Unterhaltsprinzip? Abschaffen!

Plädoyer für eine neue Idee der Subsidiarität

Das Unterhaltsprinzip beruht darauf, dass sich Familienmitglieder im Bedarfsfall gegenseitig bei der Absicherung des Lebensbedarfs materiell unterstützen. Unter Familie wird dabei eine eheliche oder eine ähnlich gestellte partnerschaftliche Beziehung, eine Beziehung infolge leiblicher Abstammung oder infolge eines Obsorgeverhältnisses verstanden. Dem gemäß gibt es den Kindesunterhalt, den Unterhalt für (Ex)EhepartnerInnen oder (Ex)PartnerInnen einer eingetragenen Partnerschaft, den Elternunterhalt sowie den Unterhalt für jene, für die eine Obsorge und Erziehungsberechtigung besteht.

Kennzeichnend für das Unterhaltsprinzip ist, dass eine Unterhaltsverpflichtung in Abhängigkeit von einer Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten und in Abhängigkeit von einer Unterhaltsleistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten besteht. Wenn die (Ex)PartnerIn oder das Kind genügend Einkommen haben, besteht kein Unterhaltsanspruch. Umgekehrt besteht keine Unterhaltspflicht, wenn der Unterhaltsverpflichtete nicht über genügend Einommen verfügt, um einer Unterhaltsverpflichtung nachzukommen. Vermögen spielt bei einigen unterhaltsrechtlichen Beziehungen bei der Beurteilung der Berechtigung bzw. Verpflichtung zum Unterhalt eine Rolle. Auch die Höhe der Unterhaltsleistung ist abhängig von Einkommen und Vermögen des zum Unterhalt Verpflichteten: PartnerInnen, Eltern und Kinder reicher Personen haben einen höheren einklagbaren Unterhaltsbetrag zur Absicherung ihres Bedarfs als PartnerInnen, Eltern und Kinder Ärmerer.

Erwerbsarbeitspflicht

Die Abhängigkeit von Bedarfen und Leistungsfähigkeit hat zur Folge, dass beide Seiten verpflichtet sind, das ihnen Mögliche zur Sicherung des eigenen Bedarfs und zur Sicherung des Bedarfs des Unterhaltsberechtigten zu unternehmen – in der Regel durch Erwerbsarbeit. Das wiederum hat zur Folge, dass im Streitfall nicht nur Einkommen und Vermögen, sondern auch Erwerbsarbeitsfähigkeit, -möglichkeit und -bereitschaft beider Seiten kontrolliert und überprüft werden.

Abhängigkeit von Partnerschaften und weiteren Kindern

Der Grad der „Leistungsfähigkeit“ der Unterhaltsverpflichteten ist auch abhängig von deren partnerschaftlichen Situation. Leben Unterhaltsverpflichtete in einer Partnerschaft mit einem „leistungsfähigen“ Partner, wird dessen Selbstbehaltbetrag faktisch gekürzt, weil aufgrund des Zusammenlebens ein geringerer Eigenbedarf unterstellt wird. Oder umgekehrt: Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten gegenüber einem Unterhaltsberechtigten wird gemindert, wenn er noch für den Unterhalt einer PartnerIn oder eines Kindes aufzukommen hat. Das heißt, dass die „Lebensbedarfe“ der Unterhaltsberechtigten abhängig von ehelichen Beziehungen und der Anzahl der Kinder des Unterhaltsverpflichteten sind. Analoge Abstufungen bestehen auch bezüglich des Bedarfs von Unterhaltsberechtigten aufgrund deren nichtehelichen Partnerverhältnissen, wenn diesen ein geminderter Bedarf unterstellt werden kann.

Das Unterhaltsrecht ist ein kompliziertes Geflecht von Einkommens- und Vermögensfaktoren, Erwerbsverpflichtungen und Rangfolgen von Unterhaltsverpflichtungen gegenüber zu berücksichtigenden Partnerschaften und Kindern – mit der Konsequenz massenhafter persönlicher und gerichtlicher Auseinandersetzungen. Dieses Geflecht bestimmt die soziale Situation sowohl der Unterhaltsberechtigten als auch der Unterhaltsverpflichteten sowie deren PartnerInnen, Eltern und Kinder.

Unterhaltsrecht und Sozialrecht

Privatrechtliche soziale Absicherungen haben gegenüber bestimmten steuerfinanzierten sozialen Absicherungen, wie z. B. Hartz IV, den Vorrang. Das heißt, bevor diese Sicherungssysteme im Bedarfsfall eine soziale Leistung zur Absicherung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe von Bedürftigen übernehmen, sind vorrangig Unterhaltsleistungen aus privatrechtlichen Ansprüchen zur sozialen Absicherung einzusetzen. Das bedeutet, dass die sozialrechtlichen Kontrollen und Überprüfungen der Einkommens- und Vermögenssituation die unterhaltsrechtliche Situation aller Mitglieder der sozialrechtlichen Bedarfsgemeinschaft umfasst, denn diese bestimmt die Einkommenssituation der Antragsstellenden auf eine Grundsicherungsleistung. Dass dieses Neben- und Nacheinander verschiedener Sicherungssysteme für sozialrechtlich Bedürftige, für unterhaltsrechtlich Verbundene und für staatliche Stellen zu enormen Zeit- und Personalaufwänden bis hin zu massenhaften gerichtlichen Auseinandersetzungen führt und letztlich zu ebenso massenhaften Bedarfsunterdeckungen bei Bedürftigen, liegt auf der Hand – von den oft zu verzeichnenden persönlichen Auseinandersetzungen ganz zu schweigen.

Subsidiarität neu definieren

Ursache des komplizierten und ungerechten Bedarfsdeckungsprinzips im Unterhaltsrecht ist das Subsidiaritätsprinzip, das die Familie zur vorrangigen Institution der sozialen Absicherung erklärt. Das ist nicht nur aus feministischer Perspektive zu kritisieren, denn Frauen sind am meisten von den Problemen dieser Absicherungspräferenz betroffen. Es ist auch angesichts einer immer vielfältigeren Beziehungs- und Familienwirklichkeit eine konservative, zufällige, unsichere und ungerechte Form sozialer Absicherung.

Eine moderne Form der Subsidiarität muss allen Menschen im Bedarfsfall individuell, also unabhängig von partnerschaftlichen oder Eltern-Kind-Verhältnissen Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichern – gleichberechtigt und verlässlich organisiert durch das Gemeinwesen. Eine individuelle Grundsicherung und die Abschaffung des bürgerlichen Unterhaltsrechts wären dazu nötig. Ein anderer Schritt, der auch negative Folgen von sozialrechtlichen Bedürftigkeitsprüfungen abschafft (z. B. die verdeckte Armut), wäre die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Mit solchen Formen der gemeinwesenbasierten Subsidiarität könnten sich staatlich reglementierte und kontrollierte Unterhaltsverhältnisse und persönliche Abhängigkeitsverhältnisse in materieller Abhängigkeiten entledigter Zuneigungsverhältnisse wandeln.