Homophobie in Russland

Der Einfluss von Nationalismus und Antifeminismus nimmt zu. Die libertäre Szene ist gespalten. Ein Bericht aus Moskau

Schwule und Lesben können in Russland nicht angstfrei leben. Homophobie ist weit verbreitet. Allein im Mai und Juni 2013 wurden zwei Schwule ermordet. Als Motiv nannten die Behörden die „nicht traditionelle sexuelle Orientierung“ der Opfer. Putins Regierung schürt den Hass auf Schwule und arbeitet an einem Gesetz, das „Homosexuellen-Propaganda“ verbieten soll. Auch öffentliches Küssen stünde dann unter Strafe. Homosexualität ist im flächenmäßig größten Land der Erde seit 1993 nicht mehr strafbar und gilt seit 1999 nicht mehr als „psychische Störung“. Nun ist Russland aber nicht mehr weit davon entfernt, Schwulsein wieder zu kriminalisieren. Homophobie wird nicht nur durch die russisch-orthodoxe Kirche und die Regierung geschürt, sondern sogar von vermeintlich „Libertären“. Ein Bericht von Vadim Damier aus Moskau. (GWR-Red.)

 

Zwei separate Blöcke marschierten unter den anarchistischen Fahnen in der Mai-Demonstration 2013 in Moskau. In einem, dem „gesamtanarchistischen“ Block, fanden sich AnarchistInnen verschiedener Richtungen: Teile der Autonomen und der Antifa, Anarchosyndikalis-tIn­nen, AnarchafeministInnen, VerfechterInnen der Rechte der sexuellen Minderheiten usw. Diese Leute riefen: „Unser Vaterland ist die ganze Menschheit“.

Der andere Block nannte sich „schwarz-rot“: Er vereinigte an­dere Teile der Autonomen und der Antifa, Aktivisten, die den Kampf für die Rechte der LGBT1  ablehnen, „linke“ Kommunisten und – man höre und staune – Militante aus dem „nationalrevolutionären“ Milieu! Diese proklamierten nicht nur einfach und ausschließlich den „Klassenkampf“, sondern riefen auch: „Nein zum Diktat der Minderheit!“ Und jemand griff die „nationalrevolutio­näre“ Parole auf: „Freiheit, Nation, Revolution“.

 

Bruch

Die Moskauer libertäre Szene ist tief gespalten. Und dieser Bruch entstand nicht plötzlich und über Nacht.

Als formaler Anlass diente schließlich die Frage, ob in den anarchistischen Demonstrationen die LGBT-Fahne akzeptabel sei. Ende des vorigen und Anfang dieses Jahres wurden Leute angegriffen, die in den libertären Demo-Blöcken Regen­bogenfahnen hissten: attackiert durch Teilnehmer der eigenen Demo, was danach zu heftigen Debatten in diversen Internetforen führte.

Die Gegner der Beschäftigung der AnarchistInnen mit der LGBT-Problematik brachten verschiedene Argumente vor. Einige meinten, das seien alles Fragen, die von der sozialen Revolution ablenkten (als wären diese Kritiker mit der Realisierung der Revolution im heutigen Russland schon fast fertig!).

Andere urteilten offen ho­mo­phob oder auch antifeminis­tisch. Und die Dritten meinten, LGBT entspreche nicht den Traditionen und dem Empfinden des russischen „Volkes“ und sei einfach eine Entlehnung aus dem „Westen“. Und genau das ist der Punkt. Denn hier, hinter dem Vorwand des Kampfes gegen LGBT, versteckt sich ganz eindeutig der russische Nationalismus, der sich in den letzten Jahren im libertären Milieu dieses Landes immer mehr verbreitet hat.

Die offenen Neonazis beobachten die Entwicklungen bei ihren Gegnern aufmerksam. Sie verstehen ganz gut, worum es geht. „Es ist offensichtlich, dass es bei den Anarchisten eine tiefgehende Spaltung gibt.

Im Ergebnis dieser Spaltung wurden alle Schwulen, Fans von Regenbogen-Flaggen, Freunde des ‚Vaterlandes der ganzen Menschheit’ und andere Freaks vertrieben und mussten in ihrer separaten… Kolonne gehen. Ich tat so, als sei ich ein Zuschauer, und sprach… mit einigen Vertretern der Kolonne der Anarchisten (gemeint sind die „Schwarz-Roten“, d.Verf.). Und ich bemerkte keine antifaschistisch-idealistischen Vorstellungen von Migranten und keine Regenbogen-Rhetorik der früheren Jahren mehr.“ In derart zufriedenem Ton kommentierte ein Rechtsradikaler das Geschehen auf der Nazi-Website „Prawyje Nowosti“ („Rechte Nachrichten“).

Einige Politologen vergleichen das geistige Klima im heutigen Russland mit dem in der Weimarer Republik. Jeder Vergleich hinkt, dieser aber hat etwas für sich. Die jungen Generationen hierzulande werden im Geiste des exaltierten russischen Patriotismus erzogen.

Der Tschetschenienkrieg, die Hysterie gegen die „Kauka­sier“, „Schwarzen“ und „Mi­granten“, der Mythos von der im Felde des kalten Krieges un­besiegten, aber durch Verrat rui­nierten Großmacht, die patriotische Indoktrination in der Schule, die aufdringliche Darstellung der Kriminalität als „ethnisch motiviert“ und hauptsächlich durch MigrantInnen verübt, die offenen Erklärungen der Politiker und das Gerede in der Presse davon, dass nichtslawische ZuwandererInnen die russische nationale Tradition und Lebensweise missachten und die russische Kultur zerstören, dass böse Ausländer adoptierte russische Kinder töten und die Nichtregierungsorganisationen „ausländische Agenten“ sind  – diese und ähnliche Dinge haben das Lebensgefühl und die Psyche der russischen Spießer aufs Übelste deformiert. Und eine neue Generation von AktivistInnen brachte und bringt solche Stimmungen auch in die libertäre Bewegung ein.

Wir, die Anarchosyndikalisten, gehörten wahrscheinlich zu den ersten, die das Problem erkannten. Im Jahre 2008 erklärte ein neues junges Mitglied unserer Gruppe plötzlich, dass er den Kosmopolitismus für faschistisch und kapitalistisch halte, dass die „ethnische Kultur“ aus dem natürlichen „Boden“ erwachse und vor der Vermischung mit anderen unbedingt zu bewahren sei.

Er begann das Bild der zukünftigen „freien“ Gesellschaft als einer Föderation der „ethnischen“ Kommunen zu propagieren und erklärte weiter, dass in jedem Land ein kosmopoli­tisiertes, „unethnisches“ Element regiere und dass die soziale Revolution eine „völkische“ sein solle.

Der Mann und ein paar seiner Anhänger wurden aus der Organisation ausgeschlossen, fanden aber eine gewisse Sympathie in der „libertären Szene“. Man weigerte sich, die Geschichte ernst zu nehmen, und versuchte, sie zu einem Ergebnis rein persönlicher Konflikte herunterzuspielen.

 

Das alles war aber nur ein Vorgeplänkel

Sehr bald wurde klar, dass mehrere AktivistInnen mehr oder weniger dazu neigten, den Nationalismus teilweise zu tolerieren oder zu akzeptieren, indem sie hofften, dies könnte ihnen einen Ausweg aus dem politisch-subkulturellen Ghetto in die konservativ eingestellte russische Gesellschaft bahnen.

Einige Antifas brummten, sie hörten immer wieder, dass sie nur Migranten und „Asiaten“ verteidigten, ohne die „ethnische Kriminalität“ zu berücksichtigen, und sie seien dieser Situation endlich müde. Einer der „prominenten“ Vertreter der Antifa erklärte in einem Interview: „Der Diskurs, der lange Zeit in der antifaschistischen Bewegung geführt wurde und sich in der Tat nicht von der Rhetorik der westlichen Linken unterschied, ist nicht zu rechtfertigen.“

Er sprach über eine „konstruktive Entwicklung hin zum Verständnis der Ethnie“, was die Zeitschrift „Nowyj Smysl“ zu dem Kommentar veranlasste: „In der russischen antifaschistischen Bewegung tritt klar eine neue Tendenz hervor, die – im Unterschied zum klassischen westlichen Antifaschismus – die Bedeutung des nationalen Faktors nicht verneint.“

2009 und 2010 wurden dann zwei Kampagnen organisiert: „Die Russen gegen den Faschismus“ und „Für den russischen Wald“, wobei man versuchte zu zeigen, dass die Linken bessere Patrioten sind als die Neonazis.

Weitere Entwicklungen in dieser Richtung wurden dann durch Prozesse in der rechtsradikalen Szene begünstigt. 2011 und 2012 entdeckten Teile der Neonazis in Russland das Modell der westlichen „Autonomen Nationalisten“: Sie versuchten, völkische Themen und Parolen mit „linker“, sozialrevolutionärer und sogar klas­senkämpferischer Rhetorik zu vereinigen.

So entstand z.B. eine Organisation „Wolniza“ (altrussisches Wort für die Gruppe der in der Freiheit lebenden Menschen). Sie verurteilte die globalisierte Vereinheitlichung, die „Entper­sönlichung“ und „Entwurzelung“ der Völker und proklamierte den „dritten Weg“ als einen „nicht autoritären und nicht kosmopolitischen Sozialismus“. „Das ist ein dritter Weg zwischen dem klassischen liberalen Kapitalismus und dem marxistisch-leninistischen Staatskapitalismus, zwischen dem imperialistischen Chauvinismus und dem antinationalen Kosmopolitismus, die Hand in Hand gehen und zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.“

Trotz dieser eindeutigen Erklärungen kam in der libertären, antifaschistischen und linken Szene die Behauptung auf, dass einige Teile der Rechten „sich nach links entwickelten“ und man mit ihnen zusammenarbeiten solle.

Der „Dialog“ zwischen beiden Seiten erleichterte sowohl die völkische Rechtsentwicklung von Teilen der „Libertären“ als auch die „linke“ Tarnung seitens der listigen Neonazis, die mit diesem Schachzug das linke Milieu tief infiltrieren konnten. 2013 erklärte „Wolniza“ ihre Auflösung und wurde durch ei­ne neue Gruppe, die „Schwarz-Rote Front“, ersetzt, die ein auf den ersten Blick sozialrevolu­tionäres oder sogar libertäres Programm proklamierte.

Dieser erste Eindruck entpuppt sich jedoch als trügerisch, sobald man zu den folgenden Zeilen kommt: „Internationalismus ist die Zusammenarbeit der Unterdrückten verschiedener Eth­nien (einschließlich der Leute, die persönlich eine ethnische Identität ablehnen) in Kampf gegen den gemeinsamen Feind – das Weltkapital und die es bildenden Staaten. Die Ausarbeitung einer gemeinsamen Ethik, die in der Solidarität gründet und auf Zusammenarbeit ausgerichtet ist, unter Anerkennung und Berücksichtigung der Verschiedenartigkeit der Völker“.  

Diese „Front“ war Ko-Orga­nisatorin der eingangs erwähnten Kolonne der Mai-Demonstration in Moskau.

Die libertäre Szene in Moskau versuchte lange Zeit, diese gefährlichen Tendenzen zu ignorieren. Die „Autonome Aktion“ (AD) schlug sogar eine Mediation zwischen unserer Gruppe KRAS (Anarcho-SyndikalistIn­nen, Sektion der IAA in Russland) und den „ethnischen Revolutionären“ (MPST) vor, die aus unseren Reihen rausge­schmissen worden waren. Als wir jeglichen Dialog mit den Rechtsradikalen ablehnten, stand dann die Moskauer AD mehrheitlich auf der Seite der MPST, indem man uns als „Ra­daumacher“ verleumdete.

Wir standen so gut wie allein, wenn wir die „patriotisch orientierten“ Kampagnen der Antifa kritisierten. Nun aber scheint es, als beginne ein Teil der Bewegung, die Gefahr zu verstehen. Dies bezeugen die Konflikte um die Regenbogen-Fahnen und die zwei verschiedenen „libertären“ Demonstrationskolon­nen in Moskau. Einige Leute aus „unserer“ Kolonne nannten die „schwarz-rote Kolonne“ einfach „schwarz-rot-braun“. Das alles kann als positive Entwicklung betrachtet werden. Wie weit wird sie gehen? Aus heutiger Sicht ist das schwer zu sagen. Aber wie man in Russland sagt: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

 

Vadim Damier

 

Anmerkung:

 1 Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender (dt.: Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender): Oberbegriff für Menschen, die nicht der Hetero­normativität entsprechen bzw. sich ihr verweigern.

 

Anm. d. Red.: Dr. habil. Vadim Damier ist Sozial- und Politikwissenschaftler. Er lebt in Moskau und ist aktives Mitglied der Föderation der Arbeitenden in Erziehung, Wissenschaft und Technik innerhalb der Konföderation Revolutionärer Anarchosyndikalisten (KRAS). Vgl.: Soziale Bewegungen in Russland. Anarchismus, Antimilitarismus und die Kriege im Kaukasus. Interview von Bernd Drücke mit Vadim Damier, in: GWR 338, April 2009,  www.graswurzel.net/338/russland.shtml

Ein sehenswerter Dokumentarfilm über und mit Vadim Damier findet sich unter www.dfg-vk-hessen.de/bildungswerk/russland-broeckelt-die-macht-der-herrschenden (Quer TV Mainz, Dezember 2012, Dauer: 8’20 min).

 

Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 380, Sommer 2013, www.graswurzel.net