Es führt ein Weg nach Andererseits

Open Science ist Vorbote einer neuen Commons-Kultur

Galilei hatte erklärt, mit einem ausreichend langen Hebel könne er die Welt aus den Angeln heben. Der Ausspruch klingt heute wie eine frühe Vorahnung der technischen Dimensionen des Maschinenzeitalters. Dampfmaschinen, Fließbänder und Lokomotiven haben die Welt aus ihren feudalen Angeln gehoben. Elektromotoren, Sendemasten, Raketen und Satelliten haben sie auf neue Füße gestellt. Nun aber herrscht Maschinenwinter. Die großen Werkhallen ziehen nach Osten und Süden. Das Riesenhafte ist antiquarisch geworden. Wissenschaftlicher Fortschritt bedeutet heute den Aufbruch in die Winzigkeit. Chips schrumpfen und betten sich in unseren Alltag ein. Nanostoffe revolutionieren unsere Umwelt. Auch die wertvollsten Produkte der Maschinenwinterwelt haben sich verändert. Sie haben oft gar keine Größe mehr. Sie sind nur noch Gedanken. Es sind die Innovationen, Forschungswissen, Ideen. Sie rütteln an der Welt wie Millionen von Zahnstochern und heben sie doch noch lange nicht erneut aus den Angeln.

Einerseits waren wohl nie zuvor in der Geschichte der Menschheit so viele mit Wissensarbeit beschäftigt. Andererseits arbeiten Wissensarbeiter zumindest in unseren Breiten ganz weitgehend und überwiegend in Formen und Strukturen früherer Epochen. Hierarchien sind mächtig, Lehrstühle sind häufig wie Königsthrone, mit Mitte 40 werden Habilitierte als „Nachwuchs“ bezeichnet, der mit ungewisser Zukunft die Arbeit macht. Wer es in der Wissenschaft zu etwas bringen will, muss zudem in den renommierten Journalen, Verlagen und Reihen publizieren. Diese haben ihre eigenen Regeln und Begutachtungsriten. Je länger eine Publikationsliste, umso besser. Symbolisches Kapital sorgt für die nötige Aufmerksamkeit und irgendwann für den ersehnten Lehrstuhl oder privatwirtschaftlichen Forschungsjob. Nur ein Teil der papiernen Weisheiten finden sich auch online. Frei zugänglich sind sie zumeist nicht, frei verwendbar in der Regel ebenfalls nicht. Einerseits hat die digitale Revolution die schnelle Verarbeitung riesiger Textmengen ermöglicht. Andererseits steht die öffentliche Bündelung und Aufbereitung des bestehenden Forschungsstandes im Widerspruch zu (Urheber-)Recht und (eigennutzorientierter) Moral der Gesellschaft.

Die digitale Revolution hat wohl gerade erst begonnen. Wir stecken in einem Zwischenzustand aus einerseits und andererseits. Einerseits ist das Web ein Ort, an dem sich jeder Forschende mit der freimütigen Publikation seiner Ideen selbst materiell schaden kann. Andererseits ist das Netz die ideale Arbeitsplattform für das wissenschaftliche Arbeiten, ist Bibliothek, Hörsaal, Forschungslabor und Kongress. Einerseits verblasst der Urheber eines Gedankens hinter den millionenfachen Kopien der eigenen Leistung. Andererseits findet eine Idee nirgendwo so schnelle Verbreitung und Beachtung wie im digitalen Raum.

Open Science will das wissenschaftliche Arbeiten verändern, indem Forschungswissen in allen Phasen seiner Entstehung offen geteilt, verbreitet und diskutiert wird. Die vielfältigen Konzepte der offenen Wissenschaft heben auf unterschiedliche Begründungen ab. Der freie Transfer von Erkenntnissen und Forschungsmitteln könne die Geschwindigkeit der Wissensproduktion erhöhen und damit die alte Form des Arbeitens ökonomisch überflügeln. Weil Wissenschaft eigentlich eine generationsübergreifende, überwiegend durch die Allgemeinheit finanzierte Massenveranstaltung ist, müssten ihre Produkte auch der gesamten Menschheit gehören. Wissen sei das einzige Produkt, das man teilen könne, ohne es zu verlieren.

Der Philosoph Robert K. Merton stellte vier Postulate eines wissenschaftlichen Ethos auf: Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit und organisierten Skeptizismus. Allen vier kommt eine auf digitalen Plattformen basierende, offene und vernetzte Wissenschaft idealiter entgegen. Die Methoden zum Einstieg stehen bereit: Open Access als kostenloser, freier Zugang zu Publikation, Open Data als offene Nutzbarmachung von Forschungsdaten, die offene Begutachtung von Texten nicht durch wenige, sondern durch viele im Netz. Später ließen sich weitere Stufen der Vernetzung denken: universelle Plattformen, die Bibliotheken und Repositorien ablösen und den wissenschaftlichen Prozess an sich vernetzen, strukturieren und transparent machen.

Realiter stehen die alten Strukturen davor: So lange die inneren Mechanismen der Wissenschaft, ob privat oder öffentlich finanziert, auf der Akkumulation von finanziellem, symbolischem und sozialem Kapital basiert, so lange Titel, Ausstattung, Publikationslisten und Patente die Währung sind, ist Open Science nur ein Projekt weniger Enthusiasten. Einerseits.

Andererseits ist das Internet keine Fiktion. Es ist da und kann in einem allmählichen Prozess für den Umbau von Moral, Recht und Gesellschaft ebenso wirksam werden, wie die wissenschaftlich-technischen Umwälzungen des 18. und 19. Jahrhunderts dereinst für den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft. Es führt ein Weg nach Andererseits. Nur eine Karte gibt es nicht. Die Entscheidung darüber, wie vernetzte Computer unsere gesellschaftliche Entwicklung beeinflussen können und sollen, ist damit zunächst einmal eine politische Frage. Diese Frage stellt Selbstverständlichkeiten wie wissenschaftliche, ökonomische und politische Hierarchien, die Homogenität der Lohnarbeitsgesellschaft, die Rolle der Gewerkschaften, der Parteien, der Massenmedien und geltende Immaterialgüterrechte zur Disposition. Open Science ist nur ein Anfang.