Die ganze Jugend verschenkt

Erlebnisse von Jugendlichen mit teilgeschlossenen und geschlossenen Unterbringungen

Im Spätsommer 2007 fahre ich um die Mittagszeit zur Hamburger Anlaufstelle „KIDS“ am Hauptbahnhof, um dort Interviews mit Jugendlichen zu führen, die über unterschiedliche Jugendhilfeerfahrungen verfügen. Ich stecke inmitten der Arbeit meiner Studie, in der ich Fallprozesse von Hilfeadressat_innen mit dem Lebensmittelpunkt „Straßenszene“ untersuche. Das KIDS betreut junge Menschen, die sich in besonderen Problemlagen befinden u.a. über Straßensozialarbeit, Projektarbeit, Beratung, Freizeitgestaltung u.v.m. Ich bin mit zwei ehemaligen Nutzer_innen der Anlaufstelle für ein Interview verabredet. Im KIDS angekommen stelle ich wieder einmal fest, dass die Termine geplatzt sind - gegenseitige Terminabsprachen funktionieren an diesem Ort offenbar nicht so, wie ich es gewohnt bin.

Stattdessen begebe ich mich in die Küche des KIDS, wo gerade einige Jugendliche ein spätes Frühstück einnehmen. Vor dem Fenster der Küche hängen Lamellen, die Sichtschutz bieten - die Einrichtung ist direkt am Hamburger Hauptbahnhof. Das laute und bunte Treiben der Stadt bleibt für den Moment des Frühstücks außen vor. In der Einrichtung ist es gemütlich, die dortigen Sozialarbeiter_innen sind gastfreundlich, und ich komme sehr gerne hier her. Jeder, der in die Einrichtung kommt, wird freundlich begrüßt, es gibt einen kleinen Smalltalk, einen Kaffee und ich fühle mich willkommen.

Eine Fachkraft des KIDS versucht, für mich eine Alternative zu finden und spricht eine junge Frau an, die sich gerade ein „Snickers-Brötchen“ schmiert (Nuss-Nougat-Creme mit Erdnussbutter). Ich werde ihr vorgestellt: „Das ist Marcus, wir kennen ihn gut, er führt hier Interviews mit Jugendlichen und fragt nach den Erfahrungen, die sie zum Beispiel mit Betreuern gemacht haben, du kannst ihm vertrauen…“ usw. Ich stelle mich ihr vor als jemand, der eine Studie über Sichtweisen von Jugendlichen durchführen und der die interviewten Jugendlichen als Expert_innen für ihre Erlebnisse betrachten wolle. Die junge Frau, ich nenne sie hier Gaby[1], ist 17 Jahre alt. Sie ist mir bereits aufgefallen, da sie in der Küche sehr laut mit den anderen redete und lachte. Die Sache klappt, Gaby willigt ein und nimmt ihr Snickers-Brötchen mit in den Beratungsraum, wo wir das Interview führen. Im Laufe des Gesprächs wirkt sie dann sehr ernst, sehr ruhig und nachdenklich; insbesondere, als sie über Demütigungen und Gewaltvorfällen in einem Heim berichtet, das ich später als „teilgeschlossene und auswärtige Unterbringung“ identifizieren kann, ca. 100 km von ihrem Heimatort Hamburg entfernt. Rückblickend resümiert sie über diese Zeit im Heim: „irgendwie habe ich drei Jahre von meinem Leben… verschenkt, meine ganze Jugend“ (vgl. Hußmann 2011: 430ff).

Auch Caro, die ich 2008 interviewe, war in dieser Einrichtung. Sie berichtet über eine Eskalation nach einer erfolglosen Flucht aus dem Heim:  „Das waren vier erwachsene, gut gebaute Betreuer. Die fangen an mich runter zu machen, sagen, du hast das falsch gemacht, du hast dein Leben verkackt, du hast deine Schule nicht gemacht, du hast deine Familie verloren, du hast deiner Familie das Leben zerstört, du hast ihr ganzes Leben kaputt gemacht mit dem, was du mit denen gemacht hast. Dann war das an einem Punkt, ich habe gar nicht mehr gehört … und ich bin auf die los gegangen“ (aus dem Materialband zur Studie, unveröffentlicht). Mein Interviewpartner Bill war in einer geschlossenen Unterbringung und berichtete aus dem Phasenmodell, das eine Lockerung der strikten Regeln beinhalten sollte: „Das Geilste ist ja, wenn du irgendwann zu kompliziert wirst und sie kommen nicht mehr mit dir klar, sie finden keine Lösung mehr, dann kriegst du Risperdal verschrieben. Weißt du, was das ist? Ein Beruhigungsmittel“ (ebd.). Alex, der in verschiedenen auswärtigen Unterbringungen war, resümiert über seinen Fallprozess: „Bei mir hat sich gar nichts verändert und ist nur noch schlimmer geworden“ (vgl. Hußmann 2011: 444ff.). Für Dennis, einen 16jährigen Punker, der im Interview eine Vodka-Fahne hatte, folgten nach seinen Fluchtversuchen aus einem Heim Strafen: „Jemand, der abhaut - Schlafanzug. Den ganzen Tag mit dem Betreuer. Schreiben, warum man abgehauen ist und dann den ganzen Tag arbeiten. Ich musste solche großen Steine schleppen, solche großen, Alter, als 12jähriger“ (Materialband, s.o.).

Die Heimbiografien von Gaby, Caro, Bill, Alex und Dennis sind unterschiedlich, und auch die Kontexte der Heime waren jeweils andere. Dennoch sind ähnliche Muster zu erkennen. Altbekannte Muster einer Deutsch-Deutschen Geschichte der Heimerziehung mit auffallenden Gemeinsamkeiten und Traditionslinien. Solche Muster gehören zu den Primärerfahrungen meiner Befragten mit Jugendhilfe, die ich in der Studie u.a. mit den Begriffen „Relationsmuster der seriellen Selbstbezogenheit“ sowie „Relationsmuster der fortschreitenden Schließung“ (s.u.) gefasst habe (vgl. Hußmann 2011). Es existieren gleichwohl Sekundärerfahrungen mit Jugendhilfe, insbesondere mit der aufsuchenden und niederschwelligen Sozialarbeit, deren - deutlich andere - Relationsmuster jedoch nicht Gegenstand dieses Artikels sein werden. Im Folgenden werden einige Ergebnisse dieser Studie, die den Titel: „Besondere Problemfälle Sozialer Arbeit in der Reflexion von Hilfeadressaten aus jugendlichen Straßenszenen in Hamburg“ (Hußmann, 2011) trägt, zusammenfassend dargestellt. Sie geben Einblicke in die Erfahrungen junger Menschen mit teilgeschlossenen, geschlossenen und wohnortfernen Heimunterbringungen und zeigen zudem typische Muster in den Fallverläufen. Der Begriff ‚Muster‘ weist darauf hin, dass bestimmte, aufeinander abgestimmte Anordnungen zu erkennen sind und eine Tragfähigkeit aufweisen (vgl. ebd.: 510).

 

Ursachen, Faktoren oder Relationen?

 

Eine Untersuchung über Fallprozesse von Jugendlichen aus Straßen- und Hauptbahnhofsszenen beinhaltet eine vorgeschaltete Literaturrecherche, die einen enormen Arbeitsaufwand beansprucht.  Unzählige große und kleine Studien reihen sich an ebenso unzählige Zeitschriftenartikel und Fachbücher. Gleichzeitig begibt man sich in die Forschungslinien unterschiedlicher Fachdisziplinen, die sich auf einen begrifflich kaum zu fassenden oder quantifizierbaren Gegenstand richten. Zum Beispiel existieren die unterschiedlichsten Begriffe zur Kennzeichnung dieser Fallgruppe, die hier nicht näher erörtert werden können (zur Übersicht und im Folgenden: Hußmann 2007; 2011). Wichtige Gemeinsamkeiten der Biografien dieser jungen Menschen sind massive physische, sexuelle und psychische Gewalterfahrungen im Säuglings- und/oder (Klein-) Kind- und/oder Jugendalter, einhergehend mit sozialer und materieller Deprivation. Zudem wird den verschiedenen zumeist subkulturellen Straßenszenen eine hohe Attraktivität bescheinigt. Alle diese Merkmale wurden in den Interviews von den Jugendlichen bestätigt.

Ohne an dieser Stelle den Forschungsstand wiedergeben zu können, will ich jedoch auf einen Aspekt hinweisen:  die Forschungsperspektiven. Manche Autoren schreiben von „Ursachen“ oder „Faktoren“, um den Einstieg von Heranwachsenden und deren Verbleib in Bahnhofs- und Straßenszenen zu analysieren. Andere schreiben von Gründen, um die subjektive Komponente der Hinwendung zu Szenen zu betonen (vgl. Hußmann 2011: 199). Ausnahmen bilden bereits 1995 die Studie von Langhanky sowie ein Beitrag von Lembeck. Langhanky (1995) konstatiert, dass professionelle Hilfe für „Straßenkinder“ für diese häufig zur Falle werde und fordert daher, dass nicht nur der Fall, sondern die professionellen Fallen in den Mittelpunkt der Reflexion in der Arbeit mit „Straßenkindern“ gerückt werden sollten. Ähnlich argumentiert Lembeck (1995), indem er den fachlichen Diskurs dahingehend interpretiert, dass Erwachsene selbst Bestandteil des Phänomens „Straßenkinder“ seien. Elf Jahre später publizieren Ader (2006) sowie die Forscher_innengruppe um Freyberg und Wolf (2006) jeweils ihre Untersuchungen über eskalierende Fallprozesse bzw. zur Gruppe der so genannten „nicht beschulbaren Jugendlichen“. Beide Studien problematisieren  der negative Einfluss von professionellen Handlungen innerhalb der Hilfe- und Maßnahmenverläufe  Langhanky, Lembeck, Ader, Freyberg und Wolf erweitern damit jenen Fokus, der sich bislang auf „Ursache-Wirkungszusammenhänge“ oder auf die Bedeutungswelt von befragten Subjekten konzentriert.

Aufgrund des „eigenen Anteils“ Sozialer Arbeit in Fallprozessen der Kinder- und Jugendhilfe habe ich in meiner Studie die Forschungsperspektive auf Relationen gelegt, um damit auch den Anteil der Sozialen Arbeit sowie Macht- und Kräfteverhältnisse in den Blick zu nehmen. Die relationale Auffassung beinhaltet, dass „Menschen nicht nur Dinge (also nicht nur die materiale Welt), sondern auch (selbst aktiv in das Geschehen eingreifende) andere Menschen oder Menschengruppen verknüpfen“ (Löw/Sturm 2005: 44). Zudem können über den Begriff der Relation bzw. der Relationierung weitere Aspekte, wie (Fach- oder Alltags-) Wissen, Ressourcen, Beziehungen, Netzwerke etc. in den Fokus rücken (vgl. Hußmann 2011: 322ff.). Das Schlüsselkonzept der Relationierung, das ich mittels der Membership-Theorie (vgl. Falck 1997) wissenschaftlich verortet habe, verhalf im Forschungsprozess, biografische Rekonstruktionen konsequent auf die darin enthaltenden gemeinsamen Handlungen von Akteuren zu richten. Es diente zugleich der Reflexion während der Analysearbeit (Hußmann 2011: 593). Nach Beendigung der unterschiedlichen Auswertungen des Interviewmaterials wurden aus den Ergebnissen bestimmte Muster deutlich, die ich, wie oben erwähnt, als „Relationsmuster“ bezeichnet habe. In den nächsten beiden Abschnitten werden zwei der vier von mir identifizierten Relationsmuster mit Bezug zu den biografischen Interviews meiner Interviewpartner_innen vorgestellt. Sie entstanden u.a. auf der Basis verschiedener Fragen: Wie erinnern und rekonstruieren meine Interviewpartner_innen die spezifischen Situationen, auf die eine sozialpädagogische Handlung folgte? Um welche Situationen handelt es sich? Wie wurde in diesen Situationen professionell gehandelt? Wie haben Professionelle lebensweltliche Aspekte ihrer Adressat_innen mit ihren eigenen Möglichkeiten, ihrem Wissen, ihren Kompetenzen und Ressourcen relationiert (zu Relationierungen in Fallprozessen vgl. Gildemeister 1995 sowie  Kunstreich 2005)? Diesen Fragen kann anhand verschiedener Fallgeschichten nachgegangen werden.

 

Das Relationsmuster der seriellen Selbstbezogenheit

 

Frühjahr 2008, ein Anruf aus dem KIDS: „Hallo Marcus, hier ist jemand, den Du interviewen kannst. Bill ist 19 Jahre und hat eine lange Jugendhilfekarriere hinter sich. Kommst Du vorbei?“ Ich lerne Bill ca. eine Stunde später im KIDS kennen. Eigentlich ist er schon zu alt für die Anlaufstelle, er wird jedoch noch durch seinen Bezugsbetreuer unterstützt, da die Abschiebung des jungen Mannes in sein Heimatland droht. Mir wird Bill als gutaussehender junger Mann angekündigt und mein erster Eindruck bestätigt dies. Er wirkt männlich-markant, hat eine dunkle Hautfarbe und trägt modische und vermutlich teure Kleidung.

Die drohende Abschiebung markiert einen vorläufigen und tragischen Endpunkt einer schier unglaublichen Odyssee. Im Interview möchte er jedoch „von vorne“ anfangen[2]: „… es gab ein paar Vorfälle, wo meine Mutter versucht hat, mich umzubringen…. Und dann sollte ich nach Deutschland kommen. ‚Mein Sohn, geh’ mal da zur Schule, lern da mal was. Verdien’ da mal dein Geld und schick’ das dann nach [Ausland].“ Bill zieht zu seinem Onkel nach Deutschland, von dem er regelmäßig schwer misshandelt wird. Die blauen Flecken fallen seiner Lehrerin auf, die eine Aufnahme in eine Inobhutnahmestelle in Hamburg veranlasst. Diese Situation schildert Bill als Rettung aus einer großen Not seiner Kindheit: „Und, da war ich glücklich. Ich meine, keiner hat mich geschlagen, alle waren nett zu dir, im Haus gab’ voll viel Liebe. So etwas kannte ich gar nicht. Da ging es mir gut. Das war aber eine Übergangsstation, bis man was für einen gefunden hat.“

Die Dramatik der Bilder eines misshandelten Kindes sowie weitere Tötungsandrohungen durch Angehörige veranlassen die beteiligten Professionellen zu einer langjährigen Trennung zur Familie, zunächst innerhalb der Stadt, dann in unterschiedlichen Einrichtungen im Bundesgebiet. Die „Übergangsstation“ wird dabei zum Dauerzustand: „Ich war in … so vielen Einrichtungen, da kann ich mich gar nicht mehr genau dran erinnern.“ Zunächst wird er bei einer Frau untergebracht und danach in eine Pflegefamilie überführt, in der er sich wohl fühlt.  Während dieser Zeit beginnt er, die Schule zu schwänzen, zu klauen und sich mit anderen Kindern zu schlagen. Bill muss aufgrund seines Verhaltens die Schule verlassen, die Maßnahme in der Pflegefamilie wird zeitgleich beendet. Bill, nun zehn Jahre alt, wird in den folgenden Jahren wohnortfern untergebracht, zunächst in Ostdeutschland. Aufgrund seiner Hautfarbe wird er dort mehrfach zum Opfer von rechter Gewalt. Er traut sich nicht mehr ohne Begleitung aus dem Haus. Der Junge flüchtet nach Hamburg und wird dort wieder von der Inobhutnahmestelle aufgenommen. Er will in Hamburg bleiben. Bill wird jedoch auf Veranlassung seines zuständigen Jugendamtes wieder zurück in das Heim nach Ostdeutschland gebracht. Man glaubt ihm nicht.

Bill traut sich nur noch nachts nach draußen, was in seiner Akte als „Herumtreiben“ dokumentiert wird. Kurz vor seinem 12. Geburtstag unternimmt der Junge einen Suizid-Versuch und überlebt. Nach weiteren Fluchtversuchen aus der Betreuung wird er in ein anderes Bundesland verlegt und lebt fortan für zweieinhalb Jahre in einer stationären Betreuung auf dem Land. Der zuständige Betreuer wird für ihn zur Vaterfigur. Während einer Ferienfreizeit lernt Bill ein Mädchen kennen, die er anschließend mehrmals besucht. Auf einer dieser Fahrten steigt Bill am Hamburger Hauptbahnhof um und beschließt, endgültig in der Hansestadt zu bleiben. Die Mitarbeiter seines zuständigen Jugendamtes teilen dem damals 14jährigen mit, dass er entweder zurück zum Betreuer gehen kann oder in Hamburg auf der Straße leben wird[3]. Er verbleibt daraufhin zunächst für drei Tage und Nächte am Hamburger Hauptbahnhof, bis das Jugendamt einen Platz in einer Unterkunft für Flüchtlinge verfügt. An diesem Ort sind viele der angeblichen Jugendlichen jedoch erwachsen und „alle kriminell“. Bill ist davon beeindruckt und es macht ihm bald Spaß, selbst „kriminell“ zu sein und darüber an Geld zu kommen. Das Jugendamt verfügt weitere und andere Unterbringungsformen, die nacheinander scheitern. Bill kommt schließlich in ein geschlossenes Heim (GU). Auch dort hält er sich nicht an Regelungen, fällt aus dem „Phasenmodell“ der GU heraus und erhält Beruhigungsmittel. Zudem folgen Einheiten der Konfrontativen Pädagogik, die er über sich ergehen lässt. Bill, der nun andere Jugendliche erpresst, wird bestraft: Neben dem obligatorischen Zigarettenentzug wird er in seinem Zimmer eingeschlossen: „Und dann meinten die auch: ‚Du bleibst jetzt nur noch in deinem Zimmer und kommst nur ’raus, wenn wir das sagen. Essen tust du im Wohnzimmer, nicht bei uns am Tisch.’ So einen auf den: Erniedrigung. Nach zwei, drei Tagen habe ich das nicht mehr ausgehalten. Ich bin richtig durchgedreht. Ich dachte mir, entweder das ändert sich oder ich zerlege hier die Leute. … Und dann haben die mich auf eine andere Station gesetzt.“ In der neuen Betreuung entsteht ein gutes Arbeitsbündnis zu einem Betreuer, er geht wieder zu Schule und erhält Ausgang.

Nach der Entlassung bittet er die für ihn zuständige Mitarbeiterin des Jugendamtes, keine Jugendhilfemaßnahme in bestimmten, ihm bekannten, Hamburger Stadtteilen zu verfügen. Er glaubt, dass er durch den Kontakt zu alten Bekanntschaften erneut straffällig wird. Diesem Wunsch wird nicht nachgegangen. Drei Monate nach dem Aufenthalt in der Geschlossenen Unterbringung und kurz vor seinem 17. Geburtstag wird er wegen schwerer Körperverletzung zu zwei Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Nach der Haftentlassung zeigt sich die Kinder- und Jugendhilfe als nicht mehr zuständig. Bill, nun 19 Jahre alt, zieht wieder zu seinem Onkel (vgl. Materialband zur Studie, unveröffentlicht, sowie Hußmann 2011: 402ff. und 483ff.).

 

Der Fallprozess von Bill steht stellvertretend für andere Fallprozesse, in denen Kinder und Jugendliche in „Serie“ untergebracht werden und dabei die Erfahrung machen, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass ihre Selbsthilfepläne missachtet werden oder ihre Anliegen keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Professionellen haben (im Folgenden: vgl. Hußmann 2011: 511ff. sowie 585f.). Die wohnortfernen Unterbringungen werden den jungen Menschen als alternativloses Hilfsangebot vorgestellt.  Die Aneinanderreihungen von Maßnahmen sind unsystematisch und unbeständig angelegt. Je nach Interventionsform - stationär oder ambulant - sind auch die professionellen Handlungs- und Interaktionsmuster unbeständig, zum Teil zirkulär und auf sich selbst bezogen. Die Anliegen von Adressat_innen werden dabei verwaltet, d.h. instrumentell zur Kenntnis genommen und in die Logik eines seriellen Produktionsprozesses von weiteren Maßnahmen überführt. Vorhandene lebensweltliche Ressourcen der Jugendlichen werden missachtet oder zerstört. Stattdessen dominiert eine professionelle und auf sich selbst-, d.h. auf das Hilfesystem bezogene Relationierung. Bei den Heranwachsenden entsteht die Gewissheit, dass Jugendhilfemaßnahmen stetig neu beginnen und wieder enden werden, die eigenen Interessen keine Chance auf Umsetzung haben und man diesem Prozess machtlos gegenübersteht. In einer solchen Serie können akzeptierte und realisierbare Zukunftsperspektiven nicht mehr vorkommen.

Im Fallprozess von Bill wird daher auch die spezifische Form der Fallsteuerung als weiteres wichtiges Merkmal seines Fallprozesses deutlich. Sie leitet sowohl „Rettungen“ als auch Krisen ein. Solche Fallsteuerungen sind auch in anderen Hilfebiografien zu erkennen. Zu der „seriellen Selbstbezogenheit“, wie sie in mehreren Fallverläufen zu erkennen ist, gesellt sich damit ein zweiter Modus, den ich als das Relationsmuster der „fortschreitende Schließung“ identifiziert habe.

 

Das Relationsmuster der fortschreitenden Schließung

 

Mit der Überführung in unterschiedliche sozialpädagogische Unterstützungs- und Interaktionskontexte schildert Bill eine professionell betriebene Segregation innerhalb des Hilfesystems. Bei Caro führt der Wechsel in mindestens 16 Jugendhilfemaßnahmen zu Entfremdungserfahrungen;  sämtliche Sozialkontakte werden stetig abgebrochen und müssen neu aufgebaut werden: „Das beansprucht mich natürlich auch. Ich weiß im Moment auch gar nicht mehr, wo ich überhaupt zu Hause bin“ (Hußmann 2011: 470).

Fallsteuerungen sowie die mitunter zahlreichen Wechsel von Zuständigkeiten werden von sechs der acht Interviewpartner_innen als Negativerlebnisse und krisenhafte Prozessverläufe gekennzeichnet (im Folgenden: vgl. ebd.: 519ff.).  Diese sechs jungen Menschen stellen entsprechende Episoden vor, z.B. Heimunterbringungen außerhalb ihrer Heimatstadt oder verschiedene Aneinanderreihungen von Jugendhilfemaßnahmen. Die Episoden werden von ihnen unterschiedlich bewertet, u.a. als Schreckensszenario, als professionell organisierte Verschiebepraxis zur Umgehung der Problembearbeitung oder gar als Problemerzeugung.

Sie betraten im Verlauf ihrer Jugendhilfeerfahrungen die sozial-räumliche Architektur von Jugendhilfe an abgelegenen Orten. Während im Relationsmuster der seriellen Selbstbezogenheit vor allem unsystematisch abgestimmte Handlungs- und Interventionsformen dominieren, ist der  Schließungsprozess des „Relationsmusters der fortschreitenden Schließung“ zielführend: Er bezweckt,  die vertraute, selbst gewählte oder gewachsene Sozialität zu eliminieren (vgl. ebd.: 531). Auch Alex, den ich im Herbst 2007 interviewe und der zum Zeitpunkt des Gesprächs 18 Jahre alt ist, blickt auf einen solchen Fallprozess zurück:

 

Die erste Erfahrung mit Sozialarbeiter_innen macht Alex in einem Kinder- und Jugendnotdienst. Zu dieser Zeit ist er 15 Jahre alt und baut „alle mögliche Scheiße“ - im Nachhinein betrachtet eine aufregende Zeit für ihn: „Früher war es so, da hab ich nicht daran gedacht, was ich mache. So, bei jeder Aktion dabei gewesen, auch, wenn ich mal mit der Polizei zu tun hatte.“ Abweichendes Verhalten und Drogenkonsum werden für ihn zu Sozialität-realisierenden Aktivitäten: Zusammen mit anderen Jugendlichen begeht er Einbrüche und Raubdelikte. Professionelle diagnostizieren bei ihm ein „Aggressionsproblem“. Er wird nacheinander in verschiedenen und wohnortfernen stationären Jugendhilfemaßnahmen aufgenommen, über die er resümiert: „Da wo ich war, da waren fast alle kriminell.“ Zwischen den Einrichtungen folgen kurze Aufenthalte in Hamburg, in denen er seine Freunde besucht. Viele von denen sind mittlerweile im Gefängnis, wie er weiß.

Während der Jahre, in denen er in verschiedenen stationären Einrichtungen lebt, wechseln im für ihn zuständigen Jugendamt laufend die fallzuständigen Fachkräfte, so dass er sich dort nicht mehr gerne unterhält. Aus den so geführten Hilfeplangesprächen kommt für ihn seiner Meinung nach auch nicht viel heraus. Die Wechsel zwischen den stationären Einrichtungen erlebt er als unsystematisch. Zum Beispiel wird er während eines Termins im Jugendamt kurzerhand und ohne Vorankündigung von einer in eine andere stationäre Maßnahme überführt, von Hamburg aufs Land. Er glaubt, dass er damals in Hamburg einfach „zu viel Scheiße gebaut“ hat. In der neuen Umgebung fühlt er sich nicht wohl, hält die anderen Jugendlichen für psychisch krank, es ist ihm dort viel zu schmutzig und kaputt. Der Jugendhilfeträger hat seiner Ansicht nach durch die Art und Weise der Zimmerbelegung mit neuen Jugendlichen nur Geld verdienen wollen. Er beendet die Maßnahme und kehrt zurück nach Hamburg. Dort bricht er die Schule ab, denn seine Lehrer geben ihm zu verstehen, dass er „dumm im Kopf“ ist.

Mit 17 Jahren kommt es erneut zu einer Aufnahme in eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung außerhalb von Hamburg. Er wird dort zur Arbeit im Wald eingeteilt. In diesem Heim erlebt er Eskalationen und psychische Krisen, so dass  er  in eine geschlossene psychiatrische Station eingewiesen wird.

Alex kommt rückblickend zu dem Schluss, dass diese Form der Sozialarbeit bei ihm „gar nichts verändert [hat] und [es]… nur noch schlimmer geworden“ ist. Alex ist heute der Ansicht, dass sich die Jugendlichen eine Wohngruppe zunächst anschauen und dort zur Probe wohnen sollten, bevor sie einziehen. Sie sollten sich außerdem ihre_n Betreuer_in aussuchen können, mit der/dem sie zusammenarbeiten möchten. Er hält Vertrauen für wichtig. Am Ende unseres Gespräches erzählt mir der junge Mann, dass er nun wohnungslos ist (vgl. ebd.: 444ff.).

 

Ein wichtiges Kennzeichen der Jugendhilfebiografie von Alex, wie auch der anderen fünf Befragten, ist die mit der seriellen Unterbringung einhergehenden Exklusionspraxis (im Folgenden: Hußmann 2011: 519ff.). Aneinanderreihungen von Erziehungshilfemaßnahmen teilten die Lebensläufe der Befragten in verschiedene Phasen mit je unterschiedlichen Sozialisations- und Beziehungskontexten ein, z.B. von der Pflegefamilie in ein Heim auf dem Land, danach in eine sozialtherapeutisch ausgerichtete Wohnform, anschließend in eine ambulante Betreuung, von dort aus in eine geschlossene- oder teilgeschlossene Unterbringung usw.. Aus diesen unterschiedlichen Episoden sedimentiert sich das semantische Wissen, dass Jugendhilfe nicht helfen kann, nicht helfen will oder nicht mehr helfen möchte - selbst dann, wenn eine formale Zuständigkeit besteht oder die Heranwachsenden betreut werden. Obwohl sie im Relationsmuster der fortschreitenden Schließung von sozialpädagogischen Hilfen umgeben sind, kann die Qualität der „Nichthilfe“ von den Betroffenen selbst nicht verändert oder überwunden werden.

Nach Abbruch und dem schmerzlichen Verarbeiten von einst vorhandenen Beziehungen mit Professionellen können weitere Arbeitsbündnisse kaum noch aufgebaut werden. Fachkräfte werden vielmehr zu Agent_innen über das Außen, da sie die Entscheidungen über Formen und Verweildauern in Unterbringungen treffen. Diese Agent_innen setzen Maßnahmewechsel jedoch auch zur  Disziplinierung  ein – am Beispiel der Fallprozesse von Bill und Alex sind dies die Überführung in die Geschlossene Unterbringung oder eine nicht angekündigte und abrupte Verlegungen an Orte außerhalb der Heimatstadt.

Derart fragmentierte Fallprozesse mit dem oben benannten Ziel, die vertraute, gewachsene oder selbst gewählte Sozialität auszuschließen, führen zu Identitätsentwicklungsstörungen bei den jungen Menschen (im Folgenden: vgl. Hußmann 2011: 430ff. und 531). Nach Krappmann (1973: 207) muss Ich-Identität „in jedem Interaktionsprozess angesichts anderer Erwartungen und einer ständig sich verändernden Lebensgeschichte des Individuums neu formuliert werden.“ Diese „Leistung“ (ebd.) ist jedoch unter den Bedingungen wechselnder Interaktionskontexte durch die serielle Schaltung von Jugendhilfemaßnahmen kaum einlösbar. Im Anschluss an Erikson (1973: 106ff.) verhindern die Praktiken der fortschreitenden Schließung eine Ausbildung der Ich-Identität während der Adoleszenz und Spätadoleszenz. Die „verschenkte Jugend“ bei Gaby (s.o.) verweist auf eine solche „Identitätsdiffusion“, da weder in der gewachsenen Sozialität noch am Ort der „unerbittlichen Standardisierung der … Jugend“ (ebd.: 109) im Heim, mit der die Befragte nicht zurecht kam, eine Anerkennung für kulturrelevante Leistungen zur Ausbildung einer Ich-Identität möglich wird. Die als „verschenkte Jugend“ markierte Bedeutung einer Heimgeschichte offenbart erhebliche Probleme der Identitätsentwicklung der Heranwachsenden an diesem Ort. Diese starke Metapher verweist auf die Folgen professioneller Handlungslogiken in entwertenden und exkludierenden Relationsmustern während der Adoleszenz und Spätadoleszenz.

 

Ausblick

 

Ich habe keine_n meiner Interviewpartner_innen nach Abschluss der Erhebungsphase wieder getroffen und konnte auch keine Folgeinterviews planen. Zudem verfüge ich kaum über Informationen, wie das Leben der jungen Menschen weiterging. Straßen- und Hauptbahnhofszenen in Metropolregionen sind fluide und fluktuierend. 

Die komplexen und komplizierten Berichte der jungen Menschen hinterließen bei mir viele Fragen, die mehrere Annäherungen, verschiedene Auswertungsverfahren und viele Diskussionen nach sich zogen. Sie waren nicht „einfach“ zu verstehen oder auszuwerten und lösten viele Verständigungsprozesse mit dem Datenmaterial, mit den Auswertungsmethoden, mit mir selbst und mit anderen Kolleg_innen aus Forschung und Praxis aus. In den Berichten von Yvonne, Carmen, Kirsten, Alex, Caro, Dennis, Gaby und Bill über Jugendhilfeerfahrungen tauchen entsprechende Verständigungsprozesse als Ausnahmen auf. Momente eines anerkennenden Dialogs oder der fundamentalen Partizipation im Betreuungsverlauf zählen zu ihren Sekundärerfahrungen mit der Kinder- und Jugendhilfe. Sie ermöglichten jedoch bei allen eine Pädagogik der Beziehungsarbeit und ließen die Handlungskompetenzen von Professionellen in Relation zu den Lebenslagen und lebensweltlichen Ressourcen der Jugendlichen, ihren Wünschen, Irrwegen oder Plänen wirksam werden (vgl. Hußmann 2011: 501f.).

Übertragen auf meine Erfahrungen mit den Berichten fällt zweierlei auf. Einerseits sind solche Verständigungsprozesse zwischen Fachkraft und Jugendlichem anspruchsvoll. Regina Rätz-Heinisch (2005) beschreibt sie z.B. als „tastend experimentell“, „experimentell begleitend“ und „hypothetisch offen“. Andererseits ist ihre Umsetzung eine einfache Frage der Entscheidung: denn teilgeschlossene, geschlossene sowie wohnortferne Unterbringungen sind nur scheinbar alternativlos, deren Risiken und Nebenwirkungen jedoch erheblich.

 

Literatur

 

Ader, S. 2006: Was leitet den Blick? Wahrnehmung, Deutung und Intervention in der Jugendhilfe. Weinheim und München

Erikson, E.H. 1973: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main

Falck, H. S. 1997: Membership. Eine Theorie der Sozialen Arbeit. Stuttgart

Freyberg von, T./Wolff, A. 2006: Trauma, Angst und Destruktivität in Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher. In: Leuzinger-Bohleber, M./Haubl, R./Brumlik, M. (Hrsg.): Bindung, Trauma und soziale Gewalt. Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaft im Dialog. Göttingen, S. 164-185

Gildemeister, R. 1995: Kunstlehren des Fallverstehens als Grundlage der Professionalisierung sozialer Arbeit. In: Langhanky, M.: Verständigungsprozesse Sozialer Arbeit. Beiträge zur Theorie- und Methodendiskussion. Hamburg, S. 26-37

Hußmann, M. 2007: „Jugendliche in der Szene“ - Eine Annäherung an Untersuchungsergebnisse aus rund 30 Jahren Forschung und der Versuch einer sozialräumlichen Sichtweise. In: Herz, B. (Hrsg.): Lernbrücken für Jugendliche in Straßenszenen. Münster, New York, München, Berlin,  S . 21-46

- 2011: „Besondere Problemfälle“ Sozialer Arbeit in der Reflexion von Hilfeadressaten aus jugendlichen Straßenszenen in Hamburg. Eine qualitative Studie unter besonderer Berücksichtigung der Membership-Theorie nach Hans Falck. Münster

Krappmann, L. 1973: Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart

Kunstreich, T. 2005: „Dialogische Sozialwissenschaft“. Versuch, eine „generative Methodik“ in der Sozialen Arbeit handlungstheoretisch zu begründen. In: Braun, W./Nauerth, M. (Hrsg.): Lust an der Erkenntnis. Zum Gebrauchswert soziologischen Denkens für die Praxis Sozialer Arbeit. Bielefeld, S. 49-66

Langhanky, M. 1995a: Die Arbeitsfalle der Straßenkinder. In: Forum Erziehungshilfen, 1. Jg., Nr. 5, S. 207-209

Lembeck, H.-J. 1995: Vom Umgang Erwachsener mit dem „Phänomen Straßenkinder“. In: Forum Erziehungshilfen. 1. Jg., Nr. 5, S. 205-206

Löw, M. /Sturm, G. 2005: Raumsoziologie. In: Kessl, F./Reutlinger, C./Maurer, S./Frey, O. (Hrsg.): Handbuch Sozialraum. Wiesbaden, S. 31-48

Rätz-Heinisch, R. 2005: Gelingende Jugendhilfe bei „aussichtslosen Fällen“! Würzburg



[1]

Ich habe alle Namen meiner Interviewpartner_innen in allen Dokumenten der Studie durch andere Namen ersetzt.

 

[2]

 Aus stilistischen Gründen wird auf den Konjunktiv verzichtet. Gleichwohl handelt es sich um eine zusammenfassende Wiedergabe biografischer Ereignisse, die zum Zeitpunkt des Interviews vom Befragten rekonstruiert wurden. Gleiches gilt für alle anderen Fallbeispiele.

 

[3]

 Über diese „Alternative“ zur wohnortfernen Unterbringung berichtet auch eine junge Frau, die das Jugendamt verantwortlich macht, dass man sie „handfest“ auf die Straße geschickt habe.