Von der Stalin-Note zum 17. Juni

Stalin war 1952 bereit, das Provisorium DDR sowjetischen Sicherheits- und Machtinteressen zu opfern. Walter Ulbricht hielt erfolgreich dagegen – mit fast letalen Folgen für die DDR.

Am 10. März 1952 unterbreitete die UdSSR den Westmächten den Entwurf eines Friedensvertrages mit ganz Deutschland, der als Stalin-Note in die Geschichte einging. Die Kernelemente laute­ten:
– Wiederherstellung Deutschlands als einheitlicher Staat;
– Abzug aller Besatzungstruppen ein Jahr nach Inkrafttreten des Friedensvertrages;
– keinerlei Beschränkung der deutschen Friedenswirtschaft;
– Festlegung der deutschen Grenzen gemäß den Vereinbarungen von Potsdam;
– Untersagung von Militärkoalitionen oder Bündnissen Deutschlands, die sich gegen frühere Kriegsgegner richten;
– Besitz nationaler Verteidigungsstreitkräfte;
– Gewährleistung aller demokratischen Rechte des Volkes bei Verbot antidemokratischer Organisationen;
– Aufnahme Deutschlands in die Vereinten Nationen.
Damit wurde einmal mehr und nicht zuletzt auch Stalins Hilfstruppen an der Spitze der SED deutlich, dass der Herrscher in Moskau die DDR nur als Provisorium, als Staat auf Zeit sah. Zwar sollte in dem angestrebten künftigen Deutschland auch ein potenter deutscher Vertreter der Moskauer Interessen präsent sein: die per­spektivisch gesamtdeutsch gesehene SED, der er seit 1948 die forcierte Umwand­lung zur bolschewistischen „Partei neuen Typs“ verordnet hatte. Primär ging es Stalin jedoch darum, ein weitgehend entmilitarisiertes und neutralisiertes Deutschland aus einer künftigen Front gegen die Sowjetunion herauszuhalten. Die Preisgabe der DDR war konstituierender Bestandteil dieses Kalküls, das Walter Ulbricht – vom III. SED-Parteitag 1950 zum Generalsekretär bestellt – in der Folgezeit zu unterlaufen trachtete.

„Aufbau des Sozialismus“ als Gegenstrategie

Die Regierung Adenauer lehnte die Stalin-Note ebenso rasch wie grundsätzlich ab. Die Westmächte reagierten am 25. März. Sie stimmten dem Abschluss eines deutschen Friedensvertrages ge­nerell zu – in diesem Punkt folgten sie Adenauer nicht. Doch sie verlangten, gesamtdeutsche Wahlen an den Anfang zu stellen und diese unter interna­tionaler Kontrolle stattfinden zu lassen. Das wiederum wurde von dem misstraui­schen Stalin zwar als Affront gegen den Leumund der UdSSR angesehen, aber wie ernst es ihm mit dem Deutschland-Projekt ins­gesamt war, bewies er mit dem Einlenken in der brisanten Frage freier Wahlen. Die sowjetische Antwort vom 9. April betonte ausdrücklich, „ohne Verzug die Frage der Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen“ durch die vier Siegermächte zu erör­tern, die auch als deren Garanten vorgesehen waren.
Doch mit der Unterzeich­nung des Generalvertrages durch die Bundesrepublik Deutschland und die Westmächte am 26. Mai 1952 und des EVG-Vertrages am folgenden Tage wurde die Ausgangslage der sowjetischen Offerte vom 10. März total zu Ungunsten der UdSSR verän­dert. Genau das, die militärische Einbindung des Bonner Teilstaates in ein westliches Bündnissystem – verbunden mit bundesdeutscher Aufrüstung – hatte ja verhindert werden sollen.
Doch Stalin hielt an seinem Deutschland-Projekt fest. Die ablehnenden Reaktionen des Westens wurden als taktische Manöver gewertet, die Stimmungslage der BRD-Bevölkerung im Hinblick auf das östliche Angebot hingegen wurde extrem überschätzt. Andererseits: Konnte nicht eine gewisse Aufwertung der DDR dem Angebot vom 10. März neuen Auftrieb geben? Könnte nicht ein östliches deutsches „Gegenmodell“ die „Arbeiterklasse“ der Bundesrepublik überzeugen, auch in ihrem Bereich ähnliche Verhältnisse zu schaffen?
Bereits im Vorfeld der Stalin-Note war sich die sowjetische Seite im Dezember 1951 mit Wilhelm Pieck grundsätzlich einig geworden, dem kommenden Friedensvertrags-Angebot eine breite propagandistische Untersetzung zu geben. Vorgesehen wurde eine Partei­konferenz der SED für den Juli 1952. Zur Feinabstimmung weilten Pieck, Otto Grotewohl und Ulbricht vom 31. März bis zum 10. April in Moskau. Am 1. und 7. April gab es Unterredungen mit Stalin. Ulbricht als deutscher Gesprächsführer operierte zweigleisig. Einerseits hob er die grundlegende Bedeutung der Note vom 10. März hervor; sie habe „eine große Bewegung der Massen ausgelöst“. In der BRD nähmen Massenkämpfe zum „Sturz der Adenauer-Regierung“ zu. Natür­lich war sich der Vortragende der – gelinde gesagt – Übertreibung bewusst, doch sie wurde von Stalin dankend abgenickt.
Nun sattelte Ulbricht noch drauf: Die Steigerung solcher Bewegungen stünde in direkter Abhängigkeit vom Tempo der Ausprägung unverwechselbarer gesellschaftlicher Züge der DDR. Ulbricht vermied zwar den Begriff „sozialistisch“, doch war der Trend eindeutig.
Im weiteren Verlauf der Gespräche in Moskau wurde Einigung über Einzelmaßnahmen erzielt: Aufbau nationaler Streit­kräfte der DDR, Verschärfung des Grenzregimes, verstärkte Ausformung der SED zur „Partei neuen Typs“, Veränderung der Territorialstruktur der DDR, Bildung landwirtschaftlicher Genossenschaften.
Damit hatte Ulbricht ein Meisterstück der Täuschung erreicht: Er wiegte Stalin in der Hoffnung des Gelingens seiner Wiedervereinigungs-Offerte, während er sie mit den nun vereinbarten „unverwechselbaren gesellschaftlichen Zügen der DDR“ tatsächlich durchkreuzte. Es war dies der Zeitpunkt, wo aus dem bisherigen bedingungslosen Parteigänger des Kremls ein sozialistischer deutscher Politiker wurde, der zum ebenbürtigen Gegenspieler sei­nes Dauerkontrahenten Konrad Adenauer werden sollte.
Wenig später wagte Walter Ulbricht einen weiteren Schritt. In einem Brief an Stalin vom 2. Juli 1952 bat er um Zustimmung, „die Arbeiterklasse und die Werktätigen auf dem Wege des Aufbaus des Sozialismus vorwärtszufuhren“. Er argumentierte: „In der Deutschen Demokratischen Republik wird eine solche Einschätzung unseres gegenwärtigen Entwicklungsstandes die Initiative der Arbeiterklasse und Werktätigen bedeutend entwickeln. Das ist von großer Bedeutung für die Sicherung der Deutschen De­mokratischen Republik gegen feindliche Sabotage- und Diversionsmaßnahmen und für die Organisierung der bewaffneten Streitkräfte der Deutschen Demokrati­schen Republik.” Durch die Ankündigung des „Übergangs zum Sozialismus“ werde auch in Westdeutschland „die Arbeiterklasse zum Klassenbewußtsein er­zogen“ und würden „die werktätigen Bauern und Kleinbürger zu dem Resultat kommen, daß man bei uns besser leben kann als in Westdeutschland“.
Bemerkenswert war die sowjetische Reaktion: Die Zustimmung erfolgte buchstäblich in letzter Minute; am Abend des 8. Juli 1952 – tags darauf begann die II. Parteikonfe­renz. Stalin entsandte, im Gegensatz zu 25 anderen Parteien, keine Delegation zur Teilnahme. Sein Grußtelegramm schließlich erwähnte – in krassem Gegensatz zum SED-Resolutionsentwurf, wonach nun „der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe“ in der DDR geworden sei – diesen Begriff überhaupt nicht. Moskau wünschte lediglich „neue Erfolge [...] bei der historischen Aufgabe, ein einheitliches, unabhängiges, demokratisches und friedliebendes Deutschland zu schaffen”.

Weichenstellung II. Parteikonferenz

Auf der II. Parteikonferenz sprach Ulbricht insgesamt mehr als acht Stunden und folgte dabei einer durchorchestrierten Choreographie. Thematisch handelte er zunächst sorgsam Punkt um Punkt einer Weltsicht ab, auf die alle Delegierten durch jahrelanges Parteiritual eingestimmt waren:
– Auseinandersetzung der beiden Weltsysteme, wobei dem Aufstieg des Sozialismus die Fäulnis des Kapitalismus gegenübergestellt wurde;
– Herausbildung zweier deutscher Staaten im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges – mit ihrer konträren Politik der Revanche beziehungsweise des Friedens;
– stete Bemühungen der UdSSR um eine friedliche Regelung der deutschen Frage, kulminierend in den Vorschlägen vom 10. März 1952;
– Bemühungen um Einbindung der BRD in reaktionäre militärische Bündnisse;
– zunehmende Krise in der BRD und Verlagerung der Krisenlasten auf die Werktätigen;
– wachsender Widerstand gegen die antinationale Politik Konrad Adenauers in der Bundesrepublik und Forderungen in Ost und West nach einem antifaschistisch-demokratisch strukturierten deutschen Einheitsstaat;
– Verratspolitik der SPD-Führung an den Interessen der westdeutschen Werktätigen;
– unaufhaltsamer Aufbau eines neuen deutschen Modellstaates in Gestalt der DDR, dessen Entwicklung zum ersten Mal im Einklang mit den historischen Gesetzmäßigkeiten stehe.
So waren mehr als zwei Stunden vergangen, ehe der Redner ohne jede Voran­kündigung erklärte: „Es besteht kein Zweifel, daß nicht alle Schwierigkeiten auf der bisherigen Stufe unserer demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung gelöst werden konnten. Die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung so­wie das Bewußtsein der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Werktätigen sind jedoch bereits so weit entwickelt, daß der Aufbau des Sozialismus zur grundle­genden Aufgabe geworden ist.“
Dann folgte die aus Moskau am Vor­abend abgesegnete Passage des Entschließungsentwurfs: „In Überein­stimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bau­ernschaft und aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, daß in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.“
Daran schloss sich ein umfassendes Konzept von Maßnahmen an, um die neue Gesellschaftsformation möglichst rasch, umfassend und unwiderruflich zu gestalten. Ulbricht ließ kein wesentliches gesellschaftliches Feld aus; im Einzelnen ging er ein auf:
– die Festigung des Blocks der antifaschistisch-demokratischen Parteien unter Führung der SED;
– die schnelle Mehrung des sozialistischen Eigentums;
– den weiteren Ausbau der neuen Staatsmacht und ihrer Strukturen auf der Basis einer neuen territorialen Gliederung der DDR;
– die grundlegende Neuerarbeitung entscheidender Gesetze und die fundamentale Neubestimmung der Positionen von Gerichten und Staatsanwaltschaften;
– die allseitige Verstärkung der Wachsamkeit und den entschiedenen Kampf gegen Saboteure in Wirtschaft und Verwaltung sowie die öffentliche Entlarvung ihrer westlichen und westdeutscher
Auftraggeber;
– den Aufbau eigener nationaler Streitkräfte der DDR;
– die Entwicklung einer schwerindustriellen Basis;
– die Herausbildung einer sozialistischen Architektur und die Umsetzung ihrer Projekte beim Neuaufbau der Städte;
– die Ausbildung einer neuen technischen Intelligenz unter besonderer Förderung von Kindern von Arbeitern und Bauern;
– die Erhöhung der Produktionsleistungen durch allseitige Führung des Wettbewerbs zwischen den Betrieben;
– die Ausarbeitung technisch begründeter Leistungsnormen und die Abhängigkeit des Lohns von der Normerfüllung;
– den schnellen Ausbau volkseigener und genossenschaftlicher Handelsbetriebe;
– die allseitige Förderung genossenschaftlicher Arbeit in der Landwirtschaft (Bildung von LPGen auf der Basis der Freiwilligkeit);
– die Stärkung des Einflusses der SED in den Dörfern;
– die Aneignung der Errungenschaften der Sowjetwissenschaft auf allen Gebieten;
– die Neuerarbeitung der deutschen Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Periode des Imperialismus;
– die Neuordnung der Lehrpläne der Schulen und die Neufassung der Lehrbücher;
– die Herausbildung einer allseitigen Nationalkultur im Geiste des sozialistischen Realismus;
– die Entwicklung des Massensports bei gleichzeitiger Ausbildung von Spitzensportlern;
– die ständige Erziehung der Parteimitglieder mit dem Ziel der Durchsetzung der führenden Rolle der SED in allen Lebensbereichen;
– das allseitige, über den Kreis der SED-Mitglieder hinausgehende Studium sowjetischer Erfahrungen unter besonderer Berücksichtigung des „Kurzen Lehrgangs der KPdSU(B)“;
– die Verbesserung der sozialen Zusammensetzung der SED;
– die Durchsetzung des demokratischen Zentralismus und der führenden Rolle der Partei, insbesondere durch deren hauptamtliche Leitungen und Funktionäre;
– die Ausprägung des Parteieinflusses in allen Massenorganisationen, insbesondere in den Gewerkschaften;
– die generelle Verbesserung der Parteischulung durch Intensivierung des Parteilehrjahrs zwecks
Überwindung des Sozialdemokratismus und des Sektierertums.
Es lagen schon die Abendschatten über der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle, als Walter Ulbricht zum Schluss kam, in dem er – bezog man es auf die nunmehrige Wendung in der Deutschlandpolitik – Stalin mit Stalin konterkarierte: „Von besonderer Bedeutung ist das Studieren der Werke des Genossen Stalin und seiner Biographie im Selbststudium. Für die Anleitung dieses Studiums ist es notwendig, besondere Konsultationen zu veröffentlichen und mündliche Konsul­tationen in den Parteikabinetten zu erteilen.“ Es war dies die fünfunddreißigste Erwähnung des Georgiers in Ulbrichts Referat, gefolgt von obligaten Sätzen der Siegeszuversicht und gekrönt von dem abschließende Ausruf: „Lang lebe unser weiser Lehrmeister, der Bannerträger des Friedens und Fortschritts in der ganzen Welt, der große Stalin!“ Der Redner hatte damit seinen Lebenstraum, die Errichtung des Sozialismus auf deutschem Boden, zur Ta­gesaufgabe erhoben und den Status quo in der Frage der deutschen Einheit fak­tisch aufgehoben.

Das organisierte Chaos

Der Beschluss der II. Parteikonferenz über den Aufbau des Sozialismus in der DDR war mit keinem Zeitplan gekoppelt. Das Sekretariat des ZK der SED, als Vorarbeiter für das Entscheidungsgremium Politbüro gedacht, tagte von nun an fast täglich und traf Festlegungen, die häufig ohne weitere Bestätigung als Beschlüsse des Zentral­komitees herausgegeben wurden.
Eine wahre Sturzflut derartiger Beschlüsse setzte ein. Es liegt im Charakter eines solchen Naturereignisses, dass es unvorbereitet kommt und Schäden die unausweichliche Folge sind. Übertragen auf das Leben von 17 Millionen Menschen war es ähnlich. Die Maßnahmen lie­ßen in Totalität, Rigorosität und Tempo keinen Bürger des Staates DDR aus. Ein nur ausschnittsweiser Überblick mag das verdeutlichen:
– Beschluss des Ministerrats über die Bildung der Kasernierten Volkspolizei (1.7.1952);
– Aufhebung der Länderstruktur: statt fünf Länder künftig 14 Bezirke; an der Stelle der bisherigen 132 nunmehr 217 Kreise (23.7.1952);
– Gründung der Organisation „Dienst für Deutschland“ (24.7.1952);
– Gründung der „Gesellschaft für Sport und Technik“ (7.8.1952);
– die Landesrundfunkanstalten gehen im „Staatlichen Rundfunkkomitee beim Ministerrat der DDR“ auf (1.9.1952);
– Gesetz zum Schutz des Volkseigentums mit verschärften Strafmaßnahmen gegen Gesetzesbrecher (1./2.101952);
– Gesetz über die staatsbürgerlichen Rechte der ehemaligen Offiziere der Wehrmacht und der ehemaligen Mitglieder und Anhänger der NSDAP (1./2.10.1952).
Als besonders schwerwiegend sollte sich herausstellen, dass die Repa­rationszahlungen ungemindert weiter eingefordert wurden (vor allem allein über SAG-Betriebe), was die Finanzierung der ehrgeizigen neuen Vorhaben entscheidend erschwerte. Das betraf vorrangig die bis dahin nicht geplanten Aufwendungen für die neuen Streitkräfte in Höhe von 1,5 Milliarden Mark. Sie sollten vor allem erbracht werden durch
– Einsparungen bei Sozialversicherung und -Fürsorge;
– erhöhte Besitz- und Einkommenssteuern sowie
– Reduzierung des Konsums der Bevölkerung.
Am Ende des Jahres 1952 hatte sich auf Grund immer neuer und einander überholender Weisungen zur Erhöhung des Tempos beim „Aufbau des Sozialis­mus“ der Unmut darüber in weiten Teilen der Bevölkerung verstärkt. Gleicher­maßen zeigten sich die Mitarbeiter des Staats- wie des Parteiapparates überfor­dert. Die Betriebe, zu ständig neuen Planerhöhungen gedrängt, konnten vor allem wegen sich häufender Materialausfälle ihren Verpflichtungen immer weniger nachkommen, mussten Ausfallzeiten hinnehmen und gleich darauf Überstunden anordnen. Engpässe an Materialien wie Versorgungsgütern in nahezu jedem Be­reich waren an der Tagesordnung.
Die Ursache – die direktiv verordnete Umkeh­rung fast aller Grundwerte – hätte vor allem im Sekretariat zum Umdenken führen müssen. Aber das schied von vornherein aus; stattdessen führten ausgerechnet die Schuldi­gen den „Nachweis“, dass nur vielfaches Zögern bei der Durchsetzung der Emp­fehlungen und Beschlüsse, vor allem auf der unteren Ebene, die kritische Situati­on geschaffen hätte. Eine Welle von Gerichtsprozessen gegen „Schädlinge“ schwoll an, wollte doch jedes Territorium seine „erhöhte Wachsamkeit“ belegen.
Gleichzeitig ließ die SED-Führung keine Gelegenheit aus, um propagandistisch immer neue Bereitschaft zu einem einigen Deutschland im Sinne der sowjetischen Vorschläge zu betonen und sie mit diversen eigenen Appellen und Friedensmanifestationen zu untersetzen. Ein Höhepunkt war zweifellos der Auftritt einer Volkskammer-Delegation am 19. September 1952 in Bonn. Dabei überreichte deren Leiter, Hermann Matern, dem Präsidenten des Bundestages, Hermann Ehlers, „Vorschläge der Volkskammer zur Teilnahme von Vertretern beider deutscher Staaten an einer Viermächtekonferenz zur Lösung des deutschen Problems und zur gesamtdeutschen Verständigung“. Nichts desto trotz: Zur Jahreswende 1952/1953 war Stalins Deutschlandplan praktisch Makulatur. Er scheiterte vorrangig an der Haltung Adenauers, der seine Verbündeten auf seine eigene Politik festzulegen vermochte. Aber auch die Beschlüsse der II. Parteikonferenz der SED und vor allem deren von Walter Ulbricht so vehement betriebene Umset­zung trugen in den Augen der Öffentlichkeit der BRD dazu bei, dortige Befürwor­ter der UdSSR-Initiative weiter ins Abseits zu rücken. Stalin persönlich aber hatte diesem Kurs Ulbrichts, wenn auch verhalten, „grünes Licht“ gegeben und danach nicht eingegriffen.

Der Zündfunke

Für Millionen Bürger des Staates DDR, in dem nun beschlussgemäß seit knapp sechs Monaten der Sozialismus zur Tagesaufgabe geworden war, boten die Aussichten für das Jahr 1953 wenig Grund zur Freude. Die neue Landwirtschaftspolitik zeigte sich vorerst in drastischer Abnahme des ohnehin schon kargen Obst- und Gemüseangebots; etwa 13 Prozent der Nutzfläche lagen – vor allem auf Grund der steigenden Fluchtbewegung – brach. Die Lücken bei Konsumgütern wurden immer klaffender, und im Dienstleistungssektor stiegen die Wartezeiten weiter an. Das war in den Augen der Bevölkerung der Anfang vom Sozialismus – wie sollte da erst die Vollendung aussehen?
Die innere Krise spitzte sich im ersten Halbjahr 1953 weiter zu – nicht im Selbstlauf, sondern durch weitere zentrale Anordnungen zur Tempobeschleunigung. Über all dem gerieten die Führung der SED und die Regierung vor allein im ökonomi­schen Bereich ins Chaos. Hilferufe an die Sowjetunion, durch Erlass von Repara­tionen und zusätzliche Warenlieferungen entlastend zu wirken, blieben vorerst unerwidert.
In dieser Situation griffen Ulbricht und Grotewohl auf Mittel wie drastische Einschnitte im sozialen Bereich zurück, die sie bislang stets als Erbübel des Kapitalismus attackiert hatten:
– Erschwerniszuschläge für Schwerstarbeiter oder für gesundheitsschädigende
Arbeit wurden gestrichen;
– der monatliche Haushaltstag für alleinstehende berufstätige Frauen wurde abgeschafft;
– Fahrpreisermäßigungen zum Arbeitsplatz sowie Fahrtkostenerstattung entfielen;
– die Tarife vieler Dienstleistungen wurden angehoben;
– Intelligenz- und andere Zusatz-Lebensmittelkarten wurden sukzessive abgeschafft;
– Firmeninhaber, selbständige Handwerker und Händler sowie „Grenzgänger“ (in den Berliner Westsektoren Beschäftigte mit Wohnsitz in Ostberlin) erhielten vom 9. April an keine Lebensmittelkarten mehr. Sie sollten ihren Bedarf zu den erhöhten Preisen der freien Läden der Handelsorganisation (HO) decken, doch wurde deren Belieferung zum Beispiel mit Butter und Margarine wegen Mangelaufkommens schon Anfang 1953 eingestellt.
Alarmsignale über eine immens wachsende Unzufriedenheit in allen Territorien und unter sämtlichen Bevölkerungsschichten nahmen spürbar zu. Nur Walter Ulbricht als die zentrale Bezugsperson dieser Krise winkte noch immer gelassen ab. Hatte er doch schon zur Jahreswende als gesetzmäßig vorausgesagt, „daß anläßlich der kürzlich aufgetretenen Versorgungs­schwierigkeiten die Vertreter der überlebten kapitalistischen Kräfte versucht ha­ben, mit allen Mitteln die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus im Kampf ge­gen die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus einzusetzen. Es besteht kein Zweifel daran, daß die kapitalistischen Kräfte diesen Kampf verschärfen wer­den.“
Allein dieser unvollständige Überblick zeigt, dass Zündstoff massenhaft ange­häuft war. Das Unbehagen hatte auch weite Teile der Funktionsträger erfasst. Es bedurfte nur eines Funkens, damit sich die Missstimmung öffentlich entlud. Am 28. Mai 1953 wurde er gezündet. An diesem Tage veröffentlichte der Ministerrat einen weiteren Beschluss, der die Provokation schon im Titel trug: „Bekanntmachung des Beschlusses über die Erhöhung der Arbeitsnormen. Vom 28. Mai 1953.“ Einleitend wurde konstatiert, der von der II. Parteikonferenz gefasste Beschluss sei von der gesamten werktätigen Bevölkerung begrüßt worden. Seine Umsetzung erfordere vor allem die Stärkung der sozialistischen Industrie und hierbei wieder­um eine ununterbrochene Steigerung der Arbeitsproduktivität bei permanenter Selbstkostensenkung. „Nur auf diesem Wege können die Werktätigen unserer Republik der Verwirklichung des ökonomischen Grundgesetzes des Sozialismus zustreben, das der geniale Stalin wie folgt formulierte: ,Sicherung der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft durch ununterbrochenes Wachstum und stetige Vervoll­kommnung der sozialistischen Produktion auf der Basis der höchstentwickelten Technik.’“ Es schloss sich ein „Nachweis“ der Notwendigkeit zur Einführung technisch begründeter Arbeitsnormen an, deren Aufstellung und Einführung allerdings durch eine vom zuständigen Minister erlassene Richtlinie gehemmt worden sei. Dieser Vorwurf traf Roman Chwalek, Minister für Arbeit (SED), Mitglied der KPD seit 1920. Die erwähnte Bestimmung führte angeblich dazu, „daß bei Erhöhung grundsätzlich falscher Nonnen ein Lohnausgleich gezahlt wurde. Das widerspricht dem Leistungsprinzip und muß korrigiert werden.“
Anschließend wurden die Arbeiter selbst als Kronzeugen gegen sich aufgeführt: „Ein großer Teil der Arbeiterschaft hat erkannt, daß die gegenwärtigen Normen größ­tenteils den Fortschritt hemmen. In vielen Betrieben sind deshalb die Arbeiter dazu übergegangen, ihre Arbeitsnormen freiwillig zu erhöhen [...] Darüber hinaus forderten viele Arbeiter von der Regierung, Maßnahmen für eine generelle Über­prüfung und Erhöhung der Arbeitsnormen zu treffen. Die Regierung der Deut­schen Demokratischen Republik begrüßt die Initiative der Arbeiter zur Erhöhung der Arbeitsnormen. Sie dankt allen Arbeitern, die ihre Norm erhöht haben, für ihre große patriotische Tat. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Re­publik kommt gleichzeitig dem Wunsche der Arbeiter, die Normen generell zu überprüfen und zu erhöhen, nach. Diese generelle Erhöhung der Arbeitsnormen ist ein wichtiger Schritt zur Schaffung der Grundlagen des Sozialismus.“
Die „bedrängte“ Regierung entsprach dem vor­geblichen Verlangen in folgender Form: „Das Ziel dieser Maßnahmen ist, die Arbeitsnormen mit den Erfordernissen der Arbeitsproduktivität und der Senkung der Selbstkosten in Übereinstimmung zu bringen und zunächst eine Erhöhung der für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen im Durchschnitt um mindestens 10 Prozent bis zum 30. Juni 1953 sicherzustellen.“
Das war bekanntlich nicht mehr durchsetzbar, denn es folgten die Ereignisse um den 17. Juni, deren Ausweitung durch militärisches Eingreifen sowjetischerseits unterbunden wurde. Stalins Erben – der Diktator war am 5. März 1953 verschieden – hatten bereits in den Tagen zuvor die Beendigung des beschleunigten Aufbaus des Sozialismus Ulbrichtscher Prägung, der die DDR an den Rand des Bankrotts manövriert hatte, angeordnet.
Von Moskau zur Disposition gestellt werden sollte die DDR erst 36 Jahre später wieder …