Nachdenken über Büchner

Wir Deutsche haben eine Vorliebe für das Fragmentarische, das Unvollendete. Wir lieben Neuschwanstein und fänden Gaudis „Sagrada Família“ gar nicht mehr gut, wenn sie einmal fertig gebaut sein sollte. Wir lieben die Romantiker. Wir schätzen Hölderlin, der im Wahn vor sich hindämmerte. Wir verehren Kleist, der sich erschoss – und Georg Büchner, der mit 23 Jahren starb. Wir mögen die Expressionisten, die fielen entweder im Ersten Weltkriege oder kamen irgendwie anders auf tragische Weise jung zu Tode. Das ersparte den meisten die Entscheidung zwischen den Nazis oder den Kommunisten. Uns erspart das so manche interpretatorische Verrenkung. Und wir können trefflich über das Werk der „Frühvollendeten“ spekulieren und die ungeschriebenen Bücher bedauern: „Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritten“, ätzte schon Heinrich Heine im „Wintermärchen“, und er meinte das nicht nur mit Bezug auf die politische Geographie.
Auch Heine wurde nicht sehr alt. Aber er hinterließ ein vom Umfange her respektables Werk. Büchner hat er übrigens nie erwähnt. Wahrscheinlich kannte er ihn nicht. Mit Georg Büchners Förderer Karl Gutzkow, der beiden poetisch nicht das Wasser reichen konnte, lieferte sich Heine immerhin eine Fehde, die an Heftigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Büchner hätte er nicht ignorieren können.
Mit Georg Büchners Namen ist immerhin eine der nachhaltigsten Revolutionsschriften in deutscher Sprache verbunden, der im Sommer 1834 erstmals verteilte „Hessische Landbote“. Die hessische Obrigkeit reagierte seinerzeit heftig. Büchner musste außer Landes fliehen. Sein Mitautor, der Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig, wurde verhaftet und starb unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen 1837 in der Darmstädter Haft.
Der „Landbote“ war in erster Linie als revolutionsstiftende Aufklärungsschrift an die hessische Bauernschaft, die „große Klasse“, wie sie Büchner in einem Brief an Gutzkow vom Juni 1836 bezeichnete, gedacht – geht aber in seinem politischen Ansatz weit darüber hinaus. Büchner war mitnichten ein wild gewordener Provinz-Revoluzzer. Bekäme infolge einer siegreichen Bewegung nur das Großherzogtum Hessen allein „eine wahrhafte Verfassung,“ so schrieb er, „würde die Herrlichkeit doch bald zu Ende sein.“ Und fuhr fort: „Die Raubgeier in Wien und Berlin würden ihre Henkerskrallen ausstrecken und die kleine Freiheit mit Rumpf und Stumpf ausrotten. Das ganze deutsche Volk muß sich die Freiheit erringen.“ 15 Jahre später bestätigte sich diese Prophezeiung in Rastatt: „Schlaf mein Kind, schlaf leis, da draußen geht der Preuß...“
Diese mutige Schrift gehört zum dauerhaften Bestand der deutschen demokratischen Bewegung. Die Erkenntnis, dass Freiheitsrechte unabdingbar an die Qualität der sozialen Zustände gekoppelt sind, sprengt bei weitem den üblichen geistigen Rahmen europäischen Vormärzschrifttums und macht sie bis zum heutigen Tage auf eine erregende Weise aktuell. Wohl gelitten wäre Georg Büchner mit solchen Schriften auch heute nicht. Die Konservativen wären bestrebt, ihn wegzusperren, die Linke würde sich von solch‘ Radikalismus distanzieren – am Ende stünde möglicherweise eine Verfilmung durch die Degeto mit anschließender Verleihung des Deutschen Film- und des Georg-Büchner-Preises. Danach wäre der aufmüpfige Autor moralisch erledigt. Heutzutage braucht man dazu keine sadistisch veranlagten Darmstädter Gefängnisschergen mehr.
Die im „Hessischen Landboten“ laut herausgeschriene Verbindung von sozialer und demokratischer Frage bildet übrigens auch den von heutigen Regieartisten gern übersehenen Subtext des oft gespielten Dramas „Dantons Tod“ (1835) und des noch häufiger inszenierten, erst im Nachlass aufgefunden „Woyzeck“-Fragmentes.
„Dantons Tod“: Das Volk verlangt nach Brot – Brot gibt es nicht, Robespierre gibt ihm ersatzweise das Blut der „Feinde“ zu saufen. Zwangsläufig gerät Danton, der Erfinder der Revolutionstribunale, unrettbar in die blutigen Mühlen des revolutionären Terrors, als er diesem ein Ende machen will: „Und wenn es ginge – ich will lieber guillotiniert werden als guillotinieren lassen.“ Das ist keine Absage an die Revolution, das ist eine Warnung vor ihren Entartungen. Dieser junge Dramatiker wusste um die furchtbaren Abgründe, die sich im menschlichen Wesen auftun können.
Seinen Anti-Helden Woyzeck jagt er durch diese Horrorschluchten. So kann man das Stück sehen, und so wird es heute mit Vorliebe auf die Bretter gebracht, mehr oder weniger gelungen – aber immer mit harmloser Grundaussage. Über den armen Füsilier Friedrich Johann Franz Woyzeck, der im Eifersuchtswahn die ebenso arme Marie ersticht, können auch Josef Ackermann, Friede Springer und Philipp Rösler eine Träne vergießen. Und wenn wir dann noch aus dem Programmheft erfahren, dass das Inszenierungskollektiv bei den Recherchen zur Rolle des Doktors, der den Woyzeck mit Erbsen und ständiger Pulsmesserei traktiert, auf den SS-Arzt Dr. Josef Mengele stieß, dann gehen wir erschüttert und befriedigt nach Haus – und vergessen den Dialog der ersten Szene zwischen Woyzeck und dem Hauptmann gern: „Wir arme Leut – [ ... ] Unsereins ist doch einmal unselig in der einen und der andern Welt. Ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.“ Und über die Tugend – hier schließt sich der Kreis zu den weltfremd-kalten Theorien des Revolutionsführers Robespierre, der seinen Weggefährten Danton um der Tugend willen opfert, sagt Woyzeck: „Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!“
Auch Marie ist ein armes Luder, und sie weiß das. Franz Woyzeck sticht nicht den nieder, der ihm die Liebste nahm. Er sticht die Liebste nieder. Arme Leute kühlen ihr Mütchen mit Vorliebe an armen Leuten. Auch das steckt in diesem Text. Aber auch darüber wollen wir lieber nicht so genau nachdenken. Damit holten wir uns den Verfassungsschutz und andere „Dienste“ auf den Hals. Man könnte nämlich wieder auf den „Hessischen Landboten“ kommen. Und vielleicht den seit Jahrhunderten anhaltenden Dauerzustand des Krieges der Paläste gegen die Hütten umkehren wollen... Diese Texte sind noch immer gefährlich.
Georg Büchner starb mit nicht einmal 24 Jahren. Möglicherweise wäre aus ihm der deutsche Autor des 19. Jahrhunderts geworden. Am 17. Oktober können wir seinen 200. Geburtstag feiern. „Büchner, kehr wieder!“ möchte man gerne in Anlehnung an einen einstmals sehr revolutionären bundesdeutschen Poeten ausrufen. Der erhielt übrigens wenige Jahre vor seiner Bakunin-Beschwörung den Büchner-Preis und wurde später zu einem der schärfsten Kritiker der Rechtschreibreform.
Nein, Georg Büchners Werk ist geschrieben. Der Tod hat es abgeschlossen. Der Rest ist Spekulation. Schon Hans Mayer warnte in seinem immer noch lesenswerten großen Büchner-Essay davor, Büchner als „Vorläufer“ von was auch immer zu sehen. Feiern wir seinen Geburtstag – und machen wir allen Mut, die seine Feder aufnehmen!