Zum 100. Geburtstag: Kulturkampf um Albert Camus

In Frankreich vereinnahmen die gegensätzlichsten Strömungen den Theoretiker der Revolte

Am 7. November 2013 jährt sich der Geburtstag von Albert Camus (1913-1960) zum einhundertsten Mal. In Frankreich ist er heute der mit großem Abstand am meisten gelesene Autor der Nachkriegszeit: „Der Fremde“ und „Die Pest“ nehmen seit Jahren Platz eins und zwei der Verkaufszahlen ein. Weil Camus von 1957-1960 im provença­lischen Dörfchen Lourmarin, rund 60 km nördlich von Marseille, gelebt hat und dort auch begraben ist, war Camus die wichtigste Karte bei der Bewerbung von Marseille im September 2008 für das Spektakel der europäischen Kulturhauptstadt 2013 gewesen.

 

Tatsächlich heißt das Terrain der Kulturhauptstadt denn auch Marseille-Provence und schließt damit den Bestattungsort Camus’ mit ein.

Seit dieser Bewerbung hat es einen unausgesetzten, in vielerlei Hinsicht grotesk anmutenden Kulturkampf um die jeweils als „richtig“ angesehene Interpretation des politischen Erbes Camus’ gegeben. Jede Partei und Strömung war und ist – zum Teil mit erheblichen Verrenkungen, oft mit großer Unkenntnis und nicht zuletzt manchmal mit glatten Unwahrheiten dabei, Camus als Fackelträger der eigenen Ideologie oder politischen Strömung für sich zu vereinnahmen.

Das geht von ehemaligen Alge­rienfranzosen der nationalrevo­lutionären Rechten über die Präsidenten Sarkozy und Hollande – beides öffentlich bekennende Camus-Liebhaber – und endet bei Interpretationen Ca­mus’ als „libertärem Linken“ (Historiker Benjamin Stora) noch lange nicht. Ich nehme mich dabei nicht aus, denn ich mische da in der französischen Öffentlichkeit inzwischen als anarchistisch-gewaltkritischer Camus-Interpret ordentlich mit.

Das Interessante an diesem Kulturkampf um Frankreichs bekanntesten Schriftsteller ist meiner Meinung nach, dass durch eine libertäre Interpretation seiner Werke und durch die Veröffentlichung der Artikel, die Camus in französischen und spanischen anarchistischen Zeitungen publiziert hat (Solidaridad Obrera, Le Liber­taire, Le Monde libertaire, Té­moins, Liberté, Défense de l’Homme, La Révolution prolé­tarienne), libertäre Inhalte über das Vehikel Camus weit in die bürgerliche Öffentlichkeit hineingetragen werden können – zumal es viele Leute sehr interessiert, betrifft das doch den einzigen Bereich seines Werkes, der bisher weithin unbekannt geblieben ist.

Es ist eigentlich schon ein Erfolg dieser Bemühungen, im Diskurs um Camus ernst genommen zu werden und den libertären politischen Hintergrund von Camus als eine legitime und nicht mehr übersehbare Interpretationsmöglichkeit etabliert zu haben. (1)

 

Der Streit um die Überführung der Leiche Camus’ ins Pariser Pantheon

Angefangen haben diese fünf Jahre Kulturkampf noch unter Präsident Sarkozy. In einem Privatgespräch hat ihm der Philosoph Michel Onfray den Floh ins Ohr gesetzt, Camus doch seines Grabes in Lourmarin zu exhumieren und ihn als Natio­nalschrifsteller in das Pariser Pantheon zu überführen, wo er dann neben Victor Hugo, Jean-Jacques Rousseau oder Alex­andre Dumas liegen sollte. Der medienbekannte Michel Onfray stellt sich übrigens selbst  öffentlich seit Jahren als „Libertärer“ dar, er tritt als solcher im französischen Fernsehen min­destens so oft auf wie Peter Sloterdijk im deutschen Fernsehen. Keine anarchistische Strömung oder Organisation, von denen er sich wohlweislich fernhält, hat ihn je dazu legitimiert, im Namen der Libertären medial zu sprechen – wohl aber fühlten sich einige Libertäre einige Jahre lang geschmeichelt, wenn er als „Libertärer“ im Fernsehen als – vor allem – Theoretiker des Atheismus ja auch manch­mal nicht Unkluges von sich gab.

Das hat sich aber in den letzten Jahren verändert. Als 2010 On­frays Buch „L’Ordre libertaire. La vie philosophique d’Albert Camus“ (wörtlich: Die libertäre Ordnung. Das philosophische Leben von Albert Camus) erschien (2), hatte ich es in der anarchistischen Wochenzeitung „Le Monde libertaire“ grundsätzlich kritisiert, was ei­ne zwar kontroverse, aber ins­gesamt fruchtbare und klärende Diskussion in anarchistischen Kreisen über Vor- und Nachteile eines selbsternann­ten „Libertären“ in Fernsehtalkshows auslöste. (3)

Inhaltliche Gründe dafür lagen erstens in seinem offenbar kon­kurrenzorientierten Schlechtmachen aller Arbeiten von Ak­tivistInnen aus der anarchistischen Bewegung, die zu Camus seit dessen Tod erschienen wa­ren; zweitens im absichtlichen Ignorieren wichtiger Quellen und Seminare, bei denen er selbst keinen Starauftritt hatte, wie etwa das Colloquium zum libertären Camus im Jahre 2008 in Lourmarin und den dazugehörigen Tagungsband; drittens das Fehlen der Behandlung des Einflusses, den die anarchosyndikalistischen Schriften Si­mone Weils (4) auf Camus ausübten; und viertens eine gera­dezu abenteuerliche Spekulation auf den letzten 60 Seiten seines Buches darüber, wie wohl die Position Camus’ heute aussehen würde.

 

Camus – ein libertärer Kapitalist?

Dabei unterstellte Onfray, Ca­mus würde heute einen „capi­talisme libertaire“ (libertären Kapitalismus) propagieren, wo­für es in seinen Schriften nir­gends auch nur den geringsten Hinweis gibt.

Im Gegenteil: Camus verfocht zeit seines Lebens immer einen „socialisme libertaire“ oder schrieb etwa: „La propriété, c’est le meurtre“ („Eigentum ist Mord“, eine Radikalisierung von Proudhons „Eigentum ist Diebstahl“) – während Onfray fatalistisch schrieb, Eigentum habe es immer schon gegeben und werde es auch immer geben. Diese bereits vorher und zu anderen Anlässen medial von Onfray ausgeübte Propaganda eines „libertären Kapitalismus“ erklärt denn auch, warum für ihn der Zugang zu Sar­kozy so leicht war und ihm dieser sogar eine Privataudienz gewährte.

So ist denn auch typisch für Onfray, libertäre Diskurse oder Projekte unter Umgehung jeder Diskussion mit der libertären Bewegung mit meist für Libertäre unmöglich zu akzeptierenden Personen zu initiieren. Sar­kozy nahm sofort seinen Vorschlag der Überführung Camus’ ins Pantheon auf, bezeichnete sich medienwirksam als Camus-Fan und interpretierte Camus als braven Vertreter demokratisch-kapitalistischer Freiheit, als Vertreter seines herrschenden Status Quo also.

Zu entscheiden hatten die Überführung zum Glück die noch lebenden Kinder Camus’, die Zwillinge Jean und Cathe­rine, welche die Nachlassrechte innehaben und beide zustimmen müssen, damit solche Projekte durchgeführt werden können. Catherine bekam viel zustimmende Post von LeserIn­nen der Romane Camus’ und sprach sich nach langem Zögern für die Überführung aus (heute ist sie öffentlich froh da­rüber, dass es nicht dazu kam). Von einigen Intellektuellen und linken bis libertären Camus-In­terpretInnen wurde jedoch eine Gegenposition in die Öffentlichkeit getragen, die bereits da­mals nicht zu übersehen war – ob sie jedoch letztlich entscheidend für Jeans Veto gegen die Überführung war, ist zweifelhaft. Immerhin wandte sich Jean mit demselben Argument wie die Libertären gegen die Überführung: Dass sich nämlich Ca­mus vor allem in den Nachkriegsjahren als Gegner des Nationalismus bezeichnet hat und zum Beispiel antinationa­listische Kampagnen wie die von Garry Davis aktiv unterstützt hatte, der 1948 in Paris seinen Pass öffentlich zerriss und sich als Weltbürger erklärte; dass also Camus als Natio­nalheld nicht taugte. Letztlich lag es am nicht widerrufenen Veto von Jean, dass der Sarko­zy-Onfray-Plan scheiterte. Aus anarchistischer Sicht war das schon mal nicht schlecht.

 

Die Diskussionen um zwei gescheiterte Groß-Ausstellungen zu Camus

Doch es kam noch besser: Höhepunkt und Abschluss des Jahres der europäischen Kul­turhauptstadt Marseille-Provence sollte schon nach den Planungen bei der Bewerbung eine große Camus-Ausstellung in Aix-en-Provence werden (ca. 20 km nördlich von Marseille). Den Zuschlag als Gestalter der Ausstellung bekam ursprünglich Benjamin Stora, seines Zeichens anerkannter Historiker des Algerienkrieges, der politisch nach 1968 aus trotzkis­tischen Gruppen um den Wiederaufbau der IV. Internationale kam.

Er entwarf ein Konzept mit fünf Ausstellungsbereichen, wobei die Positionierung Camus’ zum Algerienkrieg nur ein Bereich war. Trotzdem kam es nun schnell zum Streit darüber, ob die Ausstellung eine Schwer­punktausstellung zu Algerien werden würde und andere wichtige Aspekte Camus’ nicht ausreichend gewürdigt würden.

Nun entstand ein undurchsichtiges Geflecht von Entscheidungen und Interessen, deren ProtagonistInnen waren: die Leitung der Kulturhauptstadt von Marseille, die Bürgermeisterin Maryse Joissaince von Aix, die Rechte- und Archivin­haberin Catherine Camus und – wieder einmal – Michel On­fray. Dazu muss man nun wissen, dass erstens Benjamin Sto­ra als qualifizierter Historiker zwar kaum anfechtbar ist, trotzdem aber heute, nach seiner Abwendung vom Trotzkismus (5) eine offensichtliche Nähe zum Parti socialiste (Sozialistische Partei) und zur Regierung Hollande nicht verhehlt. Ganz sicher, das ist mehrfach belegt, war diese Tatsache der Bürgermeisterin von Aix ein Dorn im Auge (inwiefern das auch bei Catherine Camus und der Leitung der Kulturhauptstadt in Marseille der Fall war, bleibt für mich bis heute undurchsichtig). So wurde Benjamin Stora als Verantwortlicher der Ausstellung 2012 ohne Begründung abgesetzt – Drahtzieherin war die Bürgermeisterin von Aix, ei­ne unmögliche und kreuzdumme Person, die zum Beispiel 2012 eine Veranstaltungswoche von unabhängigen Initiativen zum 50. Jahrestag der algeri­schen Unabhängigkeit verbot.

 

Interessen der Verbände alter Algerienkämpfer und der OAS

Joissaince gehört zu jener Hälfte der konservativen Partei UMP, die inzwischen offen für ein Re­gierungsbündnis mit dem neofaschistischen Front national (Nationale Front) von Le-Pen-Tochter Marine eintritt.

Hintergrund ist dabei, dass die kommunale Wählerbasis der Bürgermeisterin aus ehemaligen algerienfranzösischen Siedlerfamilien und deren Nachkommen besteht, die 1962 bei der Unabhängigkeit Algeriens mit viel Ressentiment geladen nach Frankreich zurückgekehrt sind, darunter auch einflussreiche Veteranenverbände der OAS (Organisation de l’armée sécrète, Organisation der Ge­heimarmee), die gegen De Gaul­le erst vom 21.-25. April 1961 putschte und dann – nach Niederschlagung des Putsches – Attentate gegen die von de Gaulle eingeschlagene Entko­lonialisierungspolitik durchführte. Der Bürgermeisterin und ihrer Wählerbasis war Stora ers­tens zu PS-nah, zweitens zu kritisch gegenüber der brutalen Repressionspolitik der französischen Armee im Algerien­krieg, welche die Bürgermeisterin selbst bisweilen sogar öffentlich verteidigt, nach dem Motto, das sei nur eine Handvoll Aufständischer gewesen und die Geschichte werde ihr noch recht geben!

Nun fand zufällig in dieser Zeit gerade eine Buchvorstellung von Onfray zu seinem Buch über Camus in Aix statt. Kur­zerhand präsidierte die Bürgermeisterin bei dieser Veranstaltung und überredete Onfray auch gleich, die Ausstellungsorganisation des geschassten Stora zu übernehmen, was On­fray sofort zusagte.

Peinlich für Onfray ist dabei Mehreres: Erstens, dass er sich von Maryse Joissains über­haupt dazu überreden ließ (oh­ne jede Rücksprache mit libertären Bewegungszusammenhängen oder auch nur mit Sto­ra), obwohl er Joissains’ politische Positionierung kannte; zweitens aber auch, dass sich die reaktionären algerienfran­zösischen OAS-Organisationen öffentlich für Onfray und gegen Stora aussprachen.

So meinte der Vorsitzende einer dieser Organisationen, Jean François Collin, bei Stora „kommt der Gemeinschaft der Algerienfranzosen das Kotzen“.

Demgegenüber sei seiner Meinung nach Onfray „tatsächlich ein wirklicher Fortschritt“. (6) Diese Reputation hatte sich Onfray u.a. damit verdient, dass er kurz vorher, bei einer Alge­rienreise in einer französisch­sprachigen algerischen Zeitung (El Watan, dt. Arabische Heimat) behauptet hatte, die französische Armee habe seit 1945 (Massaker von Sétif und Guel­ma) keine Massaker in Algerien mehr begangen – also wohl auch nicht während des Unab­hängigkeitskrieges? Und das im Namen eines Camus-Experten! (7)

Gleichzeitig gab es noch einen Sturm publizistischer und intellektueller Entrüstung gegen Storas’Absetzung, so dass On­fray angesichts dieses Klimas schon nach wenigen Wochen das Handtuch warf und auf die Ausstellungsleitung verzichtete. Eine entscheidende Rolle spielte dabei auch, dass auf­grund dieses Parteienstreits (SP-naher Stora gegen UPM-rechter-Flügel-Joissains) nach der Absetzung Storas alle staatlichen Zuschüsse (400.000 Eu­ro) für die Ausstellung von der PS-Kultusministerin Filippetti gestrichen wurden – und wir wissen ja, dass diese ganzen Profis bei ihren Projekten immer nur teure staatliche Zuschüsse verbraten können und sie, wenn ihnen keine Subventionen zur Verfügung stehen, strukturell unfähig sind, eine solche Ausstellung dann eben selbstorganisiert zu stemmen. Ohne staatliche Gelder war’s also vorbei mit Onfrays Bereitschaft.

 

Kleines Bonmot zum Schluss:

In einem ersten Konzeptent­wurf zur Ausstellung nach seiner Ernennung hatte sich On­fray schon gleich ein Nachfol­geprojekt einfallen lassen, das er Joissaince vorlegte und offensichtlich auch mit ihr verwirklichen wollte, nämlich tatsächlich ein „Haus der Anarchie“ in Aix, einer rechten Hochburg – selbstverständlich auch wieder ohne jede Rücksprache mit libertären Bewegungsakti­vistInnen, direkt an eine Bürgermeisterin gewandt, die ers­tens nicht weiß, was Anarchie ist und sie zweitens verbieten würde, wenn sie es wüsste.

Am Ende jedenfalls finanzierte die Bürgermeisterin von Aix im Hau-Ruck-Verfahren allein und aus kommunalen Geldern die jetzt von Anfang Oktober bis Ende Dezember laufende kleine Alibi-Ausstellung „Camus – Citoyen du monde“ (Camus – Weltbürger), die leider kaum et­was mit Antinationalismus zu tun hat und in ersten überregionalen Presseberichten bereits als Peinlichkeit sondergleichen kritisiert worden ist. (8)

 

Lou Marin

 

Anmerkungen:

(1): Vgl.: Albert Camus: Écrits libertaires (1948-1960), rassemblés et présentés par Lou Marin, Éditions Égrégores & Indigènes, Marseille/Mon­tpellier, 2. Aufl. 2013 (1. Aufl. 2008). Im Oktober erschien die dt. Übers.: Lou Marin (Hrsg.): Albert Camus – libertäre Schriften (1948-1960), Laika Verlag, Hamburg 2013

(2): Das Buch erschien ebenfalls im Herbst 2013, und zwar interessanter Weise unter dem Titel: Michel Onfray: Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, im Knaus Verlag, einem Random House/Bertelsmann – Ableger. Man sieht angesichts des nicht korrekt übersetzten Titels der französischen Ausgabe, dass der Verlag selbst noch das Adjektiv „libertär“ getilgt hat. Ich kann dieses Buch nicht empfehlen, in dem der individuelle Hedonismus Onfrays mit Anarchie verwechselt wird. Aber das soll jede/r LeserIn selbst entscheiden

(3): Für Französischkundige: Lou Marin: „Onfray contre les libertaires. Michel Onfray contre l’his­toriographie anarchiste dans son livre sur Albert Camus“, in: Le Monde libertaire, Nr. 1658, vom 2.-8. Febr. 2012, S. 15-17

(4): Camus hat als Lektor beim Gallimard Verlag in der Nachkriegszeit nicht weniger als sieben (!) Bücher von Simone Weil lektoriert und herausgegeben, darunter auch ihre historisch-politischen Schriften; vgl. dazu auch die Übersetzung des Buches von Charles Jacquier (Hg.): Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2006

(5): Vgl. zur politischen Biographie: Benjamin Stora: La dernière génération d’Octobre (Die letzte Generation des Oktobers [von 1917)], Hachet­te, Paris 2003. Zum Skandal um die Ausstellung hat er kürzlich ein ganzes Buch veröffentlicht: Camus brûlant (Der brennende Camus), Stock, Paris 2013

(6): Vgl. Macha Séry: „Albert Camus à Aix-en-Provence: autopsie d’un gâchis“ (Albert Camus in Aix-en-Provence: Autopsie eines Fehlschlags), in: Le Monde, 8. 10. 2013, S. 13

(7): Vgl. Catherine Simon: „Affaire Camus: Onfray quitte la ‚pétaudière’“ (Affäre Camus: Onfray entflieht dem Chaos), in: Le Monde, 18. 9. 2012, S. 20

(8): Vgl. u.a. Anm. 6