Der Ausschluss der Armen

Die Biologisierung von Armut im Neoliberalismus

Biologische Merkmale und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen spielen eine wesentliche Rolle beim gesellschaftlichen Ein- und Ausschluss von Menschen. Heute signalisiert der fitte, natürlich ernährte, schlanke und möglichst junge Körper Zugehörigkeit und Erfolg, Armut und Marginalisierung dagegen werden mit Übergewicht, Alkohol- oder Nikotinkonsum assoziiert. Die Existenz verarmter Unterschichten erscheint dabei zunehmend als Resultat biologischer Anlagen, die Menschen daran hindern, den neoliberalen Anforderungen an Anpassungsfähigkeit, Mobilität und Flexibilität gerecht zu werden.

Im Sommer 2007 titelten Medien von gmx über Men's Health bis hin zur Süddeutschen Zeitung wörtlich oder sinngemäß: „Übergewicht ist ansteckend!“ Wer Freund­schaften mit Dicken pflege, habe ein um 57 Prozent gesteigertes Risiko, selbst dick zu werden. Dies bezog sich auf eine über 32 Jahre dauernde Studie an mehr als 12.000 Menschen in einer Kleinstadt in der Nähe von Boston.(1) Demnach verändere sich durch Freundschaften mit Dicken die Wahrnehmung dessen, was „okay“ wäre, wodurch der eigene Körper aus den Fugen gerate. „Also helfen Sie Ihren Freunden lieber, Gewicht zu verlieren!“ rät Men's Health unter einem Foto von einem siegesgewiss lächelnden schlanken Schönling und einem betont unglücklich (oder schuldbewusst?) schauenden fettleibigen Halbglatzkopf.(2)

„Gewichtsgegensätze sind Klassengegensätze“

Dieselbe Überschrift war mit anderem Inhalt bereits früher einmal erschienen, so in Focus: „Ist Übergewicht ansteckend? Ein Virus könnte die Gewichtsprobleme von einem Drittel der Dicken verursachen“.(3) Danach sei ein Virus namens Ad36 bei Übergewichtigen dreimal so häufig anzutreffen wie bei Normalgewichtigen. Dies bezog sich auf eine Studie von Richard Atkinson, emeritierter Professor für Medizin an der Universität von Wisconsin an über 500 Personen sowie Daten aus zahlreichen Tierversuchen. Die FAZ gab den Rat von ‚einigen Wissenschaftlern' wieder: „Waschen Sie Ihre Hände!“(4) Statt Freunden Diätvorschläge zu machen oder sich nach dem Körperkontakt mit Dicken zu waschen, hilft aber natürlich noch eindeutiger, sie ganz zu meiden.

Wer die Medienberichterstattung verfolgt, weiß zudem, dass Dicke insbesondere in der Unterschicht zu finden sind. Die Nationale Verzehrsstudie des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz von 2008 besagt: Mit steigendem Pro-Kopf-Nettoeinkommen zeige sich bei Männern und Frauen ein Absinken des Body-Mass-Index.(5) Ein Kommentator fasst die Hauptthese so zusammen: „Gewichtsgegensätze sind in Deutschland in erster Linie Klassengegensätze.“ Renate Künast, Landwirtschaftsministerin unter Rot-Grün, rühmte sich bei Anne Will, diese Studie noch selbst auf den Weg gebracht zu haben, um gleich hervorzuheben, wie schlecht das Verzehren bei den ‚bildungsfernen Schichten’ laufe.(6)

Die neoliberale Hegemonie des Homo Oeconomicus

In dem Trend, den Kontakt mit diesen Schichten einzustellen, erlebt die Angst vor „Degeneration“ durch den Umgang mit den falschen Menschengruppen, die im 19. Jahrhundert unter Männern, Weißen und namentlich dem Bürgertum umging, eine Wiederkehr. Damals wie heute existiert eine Verbindung zwischen Ökonomie als Wissenschaft und der (Re-)konstruierung von Subjektivitäten; der Homo Oeconomicus - das Subjekt in der Wirtschaftstheorie - nimmt dabei eine Schlüsselstellung ein. Er bildet nicht nur das Stereotyp des weißen, heterosexuellen, gesunden, jungen Mannes als Wirtschaftssubjekt ab, sondern es besteht ein diskursiver Zusammenhang zwischen diesem Entwurf und der Konstruktion der Subjekte im modernen bürgerlichen Staat. Als Ausschließungen damit verbunden sind die Konstruktionen der „Anderen“.

Heute erscheint der Homo Oeconomicus in der von Robert Connell ausgemachten Manager-Identität.(7) Diese Manager-Identität gilt quer durch die Gesellschaft: Für Frauen insgesamt ist sie ebenso gültig wie für ArbeiterInnen und Ich-AGs. Sie alle sind „Arbeitskraftunternehmer“.(8) So fragt ein Selbstmanagement-Ratgeber: „Sind alle Ihre Persönlichkeitsteile voll im Einsatz? Arbeitet jeder Teil an der Stelle, wo er seinen Fähigkeiten entsprechend optimale Ergebnisse erzielen kann?“(9)

Die heutige hegemoniale Gestalt des Homo Oeconomicus bedeutet denn auch nicht mehr, dass alle beziehungsweise alle weißen Männer Gewinner wären und dass Frauen, people of colour oder Homosexuelle keine Karriere machen könnten - im Gegenteil ist die hegemoniale Bedeutung des Homo Oeconomicus als Rollenmodell inzwischen so stark, dass er im Prinzip für alle Identitäten Gültigkeit erlangt hat. Zwar haben es „die Anderen“ grund­sätzlich schwerer, dem am Weißen und Männlichen ausgerichteten Ideal zu entsprechen, doch lässt sich eine neue Durchlässigkeit beobachten, wobei entscheidend wird, wer diesen Anforderungen am Ehesten entspricht.

Gleichzeitig produziert dieser Diskurs neue Paradoxien: Obwohl inzwischen zum hegemonialen Ideal für alle geworden, werden nach wie vor und zunehmend wieder Menschengruppen als nicht fähig stigmatisiert, dem Homo Oeconomicus entsprechen zu können. Nicht zuletzt lässt sich dies im Diskurs über die Unterschicht - oder sagen wir das Wort ruhig: Unterklasse - feststellen.(10)

Armut als Anlage

Dieser Diskurs gewinnt im Neoliberalismus an Schärfe. In den 1980er und 1990er Jahren entsteht - zunächst in den USA, dann auch in Europa - ein neues soziales Leitbild: Körperliche Fitness, Jogging, natürliche Ernährung, der Kampf gegen das Rauchen und andere soziale Verhaltensmuster werden Ausdruck eines neuen Lebensstils, und die mit ihm verbundenen Bilder schließen deutlich an die Ideale der europäischen Mittelklasse an. Je näher ein Individuum diesem (jeweilig vergeschlechtlichten) Ideal kommt, desto höher sind die Chancen, in der Gesellschaft aufsteigen zu können.

Gleichzeitig entwickelt sich zunächst in den USA und in Großbritannien sowie um die Jahrtausendwende auch in Deutschland eine neue Diskussion über eine permanente, biologisierte Unterklasse, welche seit Generationen nur von staatlicher Unterstützung lebe und von der Anlage her bereits unfähig zur Aufnahme von Bildung oder geregeltem Arbeiten sei.(11) In den USA und Großbritannien ist dieser neuen Unterklasse regelrecht der Krieg erklärt worden: „Diesen Menschen wird nicht nur die Schuld an ihrer Armut gegeben“, so Anna Marie Smith. „Sie werden auch zunehmend als Menschen niederer Art konstruiert, denen aufgrund ihrer antisozialen kulturellen Traditionen und aufgrund ihrer biologischen Neigungen zu Sucht, exzessiver Sexualität, Kriminalität und niederer Intelligenz einfach nicht über Bildung oder über die Vermittlung von Fähigkeiten geholfen werden kann.”(12)

Regierung durch Angst

 „Eine Art permanentes ökonomisches Tribunal“ nennt der französische Philosoph Michel Foucault diese Rationalität.(13) Der Mensch, der einen Mangel an Initiative zeige, an Anpassungsfähigkeit, Dynamik, Mobilität und Flexibilität, beweise scheinbar „objektiv“ seine Unfähigkeit, ein freies und rationales Subjekt zu sein. Die Fähigkeit, sich im eigenen Lebensentwurf nach betriebswirtschaftlichen Kriterien wie Effektivität und Effizienz zu verhalten, gilt aber zunehmend als Grundlage der aus autonomen Individuen bestehenden Gesellschaft. „Wer Erfolg hat, hat ihn verdient; wer keinen hat, hat etwas falsch gemacht.“(14)

Nicht zuletzt aber konditioniert der Liberalismus die Individuen darauf, ihre Situation, ihr Leben, ihre Gegenwart, ihre Zukunft als Träger von Gefahren zu empfinden. Hierauf beruhen nicht nur all die früheren Kampagnen, die sich um Krankheit und Hygiene oder Sexualität kümmerten, stets in Angst vor der Entartung des Individuums, der Familie, der „Rasse“ und der ganzen Menschheit, sondern auch die heutige Angst vor Ansteckung des Übergewichts und damit davor, vom Weg des Homo Oeconomicus - und damit vom Weg zum Erfolg - abzukommen.(15)

Auch Helmut Rottka, Vorstand der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin, hält Übergewicht heute für karriereschädigend: Wer übergewichtig sei, komme nicht in die Vorstandsetage.(16) Wenn aber die Freundschaft mit Dicken, gar dicken Unterklässlern, die eigene gesellschaftliche Stellung in Gefahr bringt, wer würde sich dem nicht entziehen wollen?

Körpernormen und Klassenzugehörigkeit

Der Körper spielt heute eine nicht zu unterschätzende Rolle für Erfolg und Misserfolg. Weiterhin sind Geschlecht und Hautfarben wesentliche Aspekte, beispielsweise bei Einstellungen von angehenden Bankern, da aus ihrem Äußeren auf ihr Vermögen, Anlagen zu verkaufen, geschlossen wird.(17) Linda McDowell bemerkt eine extreme körperliche Uniformität der jungen Londoner Banker: fast alle weiß, und dabei von durchschnittlicher Größe und entsprechendem Gewicht. Diese waren sich dessen zumindest teilweise selber bewusst: „ Wissen Sie, wir sind nicht etwa alle Klone“, kommentierte einer von ihnen dieses Phänomen, während ein älterer Kollege erwähnte: „Es ist wirklich seltsam, dass alle genau gleich aussehen, wenn sie hier mit 25 oder 26 auftauchen“.(18)

Iris Marion Young spricht im Zusammenhang mit dem hegemonial idealisierten Körper - nicht nur männlich und hellhäutig, sondern auch schlank - von einem „kulturellen Imperialismus“, welcher all jenen, die davon abwichen, Gewalt antue und sie als „Andere“ markiere.(19) Dementsprechend versuchen seit rund zweihundert Jahren Menschen, als „Insider“ zu gelten, indem sie ihren Körper neu formen und ihr Verhalten an das Ideal anpassen. Der Boom von Bodybuilding-Studios, Schönheitsoperationen et cetera zeugt von dem heutigen Druck, diesem zu entsprechen.

Aber nicht nur durch den Diskurs der „Oberschicht“, auch durch die Kämpfe um Emanzipation und damit um den Einschluss in als universal deklarierte Menschenrechte, ist der Homo Oeconomicus heute zum hegemonialen Leitbild für alle geworden. So haben diese Kämpfe es zwar für Mitglieder bestimmter Gruppen und Schichten leichter gemacht, erfolgreich zu sein - aber nur, wenn sie den vorgeschriebenen Verhaltensmustern entsprechen. Der Diskurs unterwirft eben alle Subjekte.

 

Friederike Habermann ist Volkswirtin und Historikerin und hat in Politikwissenschaften über den „Homo Oeconomicus und das Andere“ (Nomos 2008) promoviert. Zuletzt erschien von ihr „Der unsichtbare Tropenhelm. Wie koloniales Denken noch immer unsere Köpfe beherrscht“ (Drachenverlag 2013).

Der vorliegende Text ist eine stark gekürzte und leicht überarbeitete Fassung ihres Aufsatzes „Ist Armut ansteckend?“, erschienen in: Claudio Altenhain u.a. (Hg.): Von „Neuer Unterschicht“ und „Prekariat“. Gesellschaftliche Verhältnisse und Ka­tegorien im Umbruch, Bielefeld (transcript 2008), S. 49-63.

 

Fußnoten:

(1)  Vgl. Christakis, Nicolas A.; James H. Fowler (2007): The Spread of Obesity in a Large Social Network over 32 Years, in: The New England Journal of Medicine, Vol. 357, July 2007, S. 370-379.

(2) Neumann, Angela (2007): „Übergewicht ist ansteckend. Mehr noch als die Freundin verführen offenbar die eigenen Freunde zum Dickwerden“, in: MensHealth Online, 26.07.07.

(3) Vgl. Webseite des Magazins Focus, www.kurzlink.de/gid220_a.

(4) Susanne Mewes: „Ist Übergewicht ansteckend?“, FAZ Online, 21.02.06, im Netz unter www.kurzlink.de/gid220_b.

(5) Der BMI errechnet sich aus dem Gewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße. Zur Studie vgl. www.bmelv.de.

(6) Vgl. Böttger, Martin: „Was ihr wollt - Klasse und Masse. Am meisten krank macht es, über die Nationale Verzehrstudie allzu viel nachzudenken“, in: Freitag, 08.02.08.

(7) Vgl. Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2000.

(8) Der Begriff ist zu finden bei Pongratz, Hans J. und Voß, Günter: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2004.

(9) Besser-Siegmund, Cora; Siegmund, Harry: Coach Yourself. Persönlichkeitsstruktur für Führungskräfte, Düsseldorf u.a. 1991, S.130, zitiert nach Bröckling, Ulrich (2000): „Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement“, S. 159 in: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart - Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M., S. 131-167.

(10) Der vorliegende Aufsatz fokussiert auf die Abgrenzung zur Unterklasse. Über die Konstruktion von sex und race in diesem Zusammenhang vgl. Habermann, Friederike: Der Homo Oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation, Baden-Baden 2008.

(11) Vgl. Belina, Bernd: Kultur? Macht und Profit! Zu Kultur, Ökonomie und Politik im öffentlichen Raum und in der Radical Geography, S. 94, in: Gebhardt, Hans; Reuber, Paul; Wolkersdorfer, Günter (Hg.): Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen, Heidelberg/Berlin 2003, S. 83-97.

(12) Smith, Anna-Marie: Laclau and Mouffe. The Radical Democratic Imaginary, London/New York 2003, S. 196. Aus dem Englischen übersetzt von der Redaktion.

(13) Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt/M. 2004, S. 342.

(14) Bröckling 2000, a.a.O., S. 162.

(15) Vgl. Foucault, a.a.O., S. 101f.; Mosse, George L.: Toward the Final Solution. A History of European Racism, New York u.a. 1978, S.82ff und ders.: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt/M 1996, S. 111ff.

(16) Vgl. Soboczynski, Adam: Mein Bauch gehört mir! Früher waren Männer stolz auf ihren Bauch, heute schämen sie sich dafür, in: Zeitmagazin LEBEN Nr.10, 28.02.08, S. 12.

(17) Vgl. McDowell, Linda: Capital Culture. Gender at work in the city, Oxford 1997, S. 206.

(18) Ebda., S. 187.

(19) Young, Iris Marion: Justice and the Politics of Difference, Princeton/N.J. 1990, S.1 76.