Unsere Geschichte zurückgewinnen und unsere Politik neu beleben

in (21.11.2013)

Es sind schwere Zeiten für uns, die wir den Kapitalismus ablehnen – seine Ausbeutung, den steten Konkurrenzkampf und die Belohnung von Eigennutz und Gier und auch seine Verachtung von Mitleid, Gerechtigkeit und Solidarität. Es scheint der Kapitalistenklasse und besonders ihren Befürwortern von der Rechten gelungen zu sein, den gegnerischen Block erfolgreich zu zerschlagen. Sie haben erreicht, dass jede alternative Vision und jede antikapitalistische Bewegung heute als blamiert dasteht. Sie haben uns – und das mit tatkräftiger Hilfe vieler kommunistischer Regimes – sogar unserer Sprache und Geschichte beraubt. So reden wir heute von ›Antikapitalismus‹, weil Wörter wie ›Kommunismus‹ und ›Sozialismus‹ keinen positiven Klang mehr haben.

Obwohl die neoliberalen und rechten Attacken die antikapitalistische Bewegung niedergerungen haben, ist es gerade jetzt notwendig, sich intensiv mit unserer Geschichte zu befassen und herauszufinden, was wir daraus für eine Wiederbelebung antikapitalistischer Politik heute lernen können. Sheila Rowbotham (1996, 13) verweist auf zwei Schwachpunkte linker Bewegungen: Es gelingt ihnen nicht, ihre Erfahrungen zu tradieren und so ihre Kämpfe dem Vergessen zu entreißen; und grade wenn Veränderung aussichtslos scheint, laufen sie Gefahr, ihren Kampf immer wieder am Nullpunkt zu beginnen. Die Überlieferung der Frauenbewegung der 1960er bis 80er Jahre und besonders deren marxistisch-feministische Richtung, ihre Politik und Ziele wurden sowohl von der Linken wie von feministischer Seite weitgehend ignoriert oder derart verzerrt, dass wir uns schwer tun, uns zu organisieren, eine anziehende und gangbare Perspektive zu entwickeln und dafür zu kämpfen.

Ich schreibe als marxistisch-sozialistische Feministin in Kanada,1 die das Erstarken sozialistischer und feministischer Bewegung in den 1960er und 70ern als junge Frau gelebt hat und das Ende linker Politik und das Anwachsen des neoliberalen Kapitalismus in den 1980er und 90ern erleiden musste. In der Frauenbewegung in Kanada und Quebec gab es eine theoretisch fundierte sozialistisch-feministische Strömung, die von einem proletarischen Feminismus in der Arbeiterbewegung gestützt wurde. Daraus entstand eine beeindruckende sozialistisch-feministische politische Bewegung, die feministische Praxis zwei Jahrzehnte lang geprägt hat und noch immer feministische Theorie hervorbringt, die auf antikapitalistische politische Aktion zielt. Ich möchte diese Geschichte erinnern, die Möglichkeit für eine feministisch-antikapitalistische Perspektive erkunden und zum Aufbruch zu einer neuen Bewegung beitragen. Dieser Beitrag soll mithin neues Interesse an antikapitalistischer Politik stärken, wie es im Weltsozialforum, in den Demonstrationen gegen die G20-Treffen, der Occupy-Bewegung2 aufscheint. Die Begeisterung vieler linker Feministinnen für diese Bewegungen erfährt allerdings einen Dämpfer, weil feministische Fragen wieder einmal nicht zu den zentralen Zielen dieser antikapitalistischen Bewegungen gehören.

Im Folgenden geht es um die historische Überlieferung, um Rückbesinnung auf unsere marxistisch-feministische Politik und ihre zentrale Rolle im Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus; es geht um Frauenbewegung heute, insbesondere um das, was feministische politische Ökonomie ›soziale Reproduktion‹ nennt; und es geht darum, wie wir die widersprüchlichen Anforderungen von Erwerbsarbeit und Familie bewältigen – oder ganz einfach darum, wie wir unter den Bedingungen des Kapitalismus leben können.

 

Wiederaneignung unserer Geschichte: Erinnerungspolitik

Zunächst zur Herkunft unseres Wissens und die Bedeutung von Geschichte. Wie viele Menschen, welche in den sechziger Jahren gelebt haben, erschreckt mich, wie sehr die vorherrschenden Darstellungen meinen eigenen Erinnerungen widersprechen. Häufig kommt in der Geschichtsschreibung der Linken der marxistische Feminismus überhaupt nicht vor, während die offizielle feministische ihn verzerrt wiedergibt. Dieses Auseinander von Erinnerung und Überlieferung ist nicht nur eine unvermeidliche Folge des zeitlichen Abstands. Sie wurde durch die Politik der vergangenen Jahre produziert und ist Teil der gegenwärtigen Politik, welche Theorie und Praxis in der Geschichte des linken Feminismus zersetzt.

Zwei Beispiele aus der Frauenbewegung zur Veranschaulichung: Zunächst geht es um Medienberichte über die Organisierung von Frauen in den USA. Im September 1968 demonstrierte eine kleine Gruppe überwiegend weißer junger Frauen gegen den Schönheitswettbewerb um ›Miss America‹. Sie setzten einem Schaf die Krone auf und warfen Strumpfhalter, Lockenwickler und Ausgaben von Ladies Home Journal und vom Playboy in die Mülltonnen, um gegen ein künstliches und kommerzialisiertes Ideal weiblicher Schönheit zu protestieren. Sie bekamen ein enormes Echo u.a. durch einen Bericht in der New York Post, der von ›BH-Verbrennung‹ sprach. Dies ging in die Geschichte ein, obwohl in Wirklichkeit überhaupt nichts verbrannt wurde (Van Gelder 1992, 80f).

Am Muttertag desselben Jahres (12. Mai 1968) machten Frauen aus der Bewegung bei der Organisation eines Armutsmarschs mit: etwa 5 000 Arbeiterinnen – Schwarze, Weiße und Chicanas – marschierten auf Washington zu, um mit dem Slogan ›Müttermacht – Einkommen, Würde, Gerechtigkeit und Demokratie‹ gegen Angriffe auf Sozialhilfeempfängerinnen und gegen das Fehlen von Kindergärten und Arbeitsplätzen zu protestieren. Sie erhielten kaum ein Echo, und diese Demonstration kommt in der offiziellen Geschichte der amerikanischen Frauenbewegung nicht vor.3 Die Darstellung in den Medien stützt die allgemein akzeptierte Behauptung, die Frauenbewegung der 1970er Jahre sei eine Bewegung weißer Frauen der Mittelklasse gewesen. Die Fragen und die Organisierung von Frauen aus der Arbeiterklasse, von armen, schwarzen, indigenen und mexikanischen Frauen und deren Selbstverständnis als Arbeiterinnen und als Mütter werden leichthin übergangen oder gar geleugnet.

Das zweite Beispiel stammt aus der Darstellung der Geschichte über die ›zweite Frauenbewegung‹, wie gewöhnlich die Spanne von 1960 bis 80 in den angelsächsischen Ländern wie Kanada, den USA, Australien, Neuseeland bezeichnet wird. Während viele der eben genannten Auffassung anhängen (vgl. Brodie 1995, 10), erscheint eine differenziertere, aber ähnlich problematische Position in neueren Schriften einer Reihe prominenter US-Feministinnen. Sie behaupten, der Feminismus des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts sei vom Neoliberalismus vereinnahmt worden (etwa Fraser 2009, 99; kritisch dazu Sangster/Luxton 2013; Haug 2009, 393-408). Fraser u.a. vertreten die Ansicht, diese zweite Bewegung habe sich von einer Umverteilungspolitik der Selbstverwirklichung der Frau zugewendet, den Ernährerlohn kritisiert, für den Zugang von Frauen zu bezahlter Arbeit gekämpft und gezeigt, wie die Politik des Wohlfahrtsstaates den Frauen schadete. Im Ergebnis habe die zweite Frauenbewegung dazu gedient, die Vermarktlichung, die Einsparungen im Sozialbereich und die generelle Akzeptanz schlecht bezahlter Arbeit zu legitimieren, die für den Neoliberalismus zentral sind (Eisenstein 2009, 39). Als Erzählung unserer Geschichte dienen solche Argumente dazu, die wichtige Rolle der Arbeiterfrauen (Luxton 2001), der farbigen Frauen (Brown 1990) und der indigenen Frauen (Jameison 1979) zu verschweigen und deren Kampf um die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Pflege, Kinderbetreuung und Familie zu ignorieren. Sie reduzieren die zweite Frauenbewegung auf eine einzige ihrer Strömungen und deren theoretische Ziele, nämlich auf den liberalen Feminismus, und radieren damit den linken oder sozialistischen Feminismus aus, auch dann, wenn sie, wie Fraser, dessen politische Ziele unterstützen.

Das Zusammenspiel von verzerrter Erinnerung und fragwürdiger Deutung hat einen erheblichen Einfluss auf das, was in der Gegenwart an politischer Aktivität sinnvoll und möglich scheint. Diese Kombination aus Fehlinterpretation und Leugnung ergänzt die verbreiteten rechten Initiativen, die gegen die linke Politik der 1960er bis 80er Jahre angetreten sind. Angeheizt durch die Wirtschaftskrise der 70er Jahre und durch Verteilungsgerechtigkeit fordernde Gruppen – wie die Arbeiterbewegung, antiimperialistische und antirassistische Zusammenschlüsse und die Frauenbewegung –, begannen die führenden pro-kapitalistischen Kräfte eine globale Initiative, um der freien Marktwirtschaft neue Geltung zu verschaffen. Sie forderten Einschnitte in das vorhandene soziale Netz und attackierten sowohl sozialistische wie sozialdemokratische Regierungen. Im Verlauf der 80er Jahre konnten sie neoliberales ökonomisches Handeln zur vorherrschenden Politik fast auf dem gesamten Globus machen. Die Errungenschaften der Frauenbewegung besonders im ökonomischen Bereich wurden angegriffen und ausgehöhlt. Die reaktionären Bewegungen der letzten 40 Jahre und die gegenwärtige Politik des Neoliberalismus sind auch als systematischer Versuch rechter Vertreter des Kapitalismus zu verstehen, die Vision einer solidarischen Welt zu zerstören, wie sie in der Frauenbewegung von sozialistischen Feministinnen entworfen worden ist.

Nachdem der Neoliberalismus nahezu Welthegemonie gewonnen hat, können wir uns eine mögliche sozialistische Zukunft kaum mehr vorstellen. Weithin wird der ›Tod des Sozialismus‹ behauptet und gefeiert (Wrong 2000, 175-185). Die linke Vision, die so viele begeistert hat, wird bereitwillig als überholte, erfolglose oder unerreichbare Utopie abgetan. Solche Urteile sind für die Entwicklung wirksamer Politik in der Gegenwart schädlich. Der Widerstand gegen den Kapitalismus drückt sich derzeit eher in undifferenziertem Protest aus statt in alternativen Zukunftsvisionen, die die Menschen dazu bewegen könnten, sich konkret zu organisieren und auf deren Verwirklichung hinzuarbeiten.

Für den Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus ist die Rückgewinnung marxistisch-feministischer Politik zentral. Eine erste Herausforderung stellt sich in der sprachlichen Artikulation der Politik in der Geschichte. Begriffe, die in dem einen politischen und linguistischen Feld entwickelt worden sind, sind oft schwer in ein anderes zu übersetzen, und derselbe Ausdruck kann unter anderen Bedingungen etwas ganz anderes bezeichnen. Die unterschiedliche Besetzung des Ausdrucks marxistischer Feminismus hat auch mit den jeweiligen gesellschaftlichen Orten und den politischen Bedingungen zu tun, in denen sie entstanden sind.

Verwandte Begriffe sind manchmal gegeneinander austauschbar, in anderen Zusammenhängen können sie jedoch Gegensätzliches bezeichnen. Für die einen erweitert der Begriff marxistischer Feminismus (positiv) die grundlegende Analyse der Produktionsverhältnisse und Kritik des Kapitalismus von Marx und Engels und ihre Kapitalismuskritik um die Analyse der Geschlechterverhältnisse, bei der Frauen zentral sind (Seccombe 1992; 1993). Für die anderen, besonders für die, die unter repressiven kommunistischen Regimen gelebt haben, bezieht sich der Begriff (negativ) auf die Anhängerinnen eines Kommunismus sowjetischer Prägung, der nur Klassenpolitik betreibt und relativ konservative Ansichten über Ehe, weibliche Hausarbeit und Sexualität vertritt. Zuweilen sind sozialistischer und marxistischer Feminismus Synonyme. Manchmal bezieht sich der Ausdruck gar auf die Vertreterinnen reformistischer sozialdemokratischer Politik, während er an anderer Stelle eine Politik meint, die Geschlecht, Rasse und Klasse verbindet und den Vorrang von Frauenthemen betont, dabei die Vielfältigkeit weiblicher Lebenssituationen erkennt und Offenheit für nicht-monogame Sexualität und verschiedenartige sexuelle Orientierungen propagiert. Um diese terminologischen Fallgruben zu meiden, reden einige allgemeiner von linkem Feminismus.

Ich benutze den Ausdruck marxistische Feministin hier für diejenigen, deren Analyse marxistisch vorgeht, also auf der marxistischen Kritik der Klassengesellschaften und besonders des Kapitalismus basiert, die dabei aber in der Klassenpolitik, dem Antiimperialismus und dem Antirassismus die Unterdrückung und die Befreiung der Frauen (also auch Fragen der Geschlechtsidentität und der Sexualität) in den Mittelpunkt ihrer Ziele stellen. So gesehen ist marxistischer Feminismus eine feministische Richtung innerhalb der linken antikapitalistischen Bewegung und eine marxistische innerhalb des Feminismus. Er kritisiert jede antikapitalistische Klassenanalyse, die andere Formen der Diskriminierung und Unterdrückung übersieht, und weist Gesetze zur ›formellen Gleichberechtigung‹, die Frauen und Männern in der Öffentlichkeit gleiche Rechte zugestehen, aber an der häuslichen Situation von Frauen nichts ändern – eine Strategie, die sowohl in kapitalistischen wie staatssozialistischen Ländern versucht worden ist –, als unzureichend zurück. Stattdessen ruft er auf zu einer radikalen Veränderung aller Bereiche des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens, sowohl der einzelnen Menschen wie auch der Gesellschaft. Marxistischer Feminismus hat eine gründlich durchdachte Theorie und Praxis hervorgebracht, die heute weitgehend ins Vergessen geraten ist, die es aber wiederzubeleben lohnt.

Eine zweite Herausforderung bei dieser Erneuerung kommt aus der Verschärfung der unvermeidlichen Spannung zwischen lokaler und transnationaler Politik infolge der Globalisierung. Marxismus und Feminismus waren in Theorie und Praxis von Beginn an internationalistisch. Aber die zunehmende globale Verflechtung des Kapitalismus und seiner neoliberalen Politik erfordert noch mehr Nationen übergreifenden Widerstand. Jedoch auch marxistische und feministische Theorie und Praxis sind in einer bestimmten Zeit und an bestimmten Orten entstanden und werden geprägt durch imperialistische und koloniale historische Erfahrungen, nationale Identität, sprachliche und kulturelle Unterschiede, lokale Normen und Traditionen im Hinblick auf Geschlecht, Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Sexualität, Begabungen und Behinderungen, Klassenlage und andere Formen der Ungleichheit. Während des Anti-Apartheits-Kampfes hat der südafrikanische Marxismus eindrucksvolle Analysen über Rasse und Klasse entwickelt, in denen aber Feminismus marginalisiert war (Bozzoli 1983). Zur selben Zeit entwickelten marxistische Feministinnen in Großbritannien und Kanada ebenso eindrucksvolle Analysen zu Klasse und Geschlecht, hatten aber wenig zur Rassenfrage beizutragen, bis sie von antirassistischen Feministinnen herausgefordert wurden (Ramazanoglu 1986; Egan/Gardner/Persaud 1988; Anthias/Yuval-Davis 1990; Dua/Robertson 1999).

Sprachpolitik spielt eine Schlüsselrolle für die Fähigkeit politischer Bewegungen, voneinander zu lernen und zusammen zu arbeiten. Die aktuelle Vorherrschaft des Englischen bedeutet, dass viele englisch Sprechende es nicht nötig haben, andere Sprachen zu lernen, während noch mehr Anderssprachige Englisch lernen müssen. Dadurch erreichen englische Texte, und besonders solche, die auf dem großen US-Markt publiziert werden, mehr Leserinnen als alle anderen. US- und britische Autorinnen sind bekannter als Autorinnen und Bewegungsfrauen aus anderen Ländern. Gabriele Griffin und Rosi Braidotti (2002, 1) forderten ihre Leserinnen auf, fünf amerikanische Feministinnen zu nennen, dann fünf deutsche und danach acht aus anderen europäischen Ländern. Das Ergebnis: fast alle kennen genug US-Amerikanerinnen, während europäische Feministinnen kaum bekannt sind. Auch Gertrude Mianda (2001, 155) zeigt die Machtdynamik von Sprachverhältnissen: Sie zitiert Awa Thiam aus dem Senegal, die schon 1978 auf Französisch dafür plädiert, dass der Kampf gegen das afrikanische Patriarchat gleichzeitig mit dem Kampf gegen Rassismus und Imperialismus geführt werden müsse und nicht einer vor dem anderen. Thiam war eine der ersten, die diese Koppelung forderte, aber ihre Thesen wurden, anders als die gleichlautenden von schwarzen Amerikanerinnen (The Combahee River Collective [1977] 1979; Crenshaw 1989), in angelsächsischen Ländern nicht gelesen und nicht aufgegriffen. Während die letzteren als innovativer und weiterführender Beitrag zur feministischen Theorie gewertet werden, ist Thiams Beitrag fast nur unter französischsprachigen Feministinnen in Afrika bekannt. Wissen, das in der einen Region oder Sprache als selbstverständlich vorausgesetzt wird, kann also in einer anderen umstritten oder sogar unbekannt sein, während die uns zugänglichen vorherrschenden Theorien möglicherweise nichts über die Verhältnisse in anderen Regionen aussagen. Jeder Versuch, die Geschichte des marxistischen Feminismus als Teil heutiger antikapitalistischer Strategien wiederzugewinnen, muss in der Dialektik von Lokalem und Globalem die Probleme der Sprache, der Übersetzung4 und der Interpretation5 beachten.

 

Die Frauenbewegung und der marxistische Feminismus

In der allgemeinen Radikalisierung der Linken, die in den 1960er Jahren in vielen Ländern vor sich ging und bis in die 80er Jahre hinein lebendig blieb, radikalisierten sich viele Frauen zu Marxistinnen und Sozialistinnen und zugleich als Frauen. Sie gehörten zu den sozialistischen, kommunistischen und anderen linken fortschrittlichen Bewegungen der Zeit. Sie engagierten sich für die antiimperialistischen Kämpfe in Algerien, Mozambique und Vietnam, für die Bewegung der indigenen Völker für Landrechte und Selbstbestimmung, für die Bürgerrechtsbewegung in den USA und antirassistische Aktionen in Kanada und Quebec, für die Arbeitskämpfe und die Anti-Armutsbewegung in vielen Ländern. Die zweite Frauenbewegung teilte die meisten Ziele der ersten, in der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften verankerten Frauenbewegung und der Frauenrechtsorganisationen, deren Anfänge bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreichen.

Für viele junge Frauen, besonders in Westeuropa und Nordamerika kamen noch mindestens drei weitere Beweggründe hinzu: Sie waren entsetzt über das eingeschränkte Leben der meisten ihrer Mütter und strebten nach ›mehr‹ – was durch die erweiterten Bildungsmöglichkeiten und den wachsenden Arbeitsmarkt für Frauen möglich schien (Robbins u.a. 2008). Aber sie konnten sich kaum vorstellen, wie dieses ›mehr‹ aussehen könnte. Anders als die reformistische Mehrheit der Frauenrechtsbewegung träumten sie von einer kooperativen klassenlosen Gesellschaft. Sie waren empört über den offenen Sexismus und die Feindseligkeit, die ihnen besonders von ihren linken Genossen entgegenschlug. Der Widerstand gegen die Frauenbewegung war von Beginn an heftig, und zwar nicht nur in Politik und Medien, sondern auch in den Reihen der männlichen Linken. Die von Frauen eingebrachten Punkte wurden ignoriert, sie selbst lächerlich gemacht und gedemütigt, um sie aus der Politik rauszuhalten. Als 1964 Ruby Doris Smith Robinson die Stellung der Frau und die Behandlung von Bürgerrechtlerinnen im gewaltfreien Koordinationskomitee der Studenten (SNCC) kritisierte, antwortete Stokely Carmichael, einer der Hauptführer der Bewegung: »Es gibt nur eine Stellung für Frauen bei uns: auf dem Rücken.« Die Frauen wehrten sich mit Kritik an der Unzulänglichkeit linker Politik und forderten die männlich dominierte Linke auf, sich mit ihrem tiefsitzenden Sexismus und ihren autoritären Traditionen auseinanderzusetzen.

Die Frauen suchten nach neuen Wegen, ihr Frau-sein zu leben, und wandten sich gegen die Ablehnung individueller Rechte, die in einigen sozialistischen Varianten vorherrschten. Dabei bezogen sie sich auf die Arbeiten über kulturelle Herrschaft von antiimperialistischen Autoren und Black-Power-Intellektuellen wie Franz Fanon, Elridge Cleaver und Stokely Carmichael. Aber es gab kaum Vorstellungen, was neue Formen weiblicher Identität und Persönlichkeit sein könnten. Viele Frauen wollten Stärke, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung, während sie mit Unsicherheit, Angst und ihrem Bedürfnis nach vornehmlich männlichem Schutz kämpften. Ihre Wut über den alltäglichen Sexismus störte für viele Frauen die sexuelle und emotionale Beziehung zu Männern. Beziehungen zu anderen Frauen wurden zumeist durch verinnerlichte Homophobie blockiert. Die zwanghafte Abhängigkeit von Männern zu beenden und die Fähigkeit von Frauen für ein selbstbestimmtes Leben zu stärken, sei es als Lesben oder auf Augenhöhe mit Männern, wurde zu einem Hauptkampffeld der Frauenbefreiung. Ein komplexer Satz von Forderungen kam auf die Tagesordnung: Veränderung der sexuellen Gewohnheiten und reproduktive Rechte; Zugang zu den Voraussetzungen ökonomischer Unabhängigkeit – Bildung, gute Arbeit und gleicher Lohn. Männergewalt gegen Frauen musste ebenso bekämpft werden, wie um Identitäten und Beziehungen gerungen wurde. Dazu gehört auch, dass die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen gesichert wird, ohne Frauen zu bestrafen, die dies in Familie tun und deshalb ihren Beruf aufgeben.

Viele linke Feministinnen fühlten sich überall als Außenseiter: von der Normalgesellschaft und oft auch von ihren Familien wegen ihres politischen Engagements geschnitten, aber auch von anderen Feministinnen wegen ihrer marxistischen Überzeugungen und von vielen männlichen Marxisten wegen ihres Feminismus angefeindet. Erst als die Schriften der frühen Frauenrechtlerinnen wieder aufgelegt wurden, wurde den Frauen der 70er Jahre klar, dass frühere Frauengenerationen die gleichen Kämpfe ausgefochten hatten. Die Leben von Alexandra Kollontai, Inessa Armand, Rosa Luxemburg, Emma Goldman und Simone de Beauvoir waren Geschichten von persönlichem Leid und Schmerz, wie sie die meisten Sozialistinnen erfuhren. Dass wir fast nichts über diese Frauen wussten, »erschien wie eine Verschwörung, um den Alltag und die Frau zu verschweigen« (Rowbotham 2001, 242). Die Kenntnis vom Leben dieser »von der Geschichte versteckten« Frauen (dies. 1977) half den Bewegungsfrauen, ihre eigenen Erfahrungen als politisch zu begreifen, sich zusammenzuschließen und so vor der doppelten Entfremdung zu schützen, die sie so oft als Feministinnen unter Linken und als Linke in der Frauenbewegung erlebt hatten. Das Gefühl schwesterlichen Zusammenhalts in Kollektiven und als Teil einer linken Frauenbewegung machte die Erfahrungen dieser neuen Generation von Frauen anders und erträglicher.

 

Marxistisch-feministische Organisierung und Mobilisierung: 1960–1970

Dieses Jahrzehnt war voll von basisdemokratischen Organisierungen und Massenmobilisierungen, da Frauen in großer Zahl auf die Straße gingen und sich in direkten Aktionen für ihre Befreiung engagierten. Sie bildeten Selbsterfahrungs- und Schulungsgruppen und gaben entsprechende Materialien heraus. Ihre Aktionen waren Hilfe bei Abtreibung, Gründung von Frauen-Gesundheitszentren, politisches Theater, Kindergärten, Frauenhäuser für geschlagene und vergewaltigte Frauen. Sie kämpften für gleichen Lohn und für das Recht auf Erwerbsarbeit und stritten innerhalb der Gewerkschaften um die Anerkennung von Frauenfragen; sie richteten Frauenstudien ein (Rebick 2005). Mit dem Slogan: »Kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung! Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus!« wurde eine starke marxistisch-feministische Strömung für diese Frauenbewegung zentral.

Sie folgte vier Leitsätzen: Erstens, dass die Befreiung der Frau Teil der Befreiung aller ist; solange auch nur ein einziger Mensch unterdrückt oder ausgebeutet ist, wir alle gefährdet sind. Zweitens, dass für den Sturz der herrschenden Eliten und vorhandenen Strukturen Massenmobilisierung, breite Bündnisse und eine Solidaritätspolitik nötig sind, die wahrhafte Demokratie anstreben – die wir uns derzeit nicht einmal vorstellen können. Drittens, dass die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen und politisch handeln, wie wir hier und jetzt leben, unweigerlich die Zukunft prägen wird, um die es uns geht. Deshalb können wir mit der Veränderung unseres Lebens nicht ›bis nach der Revolution‹ warten. Wir sind dafür verantwortlich, unsere Politik schon jetzt zu leben, wie schwer das auch sein mag. Viertens, dass der Kapitalismus von der unbezahlten fürsorgenden Arbeit der Frauen abhängt und jede antikapitalistische Politik dies zum Hauptgegenstand machen muss, um erfolgreich zu sein.

Diese neue marxistisch-feministische Strömung wies jede Einschränkung von Frauengleichberechtigung zurück und zeigte, dass Gleichheit im Alltag nicht durch einfache gesetzliche, politische oder institutionelle Reformen erreicht werden kann. Scharf kritisierten sie »das System« – womit sie die Gesamtgesellschaft meinten, die dem Kapitalismus notwendig innewohnende Ausbeutung, den industriell-militärischen Sektor, alle Institutionen, alle kulturellen Praktiken und normativen Werte. Es war offenkundig, dass sie die gesamte Organisation der Gesellschaft verändern mussten, von den großen kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen bis zu den persönlichen Beziehungen. Sie suchten nach Begriffen, um die Macht der herrschenden Annahmen zu bestreiten und die genauen Einzelheiten der Unterordnung aufzudecken. Sie träumten von einer anderen Welt ohne Hierarchien und Ungleichheit. Sie versuchten alternative Lebensformen – mit egalitären persönlichen Beziehungen, demokratisch mitbestimmenden Kollektiven und nicht-profitorientierten Werkstätten, gemeinsam kontrolliert von Arbeit und Konsum, als mögliche Vorwegnahme der egalitären Gesellschaft, die sie zu errichten hofften.

Aber viele, die in diesen Jahren zum marxistischen Feminismus kamen, wussten wenig bis gar nichts über frühere linke feministische Bewegungen und hatten wenigstens anfänglich keine Vorstellung davon, dass ihr Tun Teil einer umfassenderen geschichtlichen Bewegung war. Sie trafen sich in kleinen lokalen Gruppen und glaubten, ihre Politik autonom und erstmalig in der Geschichte zu erfinden. Die neuen linken Frauen in der Bewegung in Kanada erkannten, dass die Mehrheit der Frauen Hausfrauen waren und versuchten nun die Stellung der Frau mithilfe der marxschen Analyse des Kapitals zu verstehen (Benston 1969; Seccombe 1974). Sie waren beflügelt von den neuen theoretischen Ansätzen der Hausarbeitsdebatte und den Möglichkeiten, damit Hausfrauen zu mobilisieren (Luxton 1980). Erst später, als feministische Sozialhistorikerinnen frühere Bewegungen erforschten, erfuhren sie, dass die gleichen Debatten in Großbritannien und auf dem Kontinent bereits in den 1840ern stattgefunden hatten. Weil die Geschichte der früheren sozialistischen Bewegungen unterdrückt worden und daher für sie nicht zugänglich war, hatten sie »das Rad neu erfinden müssen« (Taylor 1983).6

Als sie die Geschichte der kommunistischen und sozialistischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts studierten, waren ihre Entdeckungen widersprüchlich. Eine zentrale Prämisse marxistischer Theorie und kommunistischer Politik ist, dass die Unterdrückung der Frau das Ergebnis bestimmter historischer und gesellschaftlicher Verhältnisse ist und durch neue gesellschaftliche Verhältnisse umgestürzt werden könnte, in denen die familiäre Verantwortung aufhören würde, eine private Verpflichtung der Frauen zu sein, sondern statt dessen eine kollektive gesellschaftliche Verantwortung, und Frauen dann voll in die Arbeiterschaft integriert würden. Frauen hatten in den meisten revolutionären Bewegungen und den meisten kommunistischen und sozialistischen Staaten Schlüsselrollen inne, die Gleichheit der Frau wurde ausdrücklich unterstützt und der Zugang zu Bildung und Beruf gefördert. Unter dieser Perspektive waren Marxismus und kommunistische Bewegung für die engagierten Frauen der Bewegung anziehend.

Trotz der alten kommunistischen Forderung nach Vergesellschaftung der Hausarbeit wurde jedoch in den meisten kommunistischen Ländern die Gleichberechtigung der Frau schon als vollbracht gesehen, sobald sie in die Arbeiterschaft eingegliedert war. Wenig bis gar nichts geschah, um den Frauen die häusliche Bürde zu erleichtern oder die geschlechtliche Teilung der Arbeit in Frage zu stellen. Und trotz der langen Tradition innerhalb des Kommunismus, die private Kleinfamilie zu kritisieren, wurde die Entwicklung kollektiver oder kommunaler Wohnformen, gemeinschaftlicher Kindererziehung oder alternativer zwischenmenschlicher Beziehungen als Beitrag zur Vorwegnahme einer zukünftigen kommunistischen Welt kaum gefördert. Linke Versuche in dieser Richtung vom Anfang des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion, in Palästina und Israel und weiteren kommunistischen und sozialistischen Ländern wurden für die antikapitalistische Politik des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts als der Überlieferung nicht wert erachtet. Die Kämpfe der marxistischen Feministinnen des frühen 20. Jahrhunderts um Vergesellschaftung von Hausarbeit und vor allem von Erziehung und Pflege wurden vergessen, dass sie nicht zum Zuge kamen, wurde für nicht nennenswert erachtet. In diesem Zusammenhang dämmerte es den Frauen der Bewegung, welch gewaltige Widerstände sie zu gewärtigen hatten.

Dennoch war das politische Handeln der sozialistischen Frauenbewegung in den 1960er und 70ern erfüllt von Hoffnung und Möglichkeiten. Sie erfuhren die Erfolge ihrer kollektiven Arbeit und sahen die Veränderungen, die sie möglich gemacht hatten (Adamson/Briskin/McPhail 1998; Rebick 2005). Für einen kurzen Augenblick hatten die Frauen eine Zukunft vor Augen, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung war. Sie griffen Herrschaftsstrukturen an, die auf Geschlecht, Rasse oder Klasse gründeten, und stellten sich eine Wirtschaftsweise vor, die auf Zusammenarbeit und nicht auf Wettbewerb beruhen sollte. Zentral für diese Vision war die Erkenntnis, dass die kapitalistische Wirtschaft existenziell von der unbezahlten Sorgearbeit abhängig ist, die die meisten Frauen und einzelne Männer verrichten. Die Fürsorge für Menschen ist eben nicht nur eine private Tätigkeit, die mit engen persönlichen und familiären Bindungen einhergeht, sondern sie ist gesellschaftlich notwendige Arbeit, die unabdingbar für das Bestehen und den Wohlstand jeder Gesellschaft ist. Diese unbezahlte Sorgearbeit, welche die für den Kapitalismus notwendige Arbeiterklasse produziert, stützt den privaten Profi t und die Arbeitsteilung, die diese Arbeit zum zentralen Lebensinhalt für Frauen gemacht hat. Sie ist der Schlüssel zu ihrer Unterdrückung und Unterordnung.

Dieser Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Arbeiterklasse und der Unterdrückung der Frauen brachte die neue Generation von marxistischen Feministinnen dazu, die Kämpfe darum für zentral für die Hegemonie des Kapitalismus zu halten. Unter der Annahme, dass die vorherrschende heterosexuelle Kleinfamilie Frauen und Kinder, aber letztlich auch Männer unterdrückt, dass sie antisozial ist, Individualismus und Konkurrenz fördert und Zusammenarbeit und Kollektivität untergräbt, und dass sie für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Klassenungleichheiten zentral ist, bestand die Frauenbewegung darauf, dass keine Familienform privilegiert werden solle, der Staat persönliche Beziehungen nicht durch Heirat regulieren dürfe, dass Kinder kollektiv erzogen und Pflegebedürftige kollektiv versorgt werden müssten (Barrett/McIntosh 1982). Inzwischen gibt es zahlreiche Untersuchungen und es wurde begriffen, dass die unbezahlte Reproduktion der Arbeitskraft und damit der arbeitenden Bevölkerung auf der ganzen Welt eine Grundvoraussetzung der Kapitalakkumulation ist.

Doch wurde die Analyse des marxistischen Feminismus zur Zentralität der Produktion und Reproduktion von Arbeitskraft für das Überleben des Kapitalismus nicht ernsthaft in die gegenwärtigen antikapitalistischen Kämpfe aufgenommen. Die dies befürworten, begegnen erheblichem Widerstand, nicht nur von Seiten der Verteidiger des Kapitalismus, sondern auch von Männern – und sogar einigen Frauen – der Linken. Sozialistischen Feministinnen wird immer wieder entgegengehalten, das Beharren auf ›Frauenfragen‹ sei spaltend und schwäche die antikapitalistische oder antiimperialistische Bewegung. »Darum kümmern wir uns nach der Revolution«, vertröstet man sie. Tatsächlich sind die meisten antikapitalistischen Initiativen nur darauf ausgerichtet, Lohnarbeiter gegen ihre kapitalistischen Arbeitgeber zu organisieren, mit militärischen Mitteln die Macht im Staat zu übernehmen oder sozialdemokratische Parteien zu gründen, die an Wahlen teilnehmen können. Fragen, die mit dem Alltag der meisten Frauen der Arbeiterklasse, der in Armut lebenden und sogar der zur Mittelklasse zählenden Frauen zu tun haben, fallen unter den Tisch. Ich möchte behaupten, dass diese Engführung die antikapitalistischen Kämpfe schwächt. Wir müssen die geschichtlichen Erfahrungen der linken feministischen Politik zurückgewinnen, darauf aufbauen und eine Politik entwickeln, die die Fragen der sozialen Reproduktion aktiv aufgreift.

 

Marxistischer Feminismus und gesellschaftliche Reproduktion

Damit die kapitalistische Wirtschaft funktioniert, muss sich der Arbeitgeber darauf verlassen können, dass die Arbeitenden täglich pünktlich und einigermaßen einsatzfreudig zur Arbeit erscheinen. Sie müssen hinreichend erzogen, gebildet und gesund sein, um arbeiten zu können. Außerdem werden neue Generationen als Ersatz für durch Krankheit, Tod oder Rente ausgeschiedene Personen gebraucht. Marx erklärt: »Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen. Er sorgt nur dafür, ihre individuelle Konsumtion möglichst auf das Notwendige einzuschränken.« (MEW 23, Kapital 1, 598) Marxistische Feministinnen halten dagegen, dass sowohl die Produktion als auch die Reproduktion der arbeitenden Bevölkerung theoretisch erarbeitet werden muss und nicht als selbstverständlich gegeben betrachtet werden kann. Sie zeigen, wie viel Arbeit für die Versorgung der Arbeitenden und der nachrückenden Generation – Schwangerschaft, Geburt, Kindererziehung – anfällt und dass diese Arbeit keineswegs üblicherweise von den Lohnarbeitern selbst erledigt wird. Sie haben den Ausdruck »soziale Reproduktion« zum Begriff all der Tätigkeiten gemacht, die zur Herstellung der arbeitenden Bevölkerung nötig sind (Bezanson 2006). Dazu gehören Empfängnis und Geburt, Kindererziehung, die zahllosen Arbeiten, die jeden Tag für die Versorgung der einzelnen ausgeübt werden (z.B. einkaufen und kochen, putzen und waschen), aber auch die Dienste, die von öffentlichen Trägern übernommen werden wie etwa Erziehung oder Gesundheit, Sorge für Arbeitslose und Wohlfahrt, und auch durch den Markt, an dem man private Dienste kaufen kann. So gesehen finden sich die Kämpfe um die Kosten der sozialen Reproduktion im Herzen des Klassenkampfes und sind zentral für den Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen und anderer benachteiligter Menschen.

Wie sich die Verantwortung für die soziale Reproduktion auf die privaten Haushalte, den Staat oder die Märkte verteilt, hängt an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten davon ab, wie weit die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft ihre Rechte durchsetzen können. Die Arbeitskämpfe des 20. Jahrhunderts führten in Nordamerika und Europa zu Wohlfahrtsstaaten. Deren Politik hatte u.a. das Ziel, die in der kapitalistischen Wirtschaft unvermeidlichen Lohnunsicherheiten abzufedern und hat damit zu einer Verbesserung des Lebensstandards großer Teile der Bevölkerung geführt. Die Arbeiterbewegung konnte in vielen Ländern höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen. Bürgerinitiativen und indigene Bewegungen haben dafür gestritten, dass lebenswichtige Ressourcen (wie etwa Wasser oder Land) in öffentlichem Eigentum blieben und nicht meistbietend verkauft wurden. Frauengruppen haben um Zugang zu Bildung, bezahlter Arbeit und um Bürgerrechte für Frauen gekämpft und gesellschaftliche Unterstützung für ihren Beitrag zur sozialen Reproduktion eingefordert (Empfängnisverhütung, Abtreibung, für das Recht und die wirtschaftlichen Mittel, Kinder großzuziehen, Mutterurlaub).

Dennoch ist es den Kapitalisten und ihren Unterstützern gegen Ende des 20. Jahrhunderts gelungen, diese Errungenschaften in Frage zu stellen und die politische und ökonomische Herrschaft der kapitalistischen Eliten erneut zu stärken. Unter dem Etikett der freien Marktwirtschaft konnten sie sich mit Hilfe ihrer neoliberalen Philosophie und Strategie größeren Reichtum aneignen – durch niedrigere Löhne, Kürzung der Sozialleistungen und durch Beschneidung der globalen Verteilung und des allgemeinen Zugangs zu den Ressourcen (besonders durch Steuern und Zölle). Der Neoliberalismus braucht die Ausbeutung der Arbeiterklasse in der ganzen Welt; seine Befürworter müssen mit allen Mitteln jeden Versuch einer gerechten Verteilung des Reichtums verhindern. Sein Erfolg hängt wesentlich davon ab, die Verantwortung für die soziale Reproduktion auf die einzelnen abzuwälzen, sei es durch Überreden oder durch Zwang (Bezanson/Luxton 2006). Die Angriffe des Neoliberalismus waren in den letzten dreißig Jahren sehr erfolgreich, nicht nur in den Wohlfahrtsstaaten, sondern auch bei der Verhinderung von Entwicklungsprogrammen in den armen Ländern.

 

Zusammenfassung

Im Zentrum der neoliberalen Versuche zur Konsolidierung der Hegemonie des Kapitalismus steht das Bemühen, die Existenz von Klassengegensätzen und von systembedingter rassistischer Ausbeutung ebenso zu leugnen wie die Bedeutung der unbezahlten Reproduktionsarbeit von Frauen für den Erhalt des kapitalistischen Systems. Der Neoliberalismus muss die Ideale und Versprechen des feministischen antirassistischen Sozialismus so heftig wie möglich verteufeln und versuchen, fortschrittliche Widerstandsbewegungen wie beim G20-Gipfel, Occupy und Idle No More klein zu halten oder ganz zu verhindern. Er muss die geschichtliche Überlieferung alternativer Bewegungen unter allen Umständen unterdrücken und ihre Visionen von einer anderen Gesellschaft auslöschen.

Der marxistische Feminismus bietet eine schlagkräftige Kritik an der freien Marktwirtschaft und hat eine alternative Vision. Er verlangt von uns, einige unserer grundlegenden Vorstellungen infrage zu stellen: von persönlicher Lebensgestaltung, Sexualität, Familien- und Haushaltsmodellen, privater Kindererziehung, ehelichen Praxen und Gesetzen über familiäre Einkommensregelungen, die die geschlechtliche Arbeitsteilung unterstützen und in erster Linie Frauen zu Verantwortlichen für die unbezahlte familiäre Versorgung machen. Durch sie werden Klassenverhältnisse zementiert und mit ihr die Existenz einer einsatzfähigen arbeitenden Bevölkerung, die ihre Arbeitskraft verkaufen muss, um leben zu können.

Aus dem Englischen von Frigga Haug und Edeltraud Schwabedissen

 

Literatur

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1 Zur Analyse des sozialistischen Feminismus und seiner Beziehung zum Marxismus in Kanada siehe Adamson u.a. 1988, Luxton 2001, Rebick 2005. Kanadische Arbeiten werden außerhalb der Landesgrenzen kaum wahrgenommen, daher habe ich für diesen Beitrag möglichst viele kanadische Quellen herangezogen. Das komplette (hier gekürzte) Literaturverzeichnis kann von der Autorin angefordert werden: »mluxton@yorku.ca«.

2 Die wichtigste Bewegung in Kanada und Quebec ist zur Zeit der »Idle No More«-Protest der Urbevölkerung und ihrer Unterstützer gegen die Nicht-Einhaltung der Verträge (u.a. um Landrechte) durch die kanadische Bundesregierung.

3 Der Marsch wurde von Coretta Scott King, der Witwe Martin Luther Kings, angeführt und war Teil der durch seine Ermordung ausgelösten Protestbewegung. Als ›Arme-Leute-Kampagne‹ ist er zwar in die Geschichte der US-amerikanischen Bürgerbewegung eingegangen, aber nicht zum Bestandteil der Frauengeschichte geworden.

4 Professor Barbara Crow stellte die provozierende Frage, welche Auswirkungen es gehabt hätte, wenn das Buch von Simone de Beauvoir von 1952, das die Theorie des englischsprachigen Feminismus grundlegend beeinflusst hat, bereits in den 50er Jahren in der Übersetzung von 2010 zugänglich gewesen wäre.

5 Der Poststrukturalismus und der mit ihm verbundene ›linguistic turn‹ haben die ›großen Erzählungen‹, wie sie z.B. auch feministische Marxistinnen pflegen, problematisiert. Mit dieser Kritik muss sich jede neue marxistisch-feministische Bewegung auseinandersetzen.

6 Träume von kooperativen Zusammenschlüssen und gemeinsamem Leben im Gegensatz zu konkurrenzbetontem Individualismus sind so alt wie der Kapitalismus und das Aufkommen liberaler Theorie und Praxis. Zu den Vorreitern gehören radikale Denker wie Tom Paine im 18. Jahrhundert, Sozialisten wie William Thompson im frühen 19. Jahrhundert (1823), Robert Owen als Befürworter der Kooperative, der utopische Gemeinschaftsrechtler Charles Fourier und viele andere, deren Denken und Arbeiten von ihnen beeinflusst worden ist. Umgesetzt wurde der Gemeinschaftsgedanke von der Pionierbewegung der Kibbuzim im frühen 20. Jahrhundert bis zu ihren heutigen Nachkommen in Israel, von Zusammenschlüssen wie den religiösen konservativen Hutterern und Mennoniten bis zu den radikalen Verfechtern der Freien Liebe wie Oneida Mitte des 19. Jahrhunderts (1848-1879), den Hippies des 20. Jahrhunderts oder der »Zurück aufs Land«-Bewegung (Kanter 1972).

 

© DAS ARGUMENT 303/2013, 508-521