Offen für Unternehmen...

Jenny Brown* über »Obamacare«, die US-Gesundheitsreform

in (20.09.2013)

Der republikanischen Rechten in den USA gilt die Gesundheitsreform der Obama-Regierung ohnehin als sozialistisches Teufelswerk – da helfen offenbar keine Argumente. Aber auch Betrachtungen mit einem deutlich höheren Maß an Realitätsbezug schätzen den Verlauf der Reformgesetzgebung als bedrohlich ein, wie der folgende Text aus der Zeitschrift Labor Notes verdeutlicht. Nicht nur, dass der Kern der Reform ein System staatlich subventionierter Privatversicherungen ist, führt zu Unbehagen in Gewerkschaftskreisen – die genaue Ausgestaltung des Subventionsmodells gefährdet sogar bereits existierende unternehmensübergreifende Versicherungsfonds, die einen vergleichsweise solidarischen Umgang mit den Risiken prekärer Beschäftigung pflegen.

 

Als die Obama-Regierung am 2. Juli bekannt gab, dass sie Arbeitgebern, die unter den Affordable Care Act (ACA, Gesetz für bezahlbare Gesundheitsversorgung) fallen, einen Aufschub gewähren würde, war für wütende GewerkschafterInnen ein deutliches Muster zu erkennen. Schon vor dieser Verzögerung »wurde jedem unternehmerischen Interesse an einer weniger belastenden Regulierung nachgegeben«, sagte Mark Dudzic, Leiter der Labor Campaign for Single Payer1, »während die Anliegen der gewerkschaftlichen Modelle übergangen wurden.«

Die Verpflichtung, dass Arbeitgeber entweder eine Krankenversicherung anbieten oder eine Geldbuße zahlen, wird nun bis Januar 2015 oder länger ausgesetzt. »Wie es aussieht, werden normale ArbeiterInnen gezwungen, gemäß dem ursprünglichen Zeitplan ab Januar 2014 für die Krankenversicherung zu zahlen, während große Unternehmen für mindestens ein Jahr aus der Verantwortung entlassen werden«, sagte Chris Townsend, Vorsitzender der United Electrical Workers (UE).

Zur Rechtfertigung der Verzögerung zitierte die Obama-Regierung die Schwierigkeiten der Unternehmen, Arbeitszeiten, Bezahlung und Versicherungsleistungen zu melden – alles Daten, die benötigt werden, um zu berechnen, ob ein Bußgeld für das Nicht-Anbieten einer angemessenen Versicherung fällig ist. Der Aufschub wird nicht billig. Er bedeutet dem Haushaltsausschuss des Kongresses zufolge, dass der Regierung 2014 zehn Milliarden Dollar an Arbeitgeberzahlungen entgehen werden.

 

            Immer und immer wieder

Währenddessen haben Gewerkschaften sich für den Schutz der bestehenden unternehmensübergreifenden Krankenversicherungsfonds eingesetzt, sind damit aber auf taube Ohren gestoßen. So sind sogar Gewerkschaften wie die Food and Commercial Workers, die das ACA eigentlich mittragen, am Verzweifeln.

UFCW, UNITE HERE und die Teamsters haben immer und immer wieder bei der Regierung ihre »Taft-Hartley-Versicherungen« (siehe Text unten) angepriesen, die 20 Millionen ArbeiterInnen eine Versicherung bieten würden, einschließlich Teilzeitkräften, Ruheständlern und ArbeiterInnen, die zwischen mehreren Jobs pendeln, insbesondere im Bau-, Transport- und Hotelgewerbe sowie im Einzelhandel. In einem scharfen Brief an die Führung der Demokraten im Kongress schrieben die Vorsitzenden der drei Gewerkschaften: »Die Zeit läuft uns davon. Der Kongress hat dieses Gesetz gemacht, wir haben Euch gewählt. Wir haben ein Problem, Ihr müsst es lösen. Unsere überzeugenden Argumente wurden missachtet, vom Weißen Haus und den zuständigen Stellen wurde nur gemauert.« »Obwohl unser nicht-profitorientiertes Modell nicht die gleichen Subventionen erhält wie die profitorientierten, wird es besteuert, um die Subventionen zu finanzieren«, schrieben die Gewerkschaftsführer. »Alles in allem machen diese Restriktionen Konzepte unmöglich, die nicht gewinnorientiert sind.«

Mit Obama-Care können kleine Unternehmen Geld sparen, indem sie sich aus den Taft-Hartley-Fonds zurückziehen und ihre Beschäftigten zu den neuen »Insurance Exchanges« [einer Art Internet-Börse für Privatversicherungen mit einer Zuzahlungsobergrenze; Anm. d. express] schicken, um damit Subventionen zu beziehen, sagte James McGee, Direktor des Transit Employees Health & Welfare Fund in Washington. Beim jetzigen Stand »werden Arbeitgeber alle Anreize haben, sich aus den Fonds herauszuziehen, wenn die Verträge mit den Gewerkschaften auslaufen.« Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten – dazu zählen beispielsweise 93 Prozent der Bauunternehmen – müssen keine Strafe zahlen, wenn sie keine Absicherung bieten.

 

            Beabsichtigte Konsequenzen

Teil der Überlegungen hinter Obama-Care ist die Senkung der Gesamtkosten im Gesundheitssystem, indem die Leute gezwungen werden, mehr für ihre Versorgung zu zahlen – was sie dazu bringen soll, seltener zum Arzt zu gehen. »Die Verbraucher sollten auch in Zukunft davon ausgehen, dass ihre Gesundheitsvorsorge teurer wird und dass sie weniger Leistungen bekommen werden«, urteilte ein Berater in der New York Times. Dieser Teil funktioniert. Die Arbeitgeber sehen die ACA-Standards jetzt als Untergrenze an und schrauben ihre Leistungen auf dieses Minimum zurück.

Im Schulsystem in Old Rochester, Massachusetts, ging man sogar noch weiter. Die Behörde verlangte, dass Angestellte ohne Lehrtätigkeit wie z.B. MitarbeiterInnen der Cafeteria, die von der UE vertreten werden, 50 Prozent ihrer Prämien selbst bezahlen. Eine Familienversicherung hätte 80 Prozent ihres Einkommens gekostet.

Die jetzt verschobene ACA-Regelung besagt, dass Versicherungsprämien einen Anteil von 9,5 Prozent des Einkommens nicht überschreiten dürfen. Das gilt allerdings nur für Einzelne; für Familienversicherungen gibt es keine Begrenzung. Viele Beschäftigte werden sich in einer Zwickmühle wiederfinden: Eine Versicherung können sie sich nicht leisten, sie haben aber auch keinen Zugang zu den Obama-Care-Subventionen, weil ihr Arbeitgeber eine Versicherung anbietet, die vom Gesetz als bezahlbar eingestuft wird.

Das Management in Old Rochester gab dem gewerkschaftlichen Druck nach, aber die ArbeiterInnen werden bis 2016 nach wie vor 30 Prozent ihrer Prämien zahlen müssen.

Die Burgerkette Wendy’s hat festgestellt, dass die Mehrheit ihrer gering entlohnten Beschäftigten schon die Versicherung mit hoher Selbstbeteiligung ablehnt, die das Unternehmen für 2,50 US-Dollar pro Woche anbietet – daher erwarten die Geschäftsführer, dass die Beschäftigten auch das Angebot einer besseren, Obama-Care-zertifizierten Versicherung für 25 Dollar die Woche nicht annehmen werden. Die Schnellrestaurantketten Popeye’s und Chipotle haben ähnliche Berechnungen angestellt.

Ab 2014 wird ArbeiterInnen, die sich gegen eine solche vom Unternehmen gebotene Versicherung entscheiden und die keine andere haben, eine jährliche Strafe von 95 Dollar auferlegt, die in den Folgejahren steigt. Viele Unternehmen werden sich ohnehin
ausrechnen, dass es billiger ist, das Versicherungsangebot einzustellen. Die jährliche Strafe für Unternehmen wird pro ArbeiterIn nur 2 000 Dollar betragen – vorausgesetzt, die entsprechende Regelung tritt irgendwann in Kraft.

Wer von seinem Arbeitgeber so stehengelassen wird, kann eine Versicherung bei den bald in Betrieb gehenden »Insurance Exchanges« kaufen, die jetzt offiziell »Marktplätze für Krankenversicherungen« heißen.

Dort werden auf einer vom jeweiligen Bundesstaat (oder, falls der Bundesstaat sich ausklinkt, von den Bundesbehörden) betriebenen Internetseite private Versicherungen gelistet, die eine Zuzahlungs- und Eigenbeteiligungsgrenze von 6 350 Dollar für Einzelpersonen und 12700 Dollar für Familien haben. Diese zertifizierten Versicherungen können keine Deckelung von jährlichen oder im Laufe eines Lebens erbrachten Leistungen festlegen. Der vorherige Gesundheitszustand und das Geschlecht dürfen nicht berücksichtigt werden, aber die Beitragshöhe kann innerhalb bestimmter Grenzen nach Kriterien wie Rauchverhalten, Alter, Größe der Familie und Wohnort variieren.

Jeder kann bei Unternehmen auf der »Exchange«-Plattform eine Versicherung kaufen. Für ArbeiterInnen, deren Arbeitsverhältnis keine »bezahlbare« Versicherung umfasst, subventioniert die Regierung die Kosten für eine private Versicherung, wenn Einzelne oder Familien weniger als 400 Prozent der Armutsgrenze verdienen – bezogen auf das Jahr 2013 entspricht das 45960 Dollar bei Einzelpersonen und 94200 Dollar bei einer vierköpfigen Familie. Die Subventionen sollen verhindern, dass die Versicherungsbeiträge einer Familie über 9,5 Prozent ihres Einkommens steigen.

 

            Entschuldigungen, Entschuldigungen

Manche Unternehmen machen Obama-Care für Einschnitte verantwortlich, die sie ohnehin vornehmen wollten. Ein bevorzugtes Ziel solcher Anschuldigungen ist die so genannte Cadillac-Steuer, die nicht vor 2018 greift. Die Steuer ist so konzipiert, dass sie Versicherungen mit Prämien über 10 200 Dollar im Jahr für Einzelpersonen oder 27500 Dollar für Familien treffen würde – Arbeitgeber würden mit 40 Prozent auf jeden Betrag über dieser Grenze besteuert werden. Während die Unternehmen sich beklagen, dass sie es nicht schaffen würden, bis 2014 über ihre Krankenversicherungen zu berichten – und deswegen einen Aufschub gewährt bekamen – sind sie viereinhalb Jahre im Voraus dabei, sich auf die Cadillac-Steuer einzurichten (s. Text unten).

Ihre Lösung ist, mehr Kosten auf die ArbeiterInnen abzuwälzen, indem sie Verträge mit geringeren Prämien und höheren Zuzahlungen anbieten. Mehr als ein Drittel der versicherten ArbeiterInnen steckt derzeit in Verträgen mit Selbstbeteiligungen von 1 000 Dollar oder mehr, und 14 Prozent haben eine Selbstbeteiligung von über 2 000 Dollar. Bei Cummins, einem Maschinenbauunternehmen mit Sitz in Indiana, erreichen die Zuzahlungen die Höhe von 6000 Dollar.

Die geringeren Beiträge erfüllen die Vorgabe von Obama-Care, dass weniger als 9,5 Prozent des Einkommens für die Beiträge aufgewendet werden müssen. Doch das Gesetz berücksichtigt nicht, wie viel an Selbstbeteiligung und Zuzahlungen in den vom Arbeitgeber gebotenen Versicherungen vorgesehen ist; diese erhöhen aber den Druck, weniger Versorgungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Dieser Anreiz verkehrt das ins Gegenteil, was alle Experten für die gesündere – und günstigere – Weise, die Gesundheitsversorgung zu strukturieren, halten: also zu regelmäßigen präventiven Arztbesuchen zu ermuntern, die Gesundheit zu erhalten und Notfälle zu vermeiden. Wenn Leute Routineuntersuchungen meiden, weil die Zuzahlungen nicht leistbar sind – oder weil die Ver­sicherung überhaupt nichts zahlt, bis die gewaltigen Selbstbehalte erreicht sind – werden kleine Probleme zu großen und kosten am Ende mehr. Um mit den Versicherungen mit hoher Selbstbeteiligung zurechtzukommen, haben AFSCME-Mitglieder in Vermont »choice cards« mit ihren Arbeitgebern ausgehandelt, die ihre Selbstbehalte und Zuzahlungen aus einem Arbeitgeberfonds bezahlen, berichtet Traven Leyshon, Schatzmeister der AFL-CIO Vermont.

 

Auch die Obama-Care-Regelung, dass Arbeitgeberversicherungen mindestens 60 Prozent der Kosten der abgesicherten Leistungen zahlen müssen, trägt zu einer Senkung der Standards bei. Bei dieser Zahl wird den meisten VerhandlungsführerInnen der Gewerkschaften übel. Aber das nennt sich dann immer noch »bezahlbare Versicherung«. In diesem Frühjahr entschied die Regierung, dass Arbeitgeber bei den Zahlungen aus eigener Tasche den gleichen Höchstbeträgen unterliegen wie die »Exchanges«: 6350 Dollar für Individuen und 12700 Dollar für Familien.

 

            Vorwärts gestolpert?

Befürworter von Medicare for All, also eines universellen Single-Payer-Gesundheitsversicherungssystems, meinen, die Fehler des ACA könnten Argumente für ein System liefern, bei dem wirklich gilt: »Alle drin, niemand draußen«. Die Electrical Workers (IBEW) haben auf ihrer letzten Versammlung eine Resolution für eine »Single Payer«-Versicherung verabschiedet, und das Baugewerbe in San Francisco unterstützt jetzt auch die Single-Payer-Variante. »Ich habe noch nie so viele Leute aus dem Baugewerbe über Single Payer reden hören«, sagte Peter Knowlton (UE).

Der Papierkrieg und die Kopfschmerzen, die nötig waren, um Obama-Care auf den Weg zu bringen, hinterlassen ein Bedürfnis nach einer einfacheren Lösung, wie den festen Prozentsatz, der jedes Mal auf unserem Gehaltsscheck für Medicare abgezogen wird. »Baut das aus, und fangt mit Medicare bei Null an«, sagen BefürworterInnen – während das Rube Goldberg-System, das mit ACA entwickelt wurde, weiter vorwärts schlingert und taumelt.

In Vermont, wo das Parlament 2011 ein Gesetz verabschiedete, das Gesundheitsversorgung als Menschenrecht garantiert, versuchen die BefürworterInnen, die mit der Ausarbeitung und Umsetzung dieses Vorhabens befassten Komitees davon abzubringen, private Versicherungen einzubeziehen, und hin zu einem rein öffentlichen System zu kommen, wie es in so vielen Ländern üblich ist.

Unter Obama-Care allerdings können sie bis 2017 keine Freigabe zur Einrichtung irgendeines neuen Systems bekommen.

Übersetzung: Stefan Schoppengerd

*  Jenny Brown ist Mitarbeiterin der Labor Notes.

Quelle: Labor Notes, Nr. 413, August 2013

 

Anmerkungen:

1          Ein »Single Payer System« wäre gekennzeichnet durch folgende Momente: uneingeschränkte, garantierte Krankenkassenmitgliedschaft für alle US-Bürger (einschließlich ImmigrantInnen), keine Krankenkassenbeiträge oder Eigenbeteiligung und freie Arzt- und Krankenhauswahl. Es würde steuerlich finanziert werden und – im Vergleich zum bestehenden System – nicht zu erhöhten Kosten führen. Vgl. Eckardt Johanning: »Privatsache. Zur US-amerikanischen Gesundheitsreform«, express Nr. 2/2011

express 9/2013