Erlesenes - Frauengeschichten

Diese Geschichte beginnt sanft daherplätschernd wie ein im Gebirge entspringender Bach: Da ist ein Felsbrocken, um den er herum muss. Da ist eine Wiese, in deren Boden sich entscheidet, ob er genügend Energie besitzt, sich durchzuarbeiten und ihr einen Mäander abzuringen – und dann, wenn aus dem Bächlein ein respektables Flüsschen geworden ist, dann wird ihm eine Talsperre in das Bett gesetzt, die ihm durch starke Pumpwerke ein gut Stück Lebenskraft absaugt und ihn letztendlich nur als Schatten seiner selbst in das flache Land entlässt.
Vielen Menschen ergeht es so. Die Geschichte der Menschheit ist zuvörderst eine Geschichte der Träume, der Illusionen, der mehr oder weniger verzweifelten Versuche der „kleinen Leute“, ein klitzekleines Stück vom Kuchen Glück abzuschneiden. Selten werden diese Versuche von ihnen selbst dokumentiert. Da ist kein Lohnschreiber, der nach stundenlangen Monologen Tonbandmitschnitte in Gefälligkeitsautobiographien umwandelt, nach deren Lektüre dem Leser der Zuckersturz droht. Schreiben diese Autoren über ihr eigenes Leben, fehlt ihnen zumeist die Distanz, das Erlebte aus einer scheinbar abgehobenen Erzählerperspektive wiederzugeben. Die meist nicht vorgenommene Ästhetisierung der Biographie ist kein Mangel.
Katya Bosse schrieb eine dieser unendlich wertvollen autobiographischen Geschichten der „kleinen Leute“. Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das mit abgrundtiefer Naivität  in das Leben hereinstolpert und… Nein, ich möchte dem Ende nicht vorgreifen. Katya wurde in der DDR Kindergartenerzieherin, das war mitnichten immer ein idyllischer Werdegang. Das hat mit der Persönlichkeitsentwicklung sehr junger Menschen aber auch der gesellschaftlichen Okulierschere („Ich forme Menschen nach meinem Bilde“ – nicht zufällig eine der Lieblingsoden der DDR-Oberen) des realen Sozialismus zu tun. Das hat etwas zu tun mit den extremen Schwierigkeiten, in Partnerschaftsbeziehungen die eigene Vorstellung von der Welt in ein lebbares Modell zu gießen – das ging bei Katya regelmäßig schief. Das hat zu tun mit den auch in der DDR letztendlich dominierenden patriarchalischen Strukturen. Katya erzählt davon, wie sie, vom eigenen Ehemann grün und blau gedroschen, endlich den Weg vor die Schiedskommission des Wohngebietes findet – und die entgegen dem offensichtlichen Augenschein dem Manne Recht gibt. Die Demo-Losung vom 4. November 1989 „Frauenpolitik  mit Inge Lange macht uns bange!“ kann man drastischer nicht belegen. Inge Lange war im Zentralkomitee der SED für Frauenfragen zuständig. In den letzten beiden Jahrzehnten der DDR aufgewachsene Frauen werden Ähnliches erlebt haben. Das Buch ist keine leichte Lektüre. Katya Bosse erzählt mit schonungsloser Offenheit auch sich selbst gegenüber.
Irgendwie geriet sie dann – so richtig zwangsläufig war dies zumindest nach ihrem Erzählen nicht – vor dem Mauerfall in den Westen und durfte kurze, aber intensive Momente des Glücks vollkommener Freiheit erleben. Die folgenden Katastrophen sind desto schlimmer.  Katya hatte wieder Pech: Mit ihren Männern, mit den bösen Zufällen, die auch ihren Töchtern das Leben nicht leicht machten, mit einem vom Chefarzt bis zur Pflegerin schlampig arbeitenden Gesundheitswesen, das oftmals die Patienten als lästiges Beiwerk des sonstigen Tagesablaufes betrachtet. Und letztlich mit dem bundesdeutschen Rechtssystem, das mitnichten denen Recht verschafft, die nach dem Buchstaben des Gesetzes Recht bekommen sollten. Katya kämpft seit langen Jahren gleich mit zwei übermächtigen Gewalten: dem ADAC und der Allianz. Lassen Sie sich auf meine Empfehlung ein, so werden Sie zwischen Schock und Ernüchterung schwanken und eine faszinierende Frau kennen lernen.

Katya Bosse: Warum nicht. Stolpersteine, Books on Demand GmbH, Norderstedt 2013, 259 Seiten, 19,90 Euro.

Hinter jedem bedeutenden Manne stünde eine Frau, soll Pablo Picasso einmal gesagt haben. Neulich fiel mir eine Verballhornung dieses Zitates in die Hand: Hinter jeder klugen Frau stünden immer Männer, die diese daran hindern wollten, Bedeutung zu entfalten… In vollem Umfange treffen beide Aussagen auf Thea und Carl Sternheim zu. Beide waren vom 13. Juli 1907 bis zum 16. Dezember 1927 miteinander verheiratet. Sie, die schwerreiche Unternehmertochter, und er, der erfolgsverwöhnte Star-Dramatiker, schienen in der ersten Zeit des Miteinanders das ideale Paar zu sein: „Carl Sternheims Werk ist ohne Deine Existenz undenkbar … und vergiß bitte nicht, daß ich, als Mensch nicht angenehm, auch Dir auf meine Weise Freude bereitete.“ Das ist aus Sternheims Abschiedsbrief vom Vorabend der Scheidung zitiert. Mit diesem Brief beginnt Monika Melchert (zuletzt veröffentlichte sie „Heimkehr in ein kaltes Land. Anna Seghers in Berlin 1947 bis 1952“ – siehe Das Blättchen/Sonderausgabe vom 5.12.2011) ihre Beschreibung einer außergewöhnlichen Beziehung, die ihm unverzichtbarer Urgrund eines großen Werkes war, ihr jedoch zunehmend zur Hölle geriet. Melchert konnte sich dabei auf die inzwischen vorliegenden, von Thomas Ehrsam und Regula Wyss vorbildlich edierten Tagebücher Thea Sternheims stützen, die wohl zu den bedeutendsten Quellenwerken der deutschen Literaturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezählt werden müssen.
„… ich muss vor diesem Mann knieen und anbeten“, so beschreibt sie selbst ihre Gefühlslage am Beginn dieser Beziehung. Sternheim erwartet auch nichts anderes von ihr. Er hält sich selbst für den bedeutendsten Dramatiker seiner Zeit, überhaupt für einen der bedeutendsten lebenden Schriftsteller. Monika Melchert spricht von „Größenwahn“, der ihn häufiger befallen habe. Und Thea betet ihren Mann an. Und sie finanziert dessen Allüren mit nicht unbeträchtlichen Summen. In den von ihm in seinen „Szenen aus dem bürgerlichen Heldenleben“ aufgespießten und sezierten Bürgerkarikaturen steckt viel von Sternheim selbst: „Er selber ist es, den er immer wieder darstellt – in seinem Stolz und seinem Drang nach Höherem, nach äußerer Anerkennung: Er selber war der Snob.“ (Monika Melchert) Dazu kommen ständig neue Frauengeschichten, das Ganze konterkariert durch stark depressive Phasen. Das zermürbt die stärkste Beziehung. Die Zeitläufte tun das Ihrige dazu, dass beide nicht zur Ruhe kommen können. Die Autorin macht dies fest an den immer wieder vergeblichen Versuchen des Ehepaares, einen dauerhaften Ort zum Leben zu finden. 1913 lassen sie sich in La Hulpe, in der Nähe von Brüssel gelegen, nieder. Obwohl beide überzeugte Kriegsgegner von Anfang an waren und in der französischen und belgischen Kultur tief verwurzelt sind, müssen auch sie mit Kriegsende ihr Haus aufgeben. Sie werden nie dort ankommen, wo sie beide dauerhaft „in Ruhe leben können“, wie Sternheim in einem Brief schreibt. Zudem ist Theas Vertrauen in die Stabilität der deutschen Verhältnisse bereits Anfang der 1920er Jahre vollkommen illusionslos. „… dieselben Massen, die jetzt die Internationale singen, brüllten zu Kriegsbeginn die Hassgesänge und werden sich ebenso wahllos, wird die Parole gegeben, auf den Fremdländischen stürzen und den Bessergekleideten erschlagen“, zitiert Monika Melchert einen Tagebucheintrag vom Juni 1922. Zehn Jahre später wird sie Deutschland, „eine Gefängniszelle par excellence“, noch vor dem Machtantritt der Faschisten für immer verlassen.
Ihre Ehe ist da schon lange beendet, Carl inzwischen mit Pamela Wedekind, der Tochter Frank Wedekinds, verheiratet. Aber auch diese Beziehung wird keinen Bestand haben. „Der Künstler hat nur die Wahl, ob er als Mensch existieren will oder als Werk. Im zweiten Fall besieht man sich den Rest besser nicht.“ Das stammt von Arno Schmidt, der auch von seiner Ehefrau stille Bewunderung verlangte und sonst nichts. Thea Sternheim wollte mehr. 1952 bilanziert sie im Tagebuch das Scheidungsjubiläum. „Immerhin 25 Jahre, während derer ich keine Stunde bereute, mich auf mich selbst zurückgezogen zu haben.“ Ich denke, auch der Künstler hat nicht das Recht, die nötige Kraft für das eigene Werk aus der Seele seiner Lebensgefährten zu saugen. Monika Melchert ist ein anrührendes und aufschlussreiches Buch gelungen.

Monika Melchert: Abschied im Adlon. Die Geschichte von Thea und Carl Sternheim, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2013, 200 Seiten, 18,95 Euro.