Kolumne Durruti: Alltagsgeschichten aus dem real existierenden Kapitalismus

Manche Menschen stöhnen selbst im fortgeschrittenen Alter darüber, bestimmte Bereiche des Alltags nie so richtig verstanden zu haben: warum Flugzeuge fliegen können, wie die bewegten Bilder auf den Fernseher kommen oder wer eigentlich das Internet regiert. Mir ging es da stets anders, fand ich Physik doch meistens recht einleuchtend. Jenes alltägliche Phänomen, das mir fortwährend Rätsel aufgibt, ist und bleibt vielmehr die Religion. Genauer gesagt, religiöse Menschen im Allgemeinen und Frömmigkeit im Speziellen. Und obwohl ich mich jahrelang intensiv damit beschäftigt habe, sind mir die meisten zentralen Begriffe des Religiösen fremd geblieben.

Denn ich bin Atheist, möchte ich sagen, doch stoße ich damit schon auf das nächste Hindernis. Heutzutage scheint kaum jemand mehr zu wissen, was das bedeutet. Als ich zwei Mormonen, die mich auf offener Straße missionieren wollten, mittels dieses Wortes möglichst rasch klar machen wollte, wie aussichtslos es sei, mich davon zu überzeugen, dass ihre Auslegung des Christentums den anderen überlegen sei, nickte der eine und sagte: „Ich verstehe, ein Anti-Christ“. „Nein, Atheist, A-the-ist“, betonte ich in der Hoffnung, er habe es nur mit den Ohren. Aber es nutzte nichts. Der arme Mann bewegte sich in einem Weltbild, das nur Menschen mit wahrem und irrigem Glauben kannte. Menschen ganz ohne religiösen Bezug waren für ihn buchstäblich nicht vorstellbar. Und das beschränkt sich nicht auf missionswütige Eiferer.

So widmete der ansonsten von mir so geschätzte Sender ARTE dem Atheismus einen seiner berühmten Themenabende. Im Hauptprogramm lief eine Dokumentation, die vorgab zu erklären, was Atheismus sei und was Atheisten denn so umtriebe. Zur Sprache kamen Menschen, die ihren Glauben verloren hatten, unter anderem ein ehemaliger Pfarrer und eine ehemalige Nonne aus Ruanda, die aufgrund selbst erfahrener Gräuel mit ihrem Gott Schluss gemacht hatten. Es schloss sich eine Diskussionsrunde an, die der Frage nachging, wodurch man seinen Glauben verlieren könne und ob das wirklich so schlimm sei.

Das also haltet ihr für Atheismus: vom Glauben Enttäuschte, die sich von Gott abwenden? Um dies ein für alle Mal klarzustellen: ich habe niemals geglaubt, schon gar nicht an (einen) Gott; nun gut, an den Weihnachtsmann schon, aber zählt das? Schon meine Großeltern waren Atheisten, und ich bin vollkommen religionsfrei aufgewachsen.

Dass das von mir so geliebte Weihnachtsfest auch einen religiösen Bezug hat, wurde mir erst im Erwachsenenalter klar. Und auch, dass ich ein bestimmtes Vokabular, das zahlreiche Personen um mich herum ganz selbstverständlich verwenden, nie wirklich verstehen werde. Was meint ihr eigentlich, wenn ihr von der Seele sprecht? Verstand, Bewusstsein? Irgendwie nicht, aber was dann? Oder nehmen wir einfach einmal diese ganzen religiösen Gleichnisse. Noch nie konnte ich damit was anfangen. Wer einen Splitter im Auge trägt, hat keinen Makel, sondern ein ernstes Problem, und braucht dringend Hilfe; stattdessen verweist die Bibel auf einen Balken, den man im eigenen Auge hätte. Ein sehr, sehr sonderbares Bild, das sich meiner Vorstellungskraft entzieht. Wovor soll ich gerettet werden (und warum heißt es „errettet“), und wovon erlöst? Worin besteht denn nun die „Frohe Botschaft“, die angeblich verkündet wird? Und wieso beginnt jeder Absatz in der Bibel mit „und“? Und was?

Ist es vorstellbar, dass wir es hier schlicht mit jahrtausendealten Übersetzungsfehlern zu tun haben? Ich fürchte, nein.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Direkten Aktion 218 - Juli / August 2013