70 Tage selbstverwaltetes Staatsfernsehen

Die Auseinandersetzung um die griechische Sendeanstalt ERT hat zu einer erstaunlichen politischen Dynamik geführt

Nach mehr als zwei Monaten selbstverwaltetem Radio- und Fernsehprogramm intensiviert die griechische Regierung ihre Spaltungsversuche gegenüber den ehemaligen Angestellten der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt ERT. Am 2. August 2013 gab sie erst die Verlängerung der Bewerbungsfristen für die von ihr ausgeschriebenen 589 Arbeitsplätze in der neu zu gründenden staatlichen Rundfunkanstalt um einen Tag bekannt, nur um einige Stunden später eine neue Ausschreibung über nun 1453 befristete Arbeitsplätze zu veröffentlichen. Bis zum 9. August sollten sich die Interessierten unter den ca. 2700 entlassenen ERT-MitarbeiterInnen auf die Stellen beworben haben. „Die Einstellung des Personals erfolgt Schritt für Schritt, je nach Bedarf, und sobald der freie Zugang der Rundfunkanstalten in Athen und Thessaloníki gewährleistet ist“, so ein Regierungssprecher.

Mit diesem leicht durchschaubaren Angebot sollte die anhaltende Besetzung der Sender ohne Aufsehen erregenden Polizeieinsatz beendet werden. Doch ohne Erfolg – wie schon am 10. Juli, als auf den bisherigen ERT-Frequenzen erstmals das Testbild des Griechischen Öffentlichen Fernsehens (EDT) erschien, lassen sich die ERT-MitarbeiterInnen bisher nicht entmutigen. EDT soll in der Übergangszeit bis zum Start der geplanten neuen öffentlich-rechtlichen Anstalt NERIT (Neues Griechisches Radio, Internet, Fernsehen) senden. Momentan gezwungenermaßen nur mit einem Notprogramm aus Filmen, Dokumentationen und Musiksendungen aus dem ERT-Archiv, das im Studio eines unter Polizeischutz stehenden Privatsenders zusammengestellt wird. Nachrichten sollen laut Aussage des zuständigen Staatssekretärs Pantelís Kapsís nur in einem Laufband eingeblendet werden. Aus Protest gegen die Ausstrahlung hatten JournalistInnen am Folgetag die Arbeit niedergelegt, da die Aktion der Regierung aus ihrer Sicht verfassungswidrig ist.

Recht und Unrecht

Nur Sendungen aus den Studios der am 11. Juni geschlossenen und seitdem in Selbstverwaltung betriebenen staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt ERT seien legal, das Programm von EDT eine „Piratensendung“, heißt es in der Streikerklärung des Journalistenverbandes (POESY). Mit einiger Berechtigung, hatte doch das höchste griechische Verwaltungsgericht am 17. Juni in einer von den ERT-Angestellten umjubelten, vom konservativen Ministerpräsidenten Antónis Samarás jedoch ignorierten einstweiligen Verfügung angeordnet, dass ERT bis zum Aufbau einer neuen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt den Betrieb wieder aufnehmen soll. In Folge des Urteils hatte die Demokratische Linke (Dimar) die Regierungskoalition verlassen, so dass die konservative Néa Dimokratía und die sozialdemokratische Pasok nur noch über eine knappe Mehrheit von 153 der 300 Parlamentssitze verfügen.

Das Gericht hatten ERT-Angestellte angerufen, nachdem Samarás am 11. Juni in einer putschartigen Aktion das Aus für alle staatlichen Fernseh- und Radiosender verkündet hatte und starke Polizeikräfte diese abgeschaltet hatten. Doch die Beschäftigten beschränkten sich nicht auf den juristischen Kampf. In einer beispielhaften Direkten Aktion besetzten sie die Sendeanstalten und übernahmen die Programmgestaltung in Eigenregie.

Zu ihrer Unterstützung waren noch im Laufe der Nacht Tausende Menschen vor die besetzten Gebäude gezogen, und auch in den nächsten Tagen und Wochen fanden immer wieder große Kundgebungen und Solidaritätskonzerte statt, um gegen die Schließung der einzigen konzernunabhängigen Medienanstalt zu protestieren. Aus dem In- und Ausland trafen zahlreiche Solidaritätsbotschaften ein, die den Kampf der Belegschaft unterstützen.

Auch die Europäische Rundfunkunion (European Broadcasting Union, EBU) zeigte sich entsetzt und forderte Samarás auf, die Entscheidung unverzüglich zu widerrufen. „Von demokratisch legitimierten Entscheidungen kann in Griechenland offenbar keine Rede mehr sein.“ Die EBU ist ein Zusammenschluss von derzeit 74 Rundfunkanstalten in 56 Staaten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens mit Sitz in Genf.

Perspektivwechsel vor und hinter der Kamera

Das selbstverwaltete Fernsehprogramm kann seit dem 13. Juni über das Satellitensignal der EBU und den Livestream empfangen werden. Die regionalen und überregionalen Hörfunkprogramme der ERT werden in einigen Regionen Griechenlands über UKW und weltweit über mehrere Kurz- und Mittelwellenfrequenzen ausgestrahlt.

Bis zum 11. Juni bestand ERT aus fünf TV-Kanälen, sechs landesweiten und neunzehn regionalen Radiosendern und wurde über eine Abgabe von 4,24 Euro pro Monat finanziert, die pro Haushalt mit der Stromrechnung beglichen werden musste. Insgesamt 290 Millionen Euro wären so 2013 zusammengekommen. Die Ausgaben des Senders sollen sich dieses Jahr auf knapp 200 Millionen belaufen, was ihr einen Gewinn von 90 Millionen beschert hätte. Samarás’ Argument, ERT müsse schließen, weil sie zu teuer sei, stimmt demnach ebenso wenig wie das von Regierungssprecher Símos Kedíkoglou, ERT sei ein „Hort der Intransparenz und Verschwendung“. Hauptsächlich geht es beiden wohl um die politische Kontrolle der staatlichen Medien. Sogar die konservative Tageszeitung Kathimeriní kommentierte, Samarás Entscheidung erinnere an die Zeiten der Diktatur. Die Vermutung liege nahe, dass er den Sender zu einem Zeitpunkt schließen wolle, an dem die Großdemonstrationen nachgelassen haben.

Doch die Rechnung ging nicht auf. Zwar haben viele die ERT zuvor als gestrig und irrelevant beschimpft, ihr wahlweise Staatspropaganda oder Verdummung vorgeworfen und sich lautstark über die vier Euro Rundfunkgebühr im Monat geärgert. Doch das autoritäre Abschalten des Senders durch Samarás und die kämpferische Antwort der Belegschaft machten die ERT über Nacht derart beliebt, dass es in den ersten Tagen der Besetzung schien, als könne niemand mehr ohne ERT leben. Diese etwas blinde Solidarität hat sich inzwischen beruhigt. JournalistInnen, die seit Jahren noch jede Polizeilüge und staatliche Propaganda unhinterfragt verbreiteten, haben sich nicht plötzlich zu RevolutionärInnen gewandelt. Trotzdem scheint auf, welche Wichtigkeit eine selbstverwaltete ERT gerade in Krisenzeiten für emanzipatorische Bewegungen haben könnte: wenn Arbeiter der selbstverwalteten Fabrik Viomichanikí Metallevtikí aus Thessaloníki oder die sich gegen umweltzerstörenden Goldabbau wehrende Bevölkerung Chalkidikís live über ihre Erfahrungen berichten. Wenn der Hungerstreik des seine Freiheit erkämpfenden Anarchisten Kóstas Sakkás ohne Terroristenhetze begleitet wird, die anarchistischen „Aufständischen Radiofrequenzen“ aus der besetzten ERT senden, deren MitarbeiterInnen sich öffentlich für die Solidarität von indymedia Athen bedanken, und solidarisch über andere Arbeitskämpfe berichtet wird – dann ist all das sicher nicht im Sinne der Regierung. Wohl deshalb nehmen die Gerüchte über eine bevorstehende gewaltsame Räumung der Sendegebäude zu.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Direkten Aktion #219 - September / Oktober 2013