Obama und Syrien

John F. Kennedy (1917-1963) war der erste (und bisher einzige) Katholik auf dem US-Präsidentensessel. Er war jung und kein Kriegsgeneral, wie sein Vorgänger Dwight D. Eisenhower, und er stand unter dem Druck der rechten Republikaner. So hatte er nach der Niederlage des CIA-Angriffs gegen Kuba in der Schweinebucht und dem Mauerbau in Berlin 1961 die Befürchtung, als schwach zu gelten. In Sachen Vietnam wollte er eine „harte Haltung“ zeigen und bugsierte das Land in den Vietnamkrieg, der dann zur großen Niederlage und zum Trauma der USA wurde.
Barack Obama ist der erste Präsident der USA mit afrikanischen Wurzeln. Er wollte das Land aus den Niederlagen in den Kriegen in Irak und Afghanistan führen, in die sein Vorgänger die USA manövriert hatte, und vor allem eine innenpolitische und soziale Erneuerung erreichen. Die Republikaner, denen das alles nicht passt, erhöhten im Wahlkampf den Druck, ebenfalls mit dem Vorwurf, Obama sei „zu schwach“. Es war dies die Situation, in der er im August 2012 erklärte, bei einem massenhaften Einsatz von chemischen Waffen in Syrien sei eine „rote Linie“ überschritten und ein militärisches Vorgehen der USA sei geboten. Das wurde allgemein als eine Warnung an die Adresse von Präsident Baschar al-Assad verstanden. Dass die Regierungsseite in Syrien über Chemiewaffen verfügt, ist allgemein bekannt. Innerhalb der fatalen Logik des Nahostkonflikts hatte die syrische Führung bereits unter Hafez al-Assad, dem Vater des jetzigen Präsidenten, dieses Potential als Gegengewicht zu dem Atomwaffenpotential Israels angesehen.
Ein erster Chemiewaffeneinsatz im syrischen Bürgerkrieg erfolgte am 19. März 2013 in der Nähe der hart umkämpften Stadt Aleppo. Sofort wurde unterstellt, die Regierungstruppen hätten diese geächteten Mittel eingesetzt. Russland jedoch, das einen großen Marinestützpunkt in Syrien unterhält und mit eigenen Kräften im Lande ist, hatte eine „Sonderoperation“ zur Probenentnahme unternommen. Das Ergebnis stellte Außenminister Sergej Lawrow am 10. Juli in Moskau der Presse vor: Sowohl die Geschosse als auch die darin enthaltene Substanz, das hochgiftige Nervengas Sarin, waren von einer mit der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) verbundenen militärischen Gruppierung in einem Gebiet hergestellt worden, das zur Zeit des Angriffs von der FSA kontrolliert wurde.
Die irakische Regierung, die auch Jahre nach dem Krieg der USA immer noch gegen sunnitische Terroristen zu kämpfen hat, die Tag für Tag Anschläge gegen die überwiegend schiitische Zivilbevölkerung verüben, hat Ende Mai eine Giftmischer-Einheit des Terrornetzwerkes von Al-Kaida festnehmen lassen. In zwei Produktionsstätten bei Bagdad und in der Provinz haben sie Sarin und Senfgas hergestellt, das in die Nachbarländer und bis nach Europa und Nordamerika geschmuggelt und eingesetzt werden sollte. Die türkische Zeitung Vatan meldete am 31. Mai 2013, dass Mitglieder der zu Al-Kaida gehörenden syrischen Al-Nusra-Front in der Türkei verhaftet wurden, weil sie Giftgas-Anschläge geplant hatten. Die Zeitung meinte, es sei ein Einsatz gegen US-Truppen im Süden der Türkei geplant gewesen. Dass es viel näher lag, dass sie das Gas in Syrien einsetzen wollten, schrieb sie nicht.
Am 21. August wurde nun Giftgas in einem umkämpften Vorort von Damaskus eingesetzt. Hunderte Menschen starben. Sofort erfolgte in westlichen Medien eine lauthalse Schuldzuweisung an die Adresse des Assad-Regimes. Gewiss, dieses hat im Laufe des Bürgerkrieges unzählige Verbrechen begangen, Bomben, Flugzeuge und Raketen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt. Mittlerweile gibt es jedoch auch die FSA, deren brutalste Kampftruppen die der Al-Nusra-Front sind. Christliche Kirchen werden niedergebrannt, Gemeindeangehörige ermordet, weil sie weder für noch gegen Assad kämpfen wollen – also auch nicht mit Al-Nusra sind, Nonnen vergewaltigt, Christen außer Landes getrieben. Auch kurdische Dörfer werden systematisch niedergebrannt, deren Aktivisten umgebracht.(Das alles sind die Informationen, die man im Internet finden kann, wenn man sie sucht, die jedoch von den westlichen Großmedien systematisch unterdrückt werden, weil sie nicht in die Schablone von dem „bösen“ Assad und den „guten“ Gegenkräften passen.) Fest steht, in diesem blutigen Bürgerkrieg werden von allen Seiten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen. Laut UNO-Angaben sind ihm bisher mindestens 100.000 Menschen zum Opfer gefallen.
Fest steht auch: Beide Seiten verfügen über tödliche Chemiewaffen. Der britische Premier und der französische Präsident, die sich bereits in Sachen Libyen-Krieg als die kriegsgeilen, kläffenden Kampfhunde des Westens darboten, übernahmen diese Rolle wieder (auch wenn in Frankreich nun ein anderer Mime in diese Rolle geschlüpft war). Sie erinnerten Obama an sein Wort von der „roten Linie“ und behaupteten – ohne dass die UNO-Inspekteure überhaupt schon irgendetwas geprüft haben konnten –, dass Assad verantwortlich sei. Sie wüssten das, zumindest ihre Geheimdienste. Und Krieg sei nun dringend nötig. Als wenn man in einem Kriege, der bereits 100.000 Menschen umgebracht hat, etwas Gutes erreicht, wenn man nochmals 50.000, 100.000 oder 200.000 Menschen tötet. Die Mär von den Präzisionswaffen glaubt ohnehin niemand mehr – als der Westen in Libyen zu bomben begann, gab es etwa 1.000 Tote. Am Ende des Krieges waren es mindestens 60.000. Wer war nun für die 59.000 verantwortlich? Gaddafi oder die NATO? So gab Obama schließlich den Befehl an seine Militärs, den Militärschlag gegen Syrien vorzubereiten.
Die Verantwortlichen für den Chemiewaffeneinsatz konnten bislang jedoch noch nicht eindeutig ausgemacht werden. Das russische Außenministerium teilte bereits am 21. August mit, dass das Giftgas bei Damaskus mit einer selbstgebauten Rakete verschossen worden war, die der im März von den Oppositionskräften verschossenen ähnelte. In der internen Beratungsrunde der fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates Ende August in New York, in der Großbritannien, Russland und China zur Zustimmung zu einer Resolution gegen die syrische Regierung bewegen wollte, hatte die russische Seite Satellitenbilder vorgelegt, die den russischen Befund nochmals stützten. Der israelische Geheimdienst, der allgemein als der am besten informierte im Nahen Osten gilt, hat bislang nichts über eine Schuldzuweisung an Assad verlauten lassen. Der iranische Geheimdienst, der sich in der Region wahrscheinlich genauso gut auskennt, hat dagegen festgestellt, dass es „terroristische Gruppen“ waren, die die Chemiewaffen eingesetzt haben, also diejenigen, die im Westen als Freiheitskämpfer gelten. Westliche Militärtechniker sind ihrerseits zu dem Schluss gekommen, dass die eingesetzten Kartuschen nicht der Ausrüstung der syrischen Armee entsprechen.
Das entspricht auch der Logik des berühmten „Cuibono?“ Die syrische Armee hat in den vergangenen Wochen wichtige Gebiete und Verbindungswege, die zwischenzeitlich von der FSA kontrolliert wurden, zurückerobert, nicht zuletzt mit Unterstützung der schiitischen Hisbollah-Kämpfer aus dem Libanon, die einen Sieg der sunnitischen Al-Kaida-Truppen in Syrien verhindern wollen. Wenn jetzt der Westen Einrichtungen, Nachschubwege und Truppen der Regierung zusammenbombt, wie es in Libyen getan wurde, könnte dies das militärische Kräfteverhältnis wieder zugunsten der Bodentruppen der FSA-Seite verändern. Ein Militäreinsatz des Westens in Syrien läge nur in deren Interesse. Und wenn es einen Anlass braucht, muss er eben geschaffen werden.
Obama will nicht schwach erscheinen. Er will seine Rolle als Präsident nicht schlechter spielen, als all seine weißen Vorgänger. Er ist der erste schwarze Präsident. Am 28.August 2013, zum 50. Jahrestag der berühmten Rede von Martin Luther King vor dem Lincoln Memorial in Washington, hat er vor Hunderttausenden und der Welt noch einmal daran erinnert, dass dieser Traum noch nicht Wirklichkeit wurde. Aber Obama ist der symbolische Beweis, dass er verwirklicht werden kann – unter dem Erinnerungsmal für Abraham Lincoln, der die Sklaven befreit hatte, sprach 1963 der schwarze Prediger Martin Luther King, und in Erinnerung daran fünfzig Jahre später der erste schwarze Präsident der USA.
Aber ist es nicht so: Wenn man aus einer früher unterdrückten Minderheit kommt, will man allen zeigen, dass man nicht schlechter ist, als die Mehrheitsbevölkerung. Und wenn für einen US-Präsidenten dazugehört, auch Kriegsführungsfähigkeit zu zeigen, dann tut man das. Friedens-Nobelpreis hin oder her.