde5, mit menschengeschichtlich alten und immergrünen Hoch- und Weitsprüngen über die eigenen aktuellen Möglichkeiten hinaus, sei es endlich zu Ende. Sind wir nicht alle, wir europäisch angelsächsisch mittelklassig Bornierten, frohgemute incurvati und incurvatae eines kapitalistisch rotierenden, in- und exkludierenden Weltzirkels?

Wir wissen, du und ich, dein Mann und unsere ganze Generation«, schrieb die 2012 verstorbene Cordelia Edvardson an ihre Schwester Theresa, »wir wissen Bescheid, aber wir sind auf ungleiche und gleiche Weise in der Gewalt der Vergangenheit. Wir zappeln in diesem klebrigen Spinnennetz, denn ein ordentlicher Hausputz hat nicht stattgefunden. Die schwarzen Giftspinnen lauern in ihren Höhlen, und ihr Biss lähmt die Opfer. Du, meine kleine Schwester, dein Mann und so viele eurer Generation, auch ihr seid zu Opfern geworden, ihr gehört zu einer gelähmten und verlorenen Generation. O ja, ich weiß, ihr hattet und habt eure Aufstände, jedoch gegen die falschen Dinge und am falschen Ort. Nach außen, gegen die Väter, habt ihr revoltiert, doch das Erbe, das ihr in euch tragt, habt ihr nicht sehen, ihm euch nicht stellen wollen. Die blinde, häufig gewalttätige Aggression der Revolte entlarvt eure innere Unsicherheit und Unfreiheit. Ihr wollt eine neue und bessere Gesellschaft errichten, die frei ist von der Menschenverachtung des Kapitalismus, frei von dem Wahnsinn des Wettrüstens und der Zerstörung unserer Erde durch Gifte. Sehr gut, sehr lobenswert, doch ihr baut auf Sand oder vielmehr auf Ruinen, unter denen die Gebeine der Toten liegen und nach Geständnis und Buße schreien – ehe von Wiederaufbau und vielleicht Versöhnung die Rede sein kann. (1989, 26)

Dass von Grevens Botschaft so wenig bleibt, seinem Fleiß und seiner Anstrengung zum Trotz, hat mit Distanzmangel zu tun. Dieser lässt Greven zu einem Vertreter der Mehrheit der Sozialwissenschaften im Allgemeinen, der so geliebten und viel berufenen Politikwissenschaft im Besonderen werden. Er ist im Laufe der Geschichte von Soziologie und nahen Fächern früh aufgetreten (vgl. Adorno 2011).

Er bezeichnet das Grundproblem und die Hauptgefahr der Sozialwissenschaften. An einem ihrer größten, an Max Weber, ließe sich die folgenreiche intellektuelle Ambivalenz samt ihren blockierenden Folgen trefflich belegen. Alvin Gouldner hat an einem ›Modernisierungspapst‹ der 1950er und 1960er Jahre dargelegt, der weitgehend verfehlt Weber US-amerikanisch rezipierte, welche Folgen ein Mangel an Distanz beim Fachvertreter Parsons hatte.6

Bei Greven, in diesem Sinne ein politikwissenschaftlicher Mustervertreter, äußert sich der Mangel zunächst darin, dass er wie selbstverständlich von der liberaldemokratisch verfassten Herrschaft und ihren ›Werten‹ ausgeht. Er bewegt sich auf dem Fundament des herrschenden Commonsenses. So kommt es, dass das, was er »Systemopposition« nennt, ungeheuer erscheint, wie ein Fass ohne Boden. Das machte übrigens auch den bundesdeutschen Freund-Feind-Begriff aus, jenseits Carl Schmitts geradezu postmodernem Staatsbezug. Der kommunistische Feind – wie seither alle Ersatzfeinde –, das mixtum compositum aus alltäglichen Gewohnheiten und normativen Orientierungen, so sehr sie aufgeherrscht worden sind, schien alles vor- oder untermenschlich Abscheuliche zu repräsentieren. Zugleich versteht es sich geradezu von selbst, dass das zu eigenem Fleisch und Habitus gewordene »System« das einzig vorstellbare ist.7 Daher auch keine Demokratie außer der repräsentativ genannten mit fetischartiger »Ewigkeitsklausel« (vgl. Art. 79 Abs.3 GG)! Dogmatismus und bestenfalls repressive Toleranz sind die Folge. Dabei machte es doch die Funktion einer eigenen Wissenschaft von der Politik aus, dass sie im Zeichen allein der Verschiebung der Größenordnungen, der Zeit- und Raumverhältnisse, auch dem ökonomischen Imperialismus mitten und jenseits territorialer Herrschaft, drängende Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen von Repräsentation, nach den bleibenden Resten der Gewaltenteilung, den nicht übersehbaren Defiziten von Wahlen usw., usf. stellte und beantwortete – wenigstens im Sinne einer zeitgenössischen »Schule der Möglichkeiten« (Sören Kierkegaard).

Im Dutschke-Kapitel wird von dessen »politischer Anthropologie« gehandelt. Dass man eine solche, altertümlich gesprochen ein »Menschenbild« habe, scheint für Greven so selbstverständlich, wie man in seiner »Demokratie« wählt. Kein Gedanke daran, wie man ein solches »Menschen«- und Gesellschafts-»Bild« im Kontext der Geschichte entwickelt und mit ihm in dialektischer Kritik arbeitet. Stattdessen wird, erneut wie selbstverständlich, der angebliche Schöpfer des herrschaftsfrei gleichen Menschenmaßes, Rousseau, wie sein junger, von Marx zusätzlich informierter Fortsetzer, Rudi Dutschke, einer verhimmelten Vorstellung geziehen. Ebenso selbstverständlich wird die »besitzindividualistisch« abstrakt-allgemeine Konstruktion des Thomas Hobbes zugrundegelegt8, die die Zwangssynthesis des staatlichen Leviathan und seine albträumerischen Sicherheitsgeburten erforderlich macht. Kein Ende systemaffirmativer Prämissen. Der Vietnamkrieg wird wie eine Nebensache abgetan. Die Demonstrationen und die Entdeckung der kolonialen Schuld des freien Westens bleiben unverstanden. Nur das tabuisierende Etikett »systemoppositionell« wird erhalten.

Nicht nur den Abgrund der Gegenwart, darauf verweist Cordelia Edvardson, insbesondere der deutsche Schatten bleibt vor Grevens wohl möblierten professoralen Räumen. Ungleichheit sei ohnehin eine nebensächliche Kategorie. Auch bereits heraufziehende Katastrophen werden nicht einmal angeblendet. Trotzdem tut der Autor so, als habe er, sozialwissenschaftlich-methodisch gesprochen, am Exempel der bundesdeutschen studentischen Linken der 60er Jahre samt beliebig ausfranzendem Umhof so etwas wie eine Fallanalyse vorgelegt. Nur eine solche hätte ihm ansatzweise erlaubt, sein systemoppositionelles Potpourri, kantisch ausgedrückt, mit dem Gemeinspruch zu überwölben, das, was die ›unartigen‹ 68er gesagt und getan hätten, zeige in seinem Scheitern generell das unvermeidliche Scheitern all derer, die wider den Herrschaftsstachel löckten. Kurz, Greven hat einen perversen Käfer geschaffen, um kategorisch zu behaupten, Käfer mit Flügeln seien nicht mehr möglich. Tatsächlich gilt der alte Satz: »Heute gilt für Morgen: Die Devise, sich zu orientieren und zu handeln, leuchtet und nachtet mehr denn je: Anarchischer Sozialismus oder Barbarei.«9

 

Die grevensche Methode, die »fast unlösbare Aufgabe« (Adorno) zu lösen

»Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt
scheint […]. Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt
ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie
sie einmal als bedürftig und entstellt im messianischen Lichte daliegen
wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen
heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem
Denken an. […] Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein
sich abdichtet um des Unbedingten willen, umso bewusstloser, und damit
verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit
muss er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung,
die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder
Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.« (Adorno, Minima
Moralia, Aph. 153)

Die bedenklichste Botschaft des botschaftslosen Buches erwächst aus seiner Phantasielosigkeit. Greven begreift nicht den Sinn, die Not und die Notwendigkeit von Systemopposition. Sie bestehen in begründeten Ängsten. Blendet man nicht sich selbst oder wird täglich im Strom des ›Goodspeak‹ mit korrespondierenden Sehnsüchten blind gemacht, dann erwachen und wachsen sie täglich, nächtlich im weltweit flackernden Ereignishaufen. Dafür bedarf es fast keiner Vorstellungskräfte, wie sie nach Kierkegaard in der »Schule der Möglichkeiten« gelehrt und gelernt werden. Vielmehr, diese täglichen Gymnastiken der Einbildungskraft10 machen es möglich und fordern es zugleich, sich nicht in der Hektik der Ereignisse als minimaler Ereignissplitter zu verlieren. Sie erlauben es stattdessen, die täglichen Katastrophen leidenschaftlich nüchtern wahrzunehmen und zugleich handelnd zu übersetzen.

Dann aber hellt der Tag, der in allen Menschen aufgeht, werden sie nicht seit ihrem ersten Schrei, ja noch in demselben unmündig gemacht: sie wollen leben! Und sie wollen besser leben als im schlingernden Dschungel von Gewalt und gewaltproduzierenden Ungleichheiten. Ja, der von den meisten Goldlöffelessern verabscheute, gewiss nicht widerlegte Rousseau hat recht: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.« Das aber bedeutet zum einen, dass die Kritik der politischen Ökonomie, Soziologie und Politik, gegen das Ungleichheits- und Herrschaftstandem gerichtet, die Daueraufgabe derjenigen darstellt, die den »Mut haben, sich ihres Verstandes zu bedienen«. Und dieses humane Privileg ist zu verallgemeinern. Zum anderen kommt es darauf an, Konzepte zu entwickeln und in Praktiken zu schwitzen, Organisationsformen zu finden, zu erfinden und zu versuchen, die die Menschen untereinander gleich in ihrer Ungleichheit werden und sein lassen. Nach Ernst Blochs wundersam einfachem, aber nicht einfach zu machendem Leitsatz: »Ich bin, aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst.«

Die Antiquiertheit des Menschen, von der technologiekritisch Günther Anders vor Jahrzehnten handelte, wäre zum Zustand, zur Menschenstarre geworden, wenn nicht unablässig überall trotz aller Schwierigkeiten und Unwahrscheinlichkeiten versucht würde, ›nein‹ zu sagen. Klaus Heinrich hat vor Jahrzehnten darüber gehandelt. Zu der »Schwierigkeit, nein zu sagen«, gehört, als Teil ihrer selbst, die Schwierigkeit (und Unabdingbarheit), ja zu sagen. Hoffen und nüchtern zu analysieren sind zweierlei. Analysieren heißt u.a. materielle Gegebenheiten und Bedingungen mit angenommener ›Dynamik‹ und unter expliziter Perspektive auf den ›Punkt‹ zu bringen. Hierbei sind die Stufen der Abstraktion und die Verluste an konkreten Besonderheiten jeweils mit zu kalkulieren. Ein weites Feld. Indes sind utopische, also noch nicht mit sozialen Orten/Wirklichkeiten versehene Orientierungen ebenso geboten. Die Möglichkeit der Kritik hebt damit an. Die Möglichkeit zu lernen, Änderungen bewusst und wiederum lernend in Gang zu setzen, folgt. Auf ihr bauen weitere politisch in ihrem Interessenkalkül und ihren Chancen möglichst durchsichtige Schritte auf. Mit Ludwig von Eichendorff religiös in säkularer Absicht geredet: wer hielte den Jammer der täglichen Verelendungen und Verfehlungen aus, bestünde nicht die Chance humaner Rationalität samt begleitender Kritik. Die letztgenannte aber lebt von ›größeren Würfen‹.

Ist das Resignationsprodukt repräsentativer Demokratie mitsamt ihrem kapitalistischen Fundament gut zwei Jahrhunderte nach ihrer angelsächsischen Erfindung das ›Glück‹ der Erdenbürger im 21. Jahrhundert? Ist sie nicht längst eine »managed democracy« im Spektrum eines umgedrehten Totalitarismus geworden (vgl. Wolin 2008)?

 

Literatur

Adorno, Philosophie und Soziologie (1960, Vorlesungen Bd. 6), hgg. v. Dirk Braunstein, Berlin 2011
Bachrach, Peter, u. Morton Baratz, »Decisions, Nondecisions«, in: diess., Power and Poverty: Theory and Practice, New York 1970
Blanke, Bernhard, »Die 1960er: APO, Stasi, RAF und ›mein Sozialismus‹«, in: Das Argument 294, 53. Jg., 2011, H. 5, 745-52
Bloch, Ernst, Philosophische Grundfragen I. Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, Frankfurt/M 1961
Edvardson, Cordelia, Die Welt zusammenfügen, München-Wien 1989
Gouldner, Alvin W., The Coming Crisis of Western Sociology, New York 1970
Kierkegaard, Søren, Der Begriff der Angst, übers. v. Liselotte Richter, Hamburg 1960
Mills, C. Wright, Sociological Imagination, New York 1959
Müller, Klaus, Allgemeine Systemtheorie. Geschichte, Methodologie und sozialwissenschaftliche Heuristik eines Wissenschaftsprogramms, Opladen 1996
Negt, Oskar, Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995
Schäfer, Gert, »Leitlinien stabilitätskonformen Verhaltens«, in: ders., Gegen den Strom. Politische Wissenschaft als Kritik, Hannover 2006
ders. u. Carl Nedelmann (Hg.), Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, München 1967, 238-56
Wolin, Sheldon S., Democracy Incorporated. Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism, Princeton-Oxford 2008

 

 

1 An die alte, immer neu zu schwimmende Frage, für solche, die nicht von vornherein unter Wasser gehalten oder ersäuft werden – beides für viele Flüchtlinge bis Lampedusa die Regel –, hat mich Gert Schäfers nachgelassenes Buch erinnert (2006).
2 Michael Th. Greven, Systemopposition. Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre, Opladen u.a. 2012. Hinfort werden Zitate aus diesem Buch durch einfache Seitenangaben in Klammern nachgewiesen.
3 Wer den Vortrag Ernst Blochs (1961) anlässlich der Tübinger Germanistentage 1960 gehört hat (oder ihn enthusiastisch nachzulesen vermag), bleibt ein Leben lang auf dem Weg des Noch-Nicht zum Noch-Nicht-Sein.
4 Siehe Schäfer/Nedelmann 1967; darin u.a. Gert Schäfer, »Leitlinien stabilitätskonformen Verhaltens«, 238-56.
5 Vgl. dagegen in extenso Oskar Negt, der bei Greven unzureichend und schlecht weg kommt (Göttingen 1995). Wenngleich sich beide, modisch metaphorisiert, nicht auf gleicher analytischer Augenhöhe befinden, lohnte es angesichts der immer erneuten Verkennungen nicht zuletzt ›Ehemaliger‹ oder ehemals mimender Genossen Negt mit Greven, ungleich mehr Greven mit Negt kritisch zu messen. Und das wäre nur Material entwickelnd sinnvoll. Nicht um einer kleinlichen, biographisch-psychologischen Relativierung willen, sondern um der humanen Maße der »Systemopposition« willen, ist es auch hilfreich, Bernhard Blankes (2011) und vieler ähnlicher, sich kreuzender Erzählungen phantasievoll zu folgen, unbeschadet mancher Rationalisierungen.
6 Vgl. Alvin W. Gouldner (1959) und C. Wright Mills (1959). Bitte nicht die deutsche Übersetzung benutzen, deren Gräulichkeit, schon dem Motorradfahrer Mills unangemessen, mit dem Titel anhebt. Statt Imagination heißt es »Denkweise«.
7 Vgl. Müller 1996. Er hebt zurecht mit Helga Nowotny u.a. den blinden Fleck der Systemtheorie in fast allen ihren Varianten hervor. Er »lag in einer unzureichenden Reflexion auf die sich gleichzeitig vollziehende ›Inkorporation einer sich ursprünglich unpolitisch verstehenden Wissenschaft in das Machtgeflecht der Gesellschaft, in dem es keinen Anspruch mehr auf Immunität geben kann‹« (359, Zitat im Zitat: Nowotny).
8 Vgl. hingegen die Fülle verschütteter politikwissenschaftlicher Einsichten im Umkreis nicht zuletzt der US-amerikanisch moderierten »Systemopposition« der 60er und 70er Jahre, Anti-Vietnam stimuliert, ist Legion. Vgl. zur wichtigen Einsicht in die verborgenen Entscheidungen oder Selbstverständlichkeiten Peter Bachrach u. Morton Baratz 1970.
9 Es wäre eine Aufgabe sondersgleichen, das in der Regel Rosa Luxemburg zugeschriebene, m.W. von Friedrich Engels stammende Diktum, das ich mit Rosas nachträglicher Erlaubnis mit dem m.E. der Sache nach tautologischen Zusatz »anarchischer« vor Sozialismus versah, als immer noch gültige politisch persönliche Marschrute im Lichte der Katastrophen der letzten hundert Jahre auszulegen, aber eben nicht als antiquiert abzulegen.
10 Simone Weil, über Enzensbergers mir liebstes Buch entdeckt (Der kurze Sommer der Anarchie), hat sich ihr kurzes Leben lang immer erneut mit ›Erziehung‹ befasst. In ihren Cahiers notiert sie im 1. Band (110): »Eine ganz andere Erziehung, die eine Erziehung der Einbildungskraft wäre – eine Gymnastik […]. Vier Dinge in der wissenschaftlichen Erziehung zu lernen sind: die Methode; die Gymnastik der Einbildungskraft; die Kritik; die Beobachtung«.
 

 

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