Der Herr ist mein Hirte

Skurriles aus dem kirchlichen kollektiven Arbeitsrecht

Die Kirche ist die zweitgrößte Arbeitgeberin in Deutschland; rund 1,3 Millionen Menschen sind dort in Beschäftigung. Unbekümmert wird Jahr für Jahr ein arbeitsrechtlicher Weg von vorgestern beschritten, der einen Arbeitskampf nicht zulässt und das „diakonische Wirken“ ad absurdum führt.

Die Kirche ist ein Zwitter. Inwiefern sie mit dem Staat unter einer Decke steckt, ist schwer zu sagen – wer sich diese Frage stellt, findet sich zunächst in einem wirren Regelungsgeflecht wieder. So ist die Kirche öffentlich-rechtlich, aber trotzdem selbstbestimmt. Sie entscheidet in unzähligen Kindergärten in Deutschland über die Personalpolitik, auch wenn der Staat die Einrichtung finanziert. Und selbst die Kirchenglocken läuten manchmal privatrechtlich und manchmal öffentlich-rechtlich – je nachdem, ob es um etwas so profanes wie die Zeitanzeige oder etwas so geistliches wie die Liturgie geht.[1] Während etwa in Frankreich seit 1905 Staat und Kirche strikt getrennt sind, gilt in Deutschland ein diffiziler Regelungskomplex, der noch aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919 stammt. Das Konzept ist zunächst einfach: Es beruht auf Religionsfreiheit, der weltanschaulichen Neutralität des Staates sowie der Selbstbestimmung aller Religionsgemeinschaften. Die Weimarer Regelungen sind wortwörtlich auch heute noch Bestandteil des Grundgesetzes (GG). Die Kirche wird danach als eine öffentliche Angelegenheit verstanden, die dem Staat jedoch entzogen ist – geregelt ist eine Trennung, die in Wirklichkeit keine ist. Oder anders ausgedrückt: Wenn es gerade passt, darf die Kirche wie eine staatliche Einrichtung agieren, sonst eben nicht.
Dieses spezielle Verhältnis zwischen Staat und Kirche führt zu unübersichtlichen Verstrickungen. Viel kritisiert werden insbesondere sogenannte „Staatsleistungen“ an die Kirche. Dabei handelt es sich um Entschädigungen für Enteignungen, die beispielsweise durch den Reichsdeputationshauptschluss vor über 200 Jahren erfolgt sind. Jahrhundertealte Verträge werden durch den Staat auch heute noch erfüllt. Besonders viel Geld fließt im sozialen Bereich. Entsprechend dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip überträgt der Staat möglichst viele soziale Aufgaben an freie Träger. Kindergärten, Schulen, Altersheime und andere Einrichtungen werden von Kirchen, der Arbeiterwohlfahrt oder anderen Trägern betrieben. So erklärt sich, warum die Kirche in Deutschland die zweitgrößte Arbeitgeberin ist. Gleich nach dem Staat.

Der dreiste Weg
Die Zwitter-Stellung der Kirche zwischen Staat und Gesellschaft findet ihre Entsprechung in einem Arbeitsrecht, das sich aus beiden Bereichen zu Lasten der Beschäftigten bedient. Rund 1,3 Millionen Menschen sind bei kirchlichen Trägern beschäftigt, beispielsweise bei der Diakonie oder der Caritas.[2] Dabei weist das kirchliche Arbeitsrecht einige ganz entscheidende Besonderheiten auf. Arbeitsbedingungen und Tarife lassen sich auf unterschiedliche Art und Weise festlegen. Der sogenannte Erste Weg bezeichnet die einseitige Festlegung der Regelungen durch Arbeitgeber_innen.
Üblicherweise werden Regelungen jedoch im Rahmen des sogenannten Zweiten Weges zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerseite ausgehandelt und in einem Tarifvertrag festgelegt. Allein den Religionsgemeinschaften ist jedoch in Deutschland verfassungsrechtlich die Möglichkeit eröffnet, sich um Arbeitskämpfe zu drücken und den sogenannten Dritten Weg einzuschlagen: Arbeitsvertragsrichtlinien und Vergütung werden meist in kirchlichen Gremien, die paritätisch besetzt sind, einvernehmlich gestaltet. Auf diese Weise entfällt jede Art von Arbeitskampf, denn dieser wird als mit kirchlicher Arbeit unvereinbar empfunden. Angeblich beeinträchtigt er in schwerwiegender Weise das diakonische Wirken und beschädigt die Glaubwürdigkeit der Kirche.[3] Zum Bild der christlichen Nächstenliebe mag es offenbar nicht recht passen, wenn Arbeitsbedingungen zwischen den Parteien hart verhandelt werden. Das friedliche Einvernehmen in den kirchlichen Gremien tut aber nur so harmlos. Unter der Oberfläche brodelt es: Während ausgehandelte  Tarifverträge zwingend gelten und auch einklagbar sind, gelten die Regelungen des Dritten Weges nur dann, wenn sie auch ausdrücklich im Arbeitsvertrag vereinbart werden.[4] Die Zusammenarbeit in den sogenannten arbeitsrechtlichen Kommissionen gestaltet sich in den letzten Jahren zunehmend schwierig. Während große Teile der Arbeitnehmerseite im Jahr 2009 in der „Göttinger Erklärung“ den Dritten Weg wegen fehlender Verhandlungen für gescheitert erklärten, reagierte die Arbeitgeberseite im Jahr 2010 mit einem Vorstoß zur Änderung der Wahlordnung. Demnach sollte auf Arbeitnehmerseite nur noch
zugelassen werden, wer vorher erklärte, am Dritten Weg festhalten zu wollen.[5] So richtig scheint der Dritte Weg also nicht zu funktionieren, wenn nur eine Seite ihn gegen alle Widerstände der anderen Seite weiterhin beschreiten will.

Schlammschlacht statt Arbeitskampf
Erst im vergangenen Jahr ist der Dritte Weg noch einmal grundsätzlich in Frage gestellt worden. Als die Gewerkschaft Verdi und der Marburger Bund in diakonischen Einrichtungen trotz Verbots zum Streik aufriefen, zogen die Kirchen vor Gericht. Das Ergebnis: Die Parteien lieferten sich nun eine wenig idyllische (und wenig christliche) Schlammschlacht durch die Instanzen. Der Streit um den Streik hat inzwischen auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) erreicht. Dieses hatte sich mit der Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und der kollidierenden Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften nach Artikel 9 Absatz 3 GG zu beschäftigen. Nach Ansicht des Gerichts besteht kein Anlass dafür, den Dritten Weg aufzugeben, solange die Gewerkschaft bei der Tariffindung einbezogen wird und das Ergebnis der Verhandlung für die Arbeitgeberseite als Mindestarbeitsbedingung verbindlich ist.[6]
Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen wird dadurch grundsätzlich bestätigt, was jedoch angesichts der verfassungsrechtlichen Ausgangslage keine Überraschung darstellt. Außerhalb eines solchen Dritten Weges sei ein Streikverbot aber nicht zu rechtfertigen; ein grundsätzliches Verbot komme daher nicht in Betracht. Im konkreten Fall haben die Gewerkschaften gewonnen. Da im Ausgangsfall die Arbeitgeberseite einseitig zwischen verschiedenen  Arbeitsrechtsregelungen des Dritten Weges wählen konnte, fehlte es an der Verbindlichkeit. Die Klagen der Kirchen wurden daher zurückgewiesen, der Streikaufruf der Gewerkschaften war rechtmäßig. Dieser Erfolg ist aber ein Scheinerfolg: Faktisch bringt das Urteil für die Gewerkschaften keine echte Verbesserung. Trotzdem stellt sich die Rechtmäßigkeit der Streiks rein technisch als Sieg dar. Damit hat das BAG nebenbei den Weg zum Bundesverfassungsgericht versperrt. So müssen die Gewerkschaften auf künftige Fälle warten, wenn sie das komplizierte Geflecht zwischen Staat und Kirche auch grundsätzlich in Karlsruhe überprüfen lassen wollen.
Selbst wenn jemals eine Rechtfertigung für den Sonderweg der Religionsgemeinschaften bestanden hätte, so wäre sie längst weggefallen. Die Regelungen sind nicht zeitgemäß. Sie verkennen, dass sich die Arbeitswirklichkeit bei kirchlichen Trägern immer weniger von derjenigen bei nicht kirchlichen Trägern unterscheidet. Zudem hat sich die Religionslandschaft in Deutschland seit der Weimarer Reichsverfassung grundlegend verändert. Die Kirchenprivilegien beziehen sich nur auf die großen Kirchen, nicht aber auf den Islam. Den Islam in die Religionselite aufzunehmen, kann jedoch auch keine Lösung sein. Solange einzelne religiöse Gemeinschaften bevorzugt werden, fallen Minderheiten unter den Tisch.

Der Herr gibt es, der Herr nimmt es
Hinzu kommt, dass von „diakonischem Wirken“ im kirchlich geprägten Arbeitsalltag häufig jede Spur fehlt. Auch die Kirchen treten als wettbewerbsorientierte Dienstleisterinnen auf: Leiharbeit und Outsourcing nehmen im Pflegebereich weiter zu, sowohl bei kirchlichen als auch bei nicht kirchlichen Trägern. Auch außerhalb der Leiharbeit werden immer wieder fragwürdige Kündigungen durch die Kirche ausgesprochen – etwa wegen einer Zweitehe oder der „falschen“ Religionszugehörigkeit. Beispielsweise durfte eine Putzfrau in einem evangelischen Kindergarten zwar als Ein-Euro-Jobberin, nicht aber als regulär Beschäftigte arbeiten, weil sie der Sikh-Religion angehört.[7] Zur Rechtfertigung der Kündigungen wird teilweise das Argument vorgebracht, die Kirche wolle wie jedes andere Unternehmen auch, dass alle Beschäftigten dieselben Ziele vertreten. Eigentlich verständlich. An dieser Stelle hakt es aber: Die Kirche ist kein Unternehmen wie jedes andere. Sie genießt einen Sonderstatus und wird sowohl im Kollektiv- wie auch im  Individualarbeitsrecht privilegiert. Aber sind hässliche Kündigungen nicht Einzelfälle? Das Einzelfall-Argument funktioniert an dieser Stelle nicht, denn schon die gesetzlich geschaffene bloße Möglichkeit, kirchlich Beschäftigte zu diskriminieren, ist nicht zu rechtfertigen. Dass im deutschen Arbeitsrecht Nachholbedarf besteht, findet auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der diese Frage in den letzten Jahren wiederholt zu entscheiden hatte.[8] Die Finanzierung evangelischer oder katholischer Schulen und Kindergärten ist wegen der staatlichen Zuschüsse für die Kommunen so attraktiv, dass vielerorts staatliche Einrichtungen in christliche umgewandelt werden. Durch diese finanziellen Begünstigungen erlangt die Kirche in einigen Gegenden zwar kein rechtlich untermauertes, wohl aber ein faktisches Monopol auf Jobs im sozialen und pädagogischen Bereich. So finden sich viele Menschen eher zufällig bei kirchlichen Trägern wieder und haben ein ganz anderes Verständnis von Arbeitsrecht als die Kirche. Weil der Dritte Weg auf Einvernehmlichkeit beruht, ist es widersprüchlich, ihn den Beschäftigten überzustülpen. Der rigide Umgang mit der „Göttinger Erklärung“ zeigt, dass die Beschäftigten heute zur Freiwilligkeit gezwungen werden müssen. Der Dritte Weg ist damit gescheitert.


Christine Zedler ist Referendarin und lebt in Offenbach am Main.
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[1]Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 28.01.1994, Az. 7 B 198/93.

[2] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/entscheidung-des-bundesarbeits- gerichts-kirchliche-arbeitnehmer-duerfen-streiken-1.1528263 (Stand aller Links: 08.12.2012).

[3] Pressemitteilung zu BAG, Urteil vom 20.11.2012, 1 AZR 179/11, abrufbar auf www.bundesarbeitsgericht.de.

[4] „Glossar zum Arbeitsrecht in Kirchen“, abrufbar auf www.verdi.de.

[5] Ebenda.

[6] Wie Fn. 3.

[7] Panorama vom 08.09.2012, abrufbar auf www.daserste.ndr.de/panorama.

[8] Zuletzt Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 28.06.2012, Az. 1620/03.