Vergangenheit bewältigt.

Staatenimmunität gegen Entschädigungsforderungen für NS-Verbrechen

Im Februar verkündete der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) sein Urteil: Die Staatenimmunität Deutschlands darf von italienischen Gerichten nicht durch Prozesse um Entschädigungen für NS-Massaker und Zwangsarbeit angetastet werden. Damit haben die Opfer und deren Angehörige ihren langen und hindernisreichen Kampf um die juristische Anerkennung ihrer Ansprüche endgültig verloren.

Am 3. Februar 2012 entschied der Internationale Gerichtshof, dass Italien durch die Zulassung von Zivilklagen wegen der Verletzung von Menschenrechten im Dritten Reich seine Pflicht verletzt habe, die Immunität zu respektieren, die die Bundesrepublik Deutschland durch internationales Recht genieße. Zudem habe Italien die Staatenimmunität auch durch die Pfändung der Villa Vigoni und durch die Akzeptanz griechischer Fälle vor italienischen Gerichten unzulässig verletzt und Italien müsse außerdem durch entsprechende Rechtsprechung oder andere Mittel alle immunitätsverletzenden Schritte der italienischen Justiz gegen Deutschland unterbinden bzw. rückgängig machen. Einstimmig abgelehnt wurde von den deutschen Forderungen nur, was die Richter_innen bereits durch ihre übrigen Entscheidungen für faktisch abgedeckt hielten.

Deutsche Anti-Entschädigungspolitik nach 1945...

In Den Haag war die Bundesrepublik Klägerin. Die Ursachen des Prozesses liegen aber in der historischen Schuld Deutschlands. In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, zwischen 1943 und 1945, massakrierten Angehörige der deutschen Wehrmacht und der SS in Italien und Griechenland ganze Dorfbevölkerungen. In der NS-Logik ging es dabei um die „Vergeltung“ von Widerstand. Man geht von mehr als 30.000 Opfern in Griechenland und ca. 17.000 in Italien aus, von Säuglingen bis alten Menschen, die auf grausame Weise ermordet wurden. Gleichzeitig wurde gefangenen italienischen Soldaten[1] der Kriegsgefangenenstatus widerrechtlich aberkannt, um sie in Deutschland zur Zwangsarbeit einsetzen zu können.

Wer nun erwartet, dass die Bundesrepublik alles daran setzen würde, dieses Unrecht so weit wie überhaupt noch möglich auszugleichen, irrt. Deutlich wird das schon an den zahllosen Episoden, die von Kriegsende bis heute die mangelnde Verfolgung der einzelnen Täter illustrieren.[2] Doch mindestens ebenso gut schützt der deutsche Staat sich selbst davor, den Opfern gegenüber Verantwortung übernehmen zu müssen, und zwar in Bezug auf die Entschädigungsforderungen, um die es im Haager Prozess ging.

Begünstigt wurde dies durch das Londoner Schuldenabkommen von 1953, bei dem die aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Forderungen an die BRD bis zu einem Friedensvertrag aufgeschoben wurden. Ein Grund, den bei der Wiedervereinigung Deutschlands geschlossenen 2+4-Vertrag explizit nur „anstelle eines Friedensvertrags“ zu setzen. Dennoch gehen die Parteien der NS-Opfer vielfach von einem de-facto-Friedensvertrag aus. Dass dieser so lange auf sich warten ließ, wurde wieder einmal zum Schaden der Opfer gewendet: Die Bundesregierung erklärte, die wieder aufkommenden Reparationsforderungen nun durch den zeitlichen Abstand zu den Taten als hinfällig. Im gleichen Jahr wurden im Bundesentschädigungsgesetz Entschädigungen deutschen Staatsangehörigen vorbehalten und somit zahlreiche Opfergruppen ausgeschlossen. Frühzeitig entwickelte die Bundesregierung zudem die Taktik, Zwangsarbeit und Gewalt an nicht-deutschen NS-Opfern soweit wie möglich als „allgemeine Kriegsschäden“ zu definieren, die keine individuellen Entschädigungsklagen, sondern nur Reparationsregelungen zwischen Staaten begründen würden. Erst 1996 wies das Bundesverfassungsgericht[3] diese Position zurück und machte damit prinzipiell den Weg frei für eine Vielzahl von Einzel- und Sammelklagen.[4]

...und bis heute

Doch faktisch werden den Opfern weiterhin ständig Steine in den Weg gelegt. Die im Jahr 2000 von der deutschen Bundesregierung und der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ eingerichtete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ erfüllt eher die Funktion, den Druck potentieller Entschädigungsklagen abzufedern, als den offiziellen Stiftungszweck der Entschädigung: Die Opfer der NS-Kriegsverbrechen in Italien und Griechenland sind prinzipiell von ihren ohnehin relativ begrenzten Mitteln ausgeschlossen.[5] So hätten die verschleppten italienischen Zwangsarbeiter eine Chance auf Entschädigung auf der Basis der Tatsache gehabt, dass sie von Militärangehörigen zu Zivilisten umdeklariert worden waren. Doch zynischerweise wendete die Bundesregierung ihre Ansprüche ausgerechnet mit der Argumentation ab, dass diese Statusumwandlung völkerrechtswidrig gewesen war. Diese Gründung der deutschen Entschädigungsweigerung auf einem deutschen Völkerrechtsbruch stammt aus einem Gutachten des Völkerrechtlers Christian Tomuschat – der im September in Den Haag die Bundesrepublik mitvertrat.[6]

Besonders hervorgehoben wurden in Den Haag zwei Abkommen von 1961. Darin vereinbarte Deutschland die Zahlung geringer „Entschädigungspauschalen“ von 115 Mio. DM an Griechenland und 40 Mio. DM an Italien. Diese kamen allerdings nur einem stark eingeschränkten Opferkreis zugute, von dem die hier infrage stehenden Opfer ausgeschlossen waren. Damit entzog sich die Bundesregierung erstens dem internationalen Druck, den wirtschaftlich schwachen ehemals besetzten Ländern doch noch Reparationen zu zahlen, und erpresste zudem mit diesen Zahlungen die Freigabe deutscher Kriegsverbrecher durch Griechenland.[7]

Die Verfolgung der Täter wie auch eine Rechtsprechung zugunsten der Opfer wurde von deutscher Seite aus auch im Ausland gebremst. Schon im Vorfeld war die Bundesrepublik gegen dieses Mittel wiederholt in die Gegenoffensive gegangen. Vorrangig war dies die Aufgabe des Auswärtigen Amtes. Im Jahr 1951 wiedereingerichtet, arbeitete es mit bemerkenswerter personeller Kontinuität zum Dritten Reich weiter und wehrt quer durch alle Regierungsparteien bis heute recht erfolgreich die Heranziehung der BRD zur Verantwortung für die Verbrechen ihres Vorgängerstaats in Sachen Entschädigungspolitik ab. Der unter Außenminister Frank-Walter Steinmeier vorbereiteten Klage in Den Haag, welche die Bundesrepublik 2008 einreichte, gingen langjährige außenpolitischen Kraftspiele voraus, mit denen Deutschland die Urteile italienischer und griechischer Gerichte zu unterlaufen versucht hatte. Sie lassen sich am besten mit Blick auf diese beiden Länder nachvollziehen.

Griechische Opferangehörige in der Sackgasse

Den Opfern der NS-Massaker in Griechenland wurde jeder rechtliche Weg verbaut. Zusammengefasst lässt sich sagen: Innerhalb Deutschlands wird bis heute ihren Klagen nicht stattgegeben und Klagen vor Gerichten in anderen Ländern torpediert die BRD mit dem Hinweis auf die Staatenimmunität. Das Urteil von Den Haag hat dieses Dilemma der Opfer besiegelt.

Tausende griechische Opferangehörige verklagten Deutschland seit den 1990er Jahren vor griechischen Gerichten auf Entschädigungen. Die Kläger_innen aus Distomo, wo 1944 durch SS-Truppen 218 Menschen ermordet worden waren, bekamen im Jahr 1997 vor dem Landgericht Levadia Recht: Deutschland wurde zu Entschädigungen von insgesamt ca. 21 Mio. € verurteilt. Die Bundesrepublick hielt ihre Staatenimmunität dagegen, aber der oberste Gerichtshof Griechenlands, der Areopag, bestätigte drei Jahre später das Urteil. Da Deutschland die Entschädigungen nicht leistete, sollte das Urteil an deutschem Staatseigentum in Griechenland vollstreckt werden: Das Goethe-Institut in Athen sollte gepfändet werden. Dies verhinderte Außenminister Joschka Fischer, indem er das schon damals schwächer positionierte Griechenland diplomatisch unter Druck setzte. Daraufhin stoppte die griechische Regierung die Pfändung. Auch das Urteil des Obersten Sondergerichtshofs von 2001 zum Massaker von Lidoriki kann auf den deutschen Druck zurückgeführt werden. Mit knapper Mehrheit entschied der Sondergerichtshof zugunsten der deutschen Staatenimmunität. Obwohl die allgemeinverbindliche Kraft dieses Urteils angezweifelt wird, u.a. in der Stellungnahme der griechischen Vertretung in Den Haag, hat die Entscheidung seither faktisch Gesetzeskraft in Griechenland.[8] Diese Tendenz wurde 2007 vom EuGH in Brüssel festgeklopft: Im Fall des Massakers von Kalvryta entschied der Gerichtshof, dass keine zivilen Entschädigungsforderungen an Deutschland gestellt werden können.

Opferangehörige aus Distomo hatten demgegenüber bereits den anderen Weg gewählt und sich an deutsche Gerichte gewandt. Doch diese erkennen keine Individualklagen an, sondern akzeptieren nur solche auf Staatsebene. In diesem Zusammenhang behauptete die Bundesregierung sogar, das Massaker von Distomo sei kein NS-Unrecht gewesen,[9] und der Bundesgerichtshof bezeichnete in seinem Urteil von 2003 die Rechtslage von 1944 als maßgeblich.[10] Darauf legtendieselben Kläger_innen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Beschwerde gegen die deutschen Entscheidungen ein. Diese wurde nach fünf Jahren – im Juli 2011 – abgelehnt, da der EGMR, im Gegensatz zu den Kläger_innen, die Mitgliedsländer des Europarates nicht durch die Europäische Menschenrechtskonvention zu individuellen Entschädigungen für Vergehen ihrer Vorgängerstaaten verpflichtet sah. Hoffnung weckte nun die Verlegung auch der griechischen Klagen vor italienische Gerichte.

Italien als Täterstaat...

Italien als ehemaliger faschistischer Verbündeter Deutschlands und als Land der Resistenza agiert bis heute in einer entsprechenden Doppelrolle. So wurden gleich nach Kriegsende sorgfältige Dokumentationen der deutschen Kriegsverbrechen für die Militärstaatsanwaltschaft angefertigt – um vermutlich bereits 1946 der juristischen Verwendung entzogen zu werden. Im sogenannten „Schrank der Schande“, der mit den Türen zur Wand im Gebäude der Militärgeneralstaatsanwaltschaft in Rom stand, ruhten rund 700 Akten, bis ihre Existenz 1994 an die Öffentlichkeit drang und der Schrank geöffnet wurde.[11]

Doch die erhoffte politische Reaktion blieb aus, der Fall wurde nicht aufgearbeitet, und es wurden sogar Akten zurückgehalten, die für einen Prozess in Deutschland benötigt worden wären. Zu peinlich wäre es gewesen, wenn die Umstände des Verschwindens dieser Dokumente genauer bekannt geworden wären. Vermutet wird ein doppeltes Motiv: Deutschland sollte der Beitritt in die NATO nicht erschwert werden; die italienischen Behörden hofften andererseits, durch die Schonung der NS-Verbrecher im Gegenzug die eigenen faschistischen Täter nicht an ehemals besetzte Länder – u.a. Griechenland – ausliefern zu müssen. Eine ähnliche Logik machte sich auch im Kontext des Haager Prozesses bemerkbar, soweit Italien als ehemaliger Verbündeter des Dritten Reiches die deutschen Interessen teilt und kooperiert.

...und Widerstand aus Italien

Doch zwischenzeitlich schien für die Opfer der Kriegsverbrechen aus Italien durchaus Unterstützung zu kommen. Wie spätestens seit Silvio Berlusconis Attacken auf Richter_innen auch international bekannt ist, zieht die italienische Justiz nicht immer mit der italienischen Regierung am gleichen Strang. Die Fülle neu entdeckten Beweismaterials aus dem „Schrank der Schande“ brachte die Verfolgung der NS-Kriegsverbrechen wesentlich voran. Nachdem der Oberste Gerichtshof Italiens im März 2004 entschieden hatte, dass die Klagen italienischer Opfer von Kriegsverbrechen und ihrer Angehörigen zulässig seien, da die Wahrung der Menschenrechte Vorrang vor dem Schutz der Staatenimmunität genieße, wurde dort eine ganze Reihe von Urteilen zu deren Gunsten gesprochen: 2004 fiel die Entscheidung zugunsten des ehemaligen Zwangsarbeiters Luigi Ferrini, 2005 zum Massaker von Sant‘ Anna di Stazzema, 2007 zu dem von Marzabotto und das letzte Urteil im Juli 2011 zu Civitella. Zahlreiche Klagen gegen Deutschland sind in Italien noch anhängig und dürften nach dem IGH-Urteil jetzt abgewiesen werden. Selbst unter Berücksichtigung all dieser Fälle wäre damit nur ein Bruchteil der NS-Massaker aufgearbeitet. Den Fall Ferrini hatte der EGMR schon 2007 auf Basis des Immunitätsarguments zugunsten Deutschlands entschieden.

Auch griechische Kläger_innen wichen auf italienische Gerichte aus, nachdem die Justiz in ihrem eigenen Land durch den deutschen Druck in ihrer Entscheidungsfreiheit lahmgelegt worden war. Im Mai 2005 entschied das Oberlandesgericht Florenz, dass griechische Entschädigungsforderungen an die Bundesrepublik auch in Italien vollstreckbar seien. Daraufhin wurden 2007 im Kontext des Falles Distomo deutsche Liegenschaften am Comer See, darunter die Villa Vigoni, mit Hypotheken belastet und Forderungen der Deutschen Bahn gegenüber den Italienischen Staatsbahnen gepfändet. Im Jahr 2008 bestätigte der italienische Kassationsgerichtshof – entgegen der deutschen Rechtsauffassung – die Zuständigkeit italienischer Gerichte für NS-Kriegsverbrechen gleich zweimal, in Bezug auf das Massaker von Civitella und auf die Zwangsarbeit. Im Dezember desselben Jahres reichte daraufhin die BRD ihre Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof ein.

Italien in Den Haag

Der Prozess wäre nicht ohne die Zustimmung Italiens als Gegenpartei zustande gekommen. Doch hier wirkten wieder die Interessen der Regierung eines ehemaligen Täterstaats. Im Vorfeld der Klage bestätigte der damalige italienische Außenminister Franco Frattini gegenüber der Süddeutschen Zeitung, dass Italien ebenfalls ein Interesse am Erhalt der Staatenimmunität habe, um sich vor Forderungen z.B. vom Balkan, aus Libyen oder Äthiopien zu schützen. Man werde mit Deutschland zusammenarbeiten.[12] In diesem Sinne bereitete er mit dem Auswärtigen Amt unter Steinmeier eine Übereinkunft vor. Auf dieser Grundlage erklärten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Silvio Berlusconi am 18. November 2008 in Triest gemeinsam, dass sie einer „Klärung dieser komplexen Frage“ vor dem IGH zustimmten. In seiner Klage forderte Deutschland von Italien, die bisherigen Urteile für unvollstreckbar zu erklären und für die Zukunft alle rechtlichen Schritte seiner Gerichte gegen den deutschen Staat zu unterbinden. Dennoch formulierte Italien im Rahmen seiner Stellungnahme am IGH eine Gegenklage, die allerdings abgelehnt wurde.[13] Auch in den Anhörungen in Den Haag Ende September 2011 überraschte die schlagkräftige Argumentation, die die Vertretung Italiens gegen Deutschland vorbrachte. Gegen die Interessen der deutschen wie der italienischen Regierung wurde die zwingende Verbindlichkeit der Menschenrechte ins Feld geführt.

Über das Urteil zeigte sich die italienische Politik dann wieder erfreut, ohne es sich jedoch mit der Seite der Opfer verscherzen zu wollen: Außenminister Giulio Terzi äußerte seinen „Respekt“ für das Urteil, versicherte aber wenige Tage nach der Urteilsverkündung, die italienische Regierung wolle bei den nun anstehenden Beratungen mit Deutschland den Opfervereinigungen auf jede nur mögliche Weise beistehen. In der Presse herrscht ebenfalls ein gespaltenes Bild vor. Während die Zeitungen von links bis Mittelinks wie Il Manifesto und La Repubblica Bedauern über die Niederlage der Menschenrechte äußerten, gab sich der konservative Corriere della Sera eher zurückhaltend und das Berlusconi-Blatt Il Giornale druckte sowohl zustimmende als auch ablehnende Artikel, die jedoch weniger auf die Opfer als auf den historischen deutschen Feind eingingen. Der Präsident der Nationalen Vereinigung Italienischer Partisanen (ANPI), Carlo Smuraglia, zeigte sich tief enttäuscht über das Urteil. Er präsentierte Terzi einen Forderungskatalog, der angesichts der annähernden Unmöglichkeit, zukünftig noch Entschädigungsforderungen durchzusetzen, umso mehr auf die verbleibenden immateriellen Aspekte der Gerechtigkeit dringt: Von Italien wird die schonungslose und vollständige Aufklärung der so lange verschwiegenen Kriegsverbrechen gefordert und von Deutschland, dass die Täter endlich zur Rechenschaft gezogen würden.

Deutschland in Den Haag

Während Griechenland als Nicht-Partei erst im Juli 2011 überhaupt seine Teilnahme am Prozess mit Beobachterstatus durchsetzen konnte, spielte Deutschland als Kläger naturgemäß eine tragende Rolle bei den Verhandlungen. Die Delegation der Bundesrepublik wurde, neben Tomuschat, von Susanne Wasum-Rainer, Leiterin der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt und dem deutschen Botschafter in den Niederlanden, Heinz-Peter Behr, geleitet. Dabei gingen juristische und politische Argumente Hand in Hand, wobei das Bemühen immer darin lag, den Aspekt der deutschen Schuld zugunsten der Immunitätsfrage auszublenden. Um den Zweiten Weltkrieg, so Wasum-Rainer gleich in ihrer ersten Stellungnahme ausdrücklich, gehe es nicht. Die Staatenimmunität wurde wesentlich mit ihrer angeblichen friedenspolitischen Bedeutung begründet. Der von der deutschen Delegation hinzugezogene Genfer Völkerrechtler Robert Kolb verglich den bei einer Aushöhlung der Staatenimmunität drohenden Ansturm von Klagen mit einem „Tumor“, während Tomuschat im Vorfeld von „Menschenrechtsextremismus“ gesprochen hatte.[14] Lediglich die Hinweise auf die angeblich geleisteten Entschädigungen und das deutsche Bedauern könnten darauf hindeuten, dass sich die BRD teilweise der juristischen Tragkraft ihrer Position doch nicht ganz sicher gewesen sein mag.

Dass der Internationale Gerichtshof alle Punkte der italienischen Argumentation ablehnte und der Bundesrepublik in allen ihren Forderungen zustimmte, wurde von Außenminister Westerwelle begrüßt und in den deutschen Zeitungen bis auf wenige Ausnahmen zustimmend aufgenommen. Die Staatenimmunität wurde ganz auf der Linie der deutschen Delegation in Den Haag als unveräußerliche Bedingung für ein stabiles Staatensystem gesehen, das Frieden garantiere. Denn nur wenn sich Staaten nicht vor unendlichen Entschädigungsforderungen fürchten müssten, seien Friedensschlüsse möglich.

Kritik am Urteil

Der mit den Opfern solidarische Arbeitskreis Distomo hingegen sprach in seiner Presseerklärung von einer „Kapitulation des Rechts vor der Macht“. Gemeint ist damit die Macht von Staaten wie Deutschland, die weder für ihre vergangenen Kriege bezahlen noch durch das finanzielle Risiko von Entschädigungsforderungen von zukünftigen Kriegsverbrechen abgehalten werden wollen. Frieden ist in dieser Logik nur abgeleitet vom Krieg denkbar, als zwischenstaatlich vereinbarter „Schwamm drüber“; die Vorstellung, dass Individuen damit noch lange nicht ihren Frieden finden können und Kriege daher von vornherein vermieden werden sollten, ist den Verfechter_innen der Staatenimmunität fremd. Amnesty International kritisierte das Urteil ebenfalls scharf als Rückschritt für die Menschenrechte und Vernachlässigung der Haager Konventionen. Die Organisation hatte bereits vor dem Urteil in einem ausführlichen Positionspapier der Auffassung widersprochen, der absolute Vorrang der Staatenimmunität sei friedenspolitisch sinnvoll.[15]

Auch wenn das Urteil nur für Deutschland und Italien unmittelbar bindend ist, wird es eine internationale Wirkung entfalten. Die Opfer bzw. ihre Angehörigen sind nun von Entscheidungen abhängig, die zwischen Regierungen getroffen werden. Von der offensichtlich mächtigen deutschen Politik zu erwarten, dass sie nun auf diplomatischem Weg auf die Opferangehörigen zugehe und ohne Zwang Entschädigungen vereinbare, ist angesichts der hier geschilderten Geschichte der deutschen Anti-Entschädigungspolitik unwahrscheinlich. So wird ein entsprechender Vorschlag des IGH auch in vielen Kommentaren als unrealistisch eingestuft. In dieser einzigen Passage des Urteilsspruchs, die Zugeständnisse an die italienische Position machte, war die mangelnde Bereitschaft Deutschlands zur Lösung der Entschädigungsfrage auf eigenem Territorium, insbesondere der Ausschluss der italienischen Zwangsarbeiter aus den Entschädigungsregelungen, kritisiert worden.

Richterlicher Dissens

Drei der fünfzehn Richter_innen – Antônio Augusto Cançado Trinidade (Brasilien), Abdulqawi Ahmed Yusuf (Somalia) und Giorgio Gaja (Italien) – hatten gegen den wesentlichen ersten Punkt des Urteils gestimmt, welcher die italienischen Prozesse für rechtswidrig erklärt. In ihren Sondervoten kommt ein
grundlegender Gegensatz ihrer Perspektive zu derjenigen der Mehrheit zum Ausdruck: Während in der Urteilsbegründung zahlreiche menschenrechtliche Argumente der italienischen Vertretung als irrelevant für die Staatenimmunität systematisch ausgeschlossen wurden, bestehen diese drei Richter umgekehrt auf dem bedingungslosen Primat eines basalen Individualrechtsschutzes. Über Staatenimmunität könne „nicht im luftleeren Raum“ entschieden werden, so Cançado Trinidade, insbesondere nicht angesichts der Schwere der Menschenrechtsverletzungen, für die der Klägerstaat verantwortlich gemacht wird. Auch Yusuf zufolge hätte der Kontext beachtet werden müssen, anstatt, wie das Gericht es tat, das Gewohnheitsrecht rein formal und als „Frage von Zahlenverhältnissen“[16] zu behandeln.

Cançado Trinidade, der sich als einziger in allen Punkten gegen Deutschland wandte, stellt klar: „Angebliche zwischenstaatliche Verzichtsvereinbarungen für Rechte, die der menschlichen Person innewohnen, sind unzulässig, sie stehen dem internationalen ordre public entgegen und ihnen muss jegliche juristische Wirksamkeit entzogen werden.“[17] Das internationale Recht werde nicht durch Schadensersatzforderungen von Opfern bedroht, sondern durch die Vertuschung solcher internationaler Verbrechen und die Straflosigkeit der Schuldigen. Vielmehr entspreche das zwingende Prinzip des jus cogens für den Schutz der individuellen Opfer einem grundlegenden Rechtsbegriff, der allen partikularen Rechtssystemen noch vorgeordnet sei. Alle drei Richter betonen, dass die Bewertung der Staatenimmunität im internationalen Recht sich noch mitten in der Entwicklung befinde und dass die Tendenz dieser Entwicklung in Richtung einer stärkeren Gewichtung der Menschenrechte gehe. Ein staatenzentriertes internationales Rechtssystem sei bereits „durchlöchert wie ein Schweizer Käse“, konstatiert Yusuf. Cançado Trinidade folgert daraus: „Die Aufhebung der Staatenimmunität im Bereich von Handelsbeziehungen oder bezüglich lokaler, persönlicher Vergehen (z.B. bei Verkehrsunfällen) zuzulassen und gleichzeitig in Fällen internationaler Verbrechen auf dem Schutz von Staaten durch Immunität zu bestehen, die von schweren Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts gekennzeichnet sind, kommt einer juristischen Absurdität gleich.“[18]

Perspektiven

Doch diese Stimmen sind in Den Haag unterlegen. Es bleibt zu hoffen, dass sie in Zukunft ihr Gewicht entfalten – im vorliegenden Fall jedenfalls scheint nach dem Urteil die Durchsetzung der Rechte der Opfer und ihrer Angehörigen kaum noch eine Chance zu haben. Immerhinsind noch zwei Prozesse anhängig: Das Massaker von Kalavryta wird vor dem EGMR in Straßburg verhandelt, einen italienischen Fall muss der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entscheiden. Auch die Umsetzung des Urteils durch Italien ist noch nicht restlos geklärt: Italien ist verpflichtet, zu verhindern, dass die bereits Entschädigungsberechtigten ihre Ansprüche gegenüber Deutschland geltend machen und wird dadurch ihnen gegenüber regresspflichtig – Italien könnte diese Kosten von Deutschland zurückzufordern. In solchen Konflikten, meint Martin Klinger vom Arbeitskreis Distomo, bleiben letzte Spielräume für die Menschenrechte der Opfer und ihrer Angehörigen.

Diesen wurden in so manchem Kommentar scheinheilige, habgierige Motive vorgeworfen, wo doch ihr Schmerz ohnehin nicht bezahlbar sei. Doch umgekehrt wäre zu fragen, wie im Jahr 2000 Bundespräsident Rau „Trauer und Scham“ für die Opfer des Massakers von Kalavryta bekunden konnte, während Fischer die griechische Justiz unter Druck setzte; wie 2008 Steinmeier die Toten der Risiera di San Sabba beklagen konnte, während Merkel und Berlusconi die Klage in Den Haag vorbereiteten; kurz: Wie Deutschland so schamlos Reue demonstrieren kann, ohne dass diese einen auch nur halbwegs schmerzhaften Preis haben darf.

Johanna Wintermantel ist Redakteurin bei Radio Dreyeckland Freiburg.

Weiterführende Informationen:

www.nadir.org/nadir/initiativ/ak-distomo www.resistenza.de
www.istoreco.re.it

[1] Die ausschließlich männliche Form wird in diesem Text dort verwendet, wo von ausschließlich männlich definierten Gruppen auszugehen ist.
[2] Vgl. Stephen Rehmke, Forum Recht (FoR) 2007, 46.
[3] BVerfGE 94, 315.
[4] Anja Hense, RAV Infobrief 103, 2010.
[5] Ebenda.
[6] Ebenda; vgl. auch Maximilian Pichl, FoR 2010, 59.
[7] Martin Klingner, Wer schuldet wem was? Mitschnitt des Freien Sender Kombinats Hamburg, 30.05.2010, online unter http://www.freie-radios. net/34315 (Stand aller Links: 08.03.2012).
[8] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 17/574, 11.02.2010, online unter http://dip21. bundestag.de/dip21/btd/17/007/1700709.pdf.
[9] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 16/1478, 30.5.2006, online unter http://www. ulla-jelpke.de/uploads/1601634_Distomo.pdf.
[10] BGHZ 155, 279; vgl. Martin Klingner, Deutschland entzieht sich NS-Verantwortung, Legal Tribune v. 12.09.2011, über www.lto.de.
[11] Vgl. Deutsche Reue, und zwar umsonst, Feature von Radio Dreyeckland, über www.rdl.de.
[12] „Wir brauchen eine symbolische Geste“, Interview von Stefan Ulrich, Süddeutsche Zeitung v. 19.06.2008.
[13] Erlass des IGH vom 06.07.2010, online unter http://www.icj-cij.org/docket/ files/143/16883.pdf.
[14] Andrea Böhm / Michael Thumann / Philipp Mausshardt, Was kostet Gerechtigkeit?, Die Zeit v. 02.02.2012.
[15] Vgl. www.amnesty.org.
[16] Dissenting Opinion of Judge Yusuf, online unter http://www.icj-cij.org/docket/files/143/16893.pdf.
[17] Dissenting Opinion of Judge Cançado Trinidade, online unter http://www.icj-cij.org/docket/files/143/16891.pdf.
[18] Ebenda.