Die Ironie der Biennalisierung

In den letzten Jahrzehnten ist es zu einer regelrechten Biennalisierung des Kunstfelds gekommen. Heute existieren weltweit, je nach Zählung, 100 bis 150 Biennalen. Diese Biennalisierung spielt unmittelbar hinein in die Politik. Da wäre zuallererst natürlich die Lokalpolitik, für die Biennalen und ähnliche Großveranstaltungen – wie etwa die Europäischen Kulturhauptstädte – zu einem effizienteren Stadtmarketing beitragen. Da wäre aber auch, über die ökonomische Wertschöpfung vor Ort hinaus, die Politik des Nationalstaats. So trägt die Politik der Biennalisierung nicht zuletzt zur Konstruktion lokaler, nationaler und kontinentaler Identität bei. Darin schließt ihr Format, wie oft beobachtet wurde, direkt an jenes der Weltausstellungen an, die das innere nation building der Kolonial- und Industrienationen des 19. Jahrhunderts unterstützten. Dies leisteten Weltausstellungen, indem sie vor allem zwei Seiten des Nationalstolzes bedienten: Einerseits führten sie die neuesten Errungenschaften der Technik und des Fortschritts vor, andererseits die exotischsten Errungenschaften kolonialistischer Raubzüge. Fortschritt und Rassismus waren auf Weltausstellungen untrennbar miteinander verbunden. Auf der Pariser Weltausstellung von 1889 zeugte der Bau des Eiffel-Turms von den Leistungen des französischen Ingenieurwesens, während zugleich afrikanische Dörfer mitsamt EinwohnerInnen dem europäischen Publikum vorgeführt wurden.

Noch lange nicht haben sich alle westlichen Biennalen, Museen und Ausstellungsinstitutionen vom Erbe des Exotismus und Nationalismus verabschiedet. Kontinuitäten sind, bei allen Unterschieden, unübersehbar – selbst wo heute nicht länger an der Ideologie der Nation, sondern an jener der „europäischen Identität“ gebastelt wird, etwa mithilfe einer europäischen Biennale wie der Manifesta. Aber könnten Institutionen wie Biennalen über ihre ideologische Funktion hinaus eine im engeren Sinn progressive politische Funktion besitzen? Wäre eine Politik der Biennalisierung denkbar, die in der Welt – und nicht nur in jener art world, die sich selbst für die Welt hält – irgendetwas zum Besseren wenden könnte? Genauer: Existiert eine Chance, dass thematisch fokussierte Großausstellungen zur Gesellschaft hin ausstrahlen, etwa um politische Themen in die öffentliche Debatte zu schleusen, die sonst nur geringe Sichtbarkeit besäßen? Eine solch politische Funktion von Kunst-Öffentlichkeiten würde quer stehen zu den aktuelleren Formen des ideologischen nation building durch Museen und Biennalen, so wie sie quer stehen würde zur ökonomischen Funktion des Kunstbetriebs als Marktplatz, auf dem Waren und Dienstleistungen gehandelt werden.

Tatsächlich ist diese Möglichkeit keineswegs ausgeschlossen. Man muss bedenken, dass gerade die sogenannten peripheren Biennalen ihre eigenen Netzwerke bilden, sowie Kommunikations- und Übersetzungskanäle öffnen, die vor Ort als wertvoll eingeschätzt werden können. Biennalen bieten einen „beispielhaften Ort kultureller Übersetzung und transnationaler Begegnung“.[1] Man mag einwenden, dass dies nur für die Elite der FunktionärInnen des Kunstfelds und ein paar Biennale-Hopper gilt, doch bildeten Biennalen und ähnliche Großveranstaltungen zugleich immer Attraktionspunkte für politische Bewegungen, die sich im Schutz und Schatten des Spektakels organisierten und dessen Repräsentationsfläche zu nutzen wussten. So wies schon Walter Benjamin darauf hin, dass Weltausstellungen zwar „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“ seien, wo der Tauschwert der Ware verklärt werde und den Menschen Phantasmagorien der Zerstreuung angeboten würden,[2] dass sie aber an bestimmten Punkten von außen politisierbar oder zumindest politisch nutzbar waren: „Zur pariser Weltausstellung von 1867 erläßt Victor Hugo ein Manifest ‚An die Völker Europas’. Früher und eindeutiger sind deren Interessen von den französischen Arbeiterdelegationen vertreten worden, deren erste zur londoner Weltausstellung von 1851, deren zweite von 750 Vertretern zu der von 1862 abgeordnet wurde. Diese war mittelbar für die Gründung der Internationalen Arbeiter-Association von Marx von Bedeutung.“[3]
Gewollt oder ungewollt können Großausstellungen – schon allein aufgrund der plötzlichen Massierung von Infrastruktur und der Verfügbarkeit medialer Repräsentationsflächen – zu facilitators politischer, d.h. kunstfeld-externer Artikulationen werden. Bis heute zieht die documenta in Kassel – schon aufgrund der Medienaufmerksamkeit, die sich auf das Ereignis fokussiert – politische Gruppen an, ob diese nun eingeladen wurden oder nicht. So wurde, wie als entferntes Echo auf die Treffen der Arbeiterdelegationen im 19. Jahrhundert, 1997 im „hybrid workspace“ der dX ein aktivistisches Netzwerk gegen Abschiebungen namens kein mensch ist illegal gegründet, das bis heute existiert. Die Berlin Biennale dieses Jahres hat Berliner Occupy-AktivistInnen einen Raum zur Nutzung überlassen, während auf der diesjährigen documenta andere Occupy-AktivistInnen wiederum uneingeladen gecampt haben.

Der Politik der Biennalisierung haftet also eine gewisse Ironie an. Nicht Ironie im humoristischen Sinne, sondern im materialistischen – eine objektive Ironie: Einerseits werfen Großausstellungen zum Zwecke des nation building enorme symbolische, repräsentative und infrastrukturelle Ressourcen ins Spiel. Das macht sie gewissermaßen zu riesigen Ideologiemaschinen oder besser: Hegemoniemaschinen der – bürgerlichen, nationalstaatlichen, okzidentalistischen, europäistischen – Dominanzkultur. Doch andererseits, und hierin liegt die Ironie, wird es Großausstellungen nie gelingen, die Effekte, die sie produzieren, vollständig unter Kontrolle zu halten. Wo immer Ressourcen zu Verfügung stehen, werden sie auch von Unbefugten angezapft. Die hegemonialen Diskurse, die von solchen Hegemoniemaschinen reproduziert und in Zirkulation gehalten werden, können anders gelesen werden als intendiert. Und es kann noch schlimmer kommen; der Apparat selbst kann in die Hände des Feindes fallen. Nachrückende Fraktionen können ihre Ansprüche anmelden und Änderungen einfordern (wie etwa im Fall der 68er) oder gar den Apparat umbauen und anderen Zwecken zu Verfügung stellen. Durch das Hijacking von Institutionen – wie etwa im Fall des „new institutionalism“ – lässt sich der kulturelle Reproduktionsapparat der Dominanzkultur zumindest teilweise entwenden, auseinander- und auf andere Weise wieder zusammenbauen. Das habe die jüngsten „politischen Biennalen“ – von der von WHW kuratierten 11. Istanbul Biennale bis zur 7. Berlin Biennale – zumindest ansatzweise versucht. Die Experimente werden weitergehen, denn die Biennale ist ein zu mächtiges Format, um politisch ignoriert zu werden.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Winter 2012, „Eventisierung“.

 



[1]
            [1] Siehe hierzu Okwui Enwezor: Großausstellungen und die Antinomien einer transnationalen globalen Form, München: Fink 2002,  S.20.

[2]
            [2] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V.1., hgg, von Rolf Tiedemann, FfM..: Suhrkamp, 1991, S.50.

[3]
            [3] Ebd., S.51.