Neuer Fall Hariri?

Zum Mord an Wissam al-Hassan

in (27.10.2012)

 

Am Nachmittag des 19.10. gegen 15 Uhr wurde der Beiruter Stadtteil Ashrafieh von einer schweren Explosion erschüttert, der schwersten in der libanesischen Hauptstadt seit mehreren Jahren. Ein oder zwei Sprengsätze, die nach ersten Ermittlungen in einem in einer Seitenstraße des belebten Sassine-Square geparkten Toyota-Geländewagen angebracht waren, erforderten 8 Todesopfer, an die hundert Unbeteiligte wurden verletzt, der Straßenzug verwüstet. Unter den Toten war Brigadegeneral Wissam al-Hassan, Chef des Polizeigeheimdienstes, offensichtlich das Ziel des Anschlags.

Der 1965 geborene al-Hassan war eine Schlüsselfigur im libanesischen Sicherheitsapparat. Es ist eines der größten Rätsel des Anschlags, wie die Attentäter überhaupt wissen konnten, dass Hassan an jenem Tag den Weg nehmen würde, auf dem ihn die tödliche Autobombe erwartete, die anscheinend ohne jede Rücksicht auf andere Opfer gezündet wurde. Hassan sei nämlich erst kurz zuvor von einer Reise ins Ausland zurückgekehrt, wo er dem "Spiegel" zufolge zuerst ein Treffen zu Sicherheitsfragen in Berlin, dann seine Familie besucht haben soll, die zu ihrem Schutz seit einiger Zeit im Pariser Exil lebe. In Ashrafieh habe er sich unmittelbar nach seiner Rückkehr mit einer Journalistin in einem geheimen Büro getroffen. Videoaufzeichnungen zeigten, dass der Toyota-Allrad von Unbekannten, nach denen nun gefahndet werde, Stunden vor dem Attentat auf einem Parkplatz abgestellt wurde, der zuvor mit einem anderen Fahrzeug freigehalten worden sein soll. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und andere Stimmen im In- und Ausland verurteilten das Verbrechen umgehend als Akt des Terrorismus.
 
Rechte Hand der Hariris
 
Hassan standen alle Mittel zur Verfügung, sich gegen Überwachung oder einen Anschlag zu schützen, so wie bereits seinem mächtigen Ziehvater, dem früheren Ministerpräsidenten Rafiq Al-Hariri, der jedoch am 14.2.2005 auf ähnliche Weise ermordet wurde. Damals soll es sich nach UN-Angaben um eine von einem Selbstmordattentäter betätigte Autobombe von 2,5 t TNT gehandelt haben, diesmal wird angenommen, dass insgesamt 50 kg TNT ferngesteuert explodierten.
2001 war Hassan vom Mitarbeiter in Hariris Wachschutz zu dessen Sicherheitschef befördert worden. Zu dieser Zeit war Hariri ein enger Verbündeter nicht nur des Westens und mehr noch Saudi-Arabiens, dessen Staatsbürgerschaft die Familie Hariri besitzt und dem sie ihr Vermögen verdankt, sondern auch Syriens. Nach Hariris Tod wurde Hassan zur rechten Hand von dessen Sohn Saad, dem die Führung der Mustaqbal-Partei und der Koalition des "14. März" zugefallen war und der fortan einen strikt gegen Syrien und die Hizbullah gerichteten Kurs einschlug, wenn er sich auch 2010 vorübergehend mit Asad versöhnte. 2006 wurde Hassan Chef des neu eingerichteten Geheimdienstes der Polizei, die selbst seit April 2005 von General Ashraf Rifi geleitet wird, einem weiteren Hariri-Getreuen. Rifi ist Mitglied im Vorstand der Prinz-Nayif-Akademie für Sicherheitsfragen in Saudi-Arabien. Mit Hilfe Rifis und Hassans versuchte also die Saudi-Arabien ergebene Sunni-Fraktion um die Hariris, sich innerhalb der verschiedenen libanesischen Sicherheitsdienste und -Kräfte ein eigenes Standbein aufzubauen.
Wissam al-Hassan hat diese Aufgabe mit großem Erfolg wahrgenommen. Der Polizeigeheimdienst wird vielfach für seine Professionalität und Effektivität gelobt, sodass Hassan als Nachfolger Rifis an der Spitze der Polizei galt. Gleichwohl wird Hassans Polizeigeheimdienst von der seit Anfang 2011 an der Regierung befindlichen Koalition des "8. März" als illegal angesehen. Hassan leitete auch die Untersuchungen im Mordfall Rafiq al-Hariri und war in dieser Eigenschaft ein wichtiger Zuarbeiter für das in Den Haag ansässige Hariri-Sondertribunal (STL) und seinen Vorläufer, die UN-Untersuchungskommission UNIIIC. Der 2008 ermordete Hauptmann Wissam Eid war unter Hassans Leitung maßgeblich am Enstehen der Anklage des STL gegen Hizbullah beteiligt, tragende Säule der gegenwärtigen Regierungskoaltition des "8. März". So soll Eid einer im Herbst 2010 ausgestrahlten Sendung des kanadischen Senders CBC zufolge in mühevoller Kleinarbeit ungezählte Mobiltelefon-Verbindungsnachweise analysiert haben und auf diese Weise auf die Spur der mutmaßlichen Hizbullah-Attentäter gelangt sein. Gleichwohl behauptet das STL, dass es unabhängig von Eid eigene Auswertungen der Protokolle unternommen habe. Allerdings wurde Hassan in der fraglichen Sendung der CBC selbst verdächtigt, an der Ermordung seines früheren Chefs beteiligt gewesen zu sein: Als Erklärung dafür, warum er Hariri zur Tatzeit nicht wie üblich begleitet habe, hatte er damals angegeben, wegen eines Examens an der Universität, das er habe ablegen müssen, verhindert gewesen zu sein. Telefonprotokollen zufolge soll er aber im fraglichen Zeitraum ganze 24 Telefongespräche geführt haben. Dennoch sprach Saad al-Hariri Hassan demonstrativ das Vertrauen aus.
 
Erfolg und Niederlage
 
Seinen größten Erfolg erzielte Hassans Geheimdienst jedoch nicht gegen Syrien, Hizbullah, die Jihadisten der palästinensischen "Fatah al-Islam", die 2007 im Norden Libanons bekämpft wurden, sondern ausgerechnet zusammen mit Hizbullah gegen Israel. Kaum war 2009 aus einem "Spiegel"-Artikel bekannt geworden, dass das STL Hizbullah aufgrund von Mobiltelefon-Analysen anklagen wollte, enttarnte Hassans Geheimdienst Zug um Zug einen israelischen Spion nach dem anderen, bis hinauf in die Spitzen der libanesischen Sicherheitskräfte, bezeichnenderweise aber auch der Telefongesellschaften, von denen ja die Verbindungsnachweise der Anklage stammen. Es ist dabei unklar, ob Hassan bewusst gegen die Spione ermittelt hatte, nur zufällig auf die Spur der Geheimagenten geraten war, als er Hizbullah ins Visier seiner Behörde nahm und dabei auf die israelischen Agenten stieß, die Hizbullah ihrerseits beschatteten, oder auch überwiegend von dieser selbst seine Informationen erhalten hatte.
Die Arbeit eines Geheimdienstgenerals bedingt mitunter schmutzige Hände. Anfang 2011 wurde aufgrund eines vom libanesischen Fernsehsender "Al-Jadeed TV" als sogenanntes "Haqiqa-Leak" ausgestrahlten Audiomitschnitts aus dem Umkreis der UN-Ermittlungen im Mordfall Hariri bekannt, dass al-Hassan einer der Drahtzieher im "Skandal der falschen Zeugen" war, bei dem Ende 2005 Syrien mit Hilfe erpresster und gekaufter Zeugenaussagen des Hariri-Mordes beschuldigt werden sollte.
Seit 2011 war Hassan zudem engstens in die Organisation des Aufstands in Syrien involviert. Bereits zuvor hatte anscheinend auch die Bewaffnung eigener sunnitischer Milizen als Gegengewicht zu Hizbullah zu seiner Untergrundtätigkeit gehört. Erst kurz vor seinem Tod soll Hassan in einem Interview seine Rolle im syrischen Aufstand bedauert haben. Kritische Beobachter wenden daher ein, dass Saad al-Hariri Hassan mutwillig geopfert habe, indem er ihn in das saudische Spiel des nahöstlichen "Regime Change" mit Hilfe von Extremisten involviert habe, das in der jüngsten Zeit zunehmend außer Kontrolle gerate, wie vor allem das Beispiel Tripoli zeige, wo das Militär gegen aufständische Salafis einrücken musste. Insbesondere soll Hassan versucht haben, die palästinensische "Fatah al-Islam", die er zuvor bekämpft hatte, für die syrische Revolution zu instrumentalisieren. Es sei nicht auszuschließen, dass Hassan selbst in die Vorbereitung von Terroranschlägen involviert war. Erst vor wenigen Monaten fiel der syrische Geheimdienstchef Assef Shawkat einem Anschlag zum Opfer.
 
Todesdrohungen
 
Vor allem aber wird Hassans Ermordung vor dem Hintergrund der sogenannten Samaha-Affäre wahrgenommen. Es war sein Geheimdienst, der maßgeblich für die Verhaftung des früheren Informationsministers Michel Samaha im August verantwortlich war. Dieser soll angeblich mit seinem eigenen Auto, einem Geschenk Bashar al-Asads, Sprengsätze aus Syrien nach Libanon geschmuggelt haben, mit deren Hilfe Anschläge auf Gegner Syriens hätten verübt werden sollen. Anscheinend war Samaha seit längerer Zeit, vermutlich seit 2010, von Hassan überwacht worden, unter anderem mit Hilfe einer im Auto angebrachten Abhörvorrichtung. Wochenlang erhoben daher die Zeitung "Ad-Diyar" und der Brigadegeneral a. D. Jamil as-Sayyed, der ebenfalls in die Samaha-Affäre verwickelt ist, schwere Vorwürfe gegen Hassan, beruhend auf dem Verdacht, er selbst könne den Vorfall von Anfang an inszeniert haben, um über Samaha die aus Iran, Syrien und Hizbullah bestehende sogenannte "Achse des Widerstands" gegen Israel zu diskreditieren. Der Polizeigeheimdienst gab jedoch an, durch die Anzeige eines Informanten auf die Spur Samahas gekommen zu sein. Umgekehrt müssen sich nun "Ad-Diyar" und As-Sayyed den Vorwurf gefallen lassen, Attentäter jeglicher Herkunft zu einem Anschlag auf Hassan geradezu aufgefordert zu haben.
Nicht erst aufgrund der Samaha-Affäre soll Hassan mit Morddrohungen konfrontiert gewesen sein. Israel soll ihm die Aufdeckung seines Spionagenetzes und die Zusammenarbeit mit Hizbullah verübelt haben. Auch ist Hassan Gegenstand einer ganzen Reihe von US-Botschaftsdepeschen, die durch Wikileaks veröffentlicht wurden. Feinde soll Hassan demnach auch unter den rechten christlichen Parteien gehabt haben, die sich gegen die Einrichtung seines Polizeigeheimdienstes gewehrt hatten. Nicht nur in dieser Hinsicht gibt es auffällige Parallelen zum Mord an Hassans Ziehvater Rafiq al-Hariri, der gerade am Ende seines Lebens eng an der Seite von Hizbullah-Generalsekretär Nasrallah zu sehen war und sich über die rechten Christen beklagte. Auch geschah schon der Hariri-Mord in einer Situation, in der der Verdacht wie von selbst auf Syrien fallen musste, und nicht nur das: Schon wird diskutiert, ob sich nicht das UN-Sondertribunal zum Libanon (STL) dieses Falls annehmen könnte. Dieses untersucht auch Terroranschläge, die unmittelbar nach dem auf Hariri u.a. Ashrafieh trafen, vermutlich um Furcht unter den christlichen Einwohnern zu säen, mit der Begründung, dass sie mit dem Anschlag auf Hariri in Verbindung stehen könnten, und dies könne eventuell auch auf den Mord an Hassan zutreffen. Der Vorläufer des STL, die Ermittlungskommission UNIIIC mit dem deutschen Staatsanwalt Detlev Mehlis an der Spitze, war auf entsprechende Forderungen der damaligen antisyrischen Opposition hin nach Libanon entsandt worden. Aus der Sicht seiner Gegner dürfte das STL seinen politischen Charakter übrigens erneut bestätigt haben, als es sich am 24.10. auch in zweiter Instanz für legal erklärte. Der UN-Sicherheitsrat, so das Urteil, habe einen weiten Ermessungsspielraum in seinen Maßnahmen gemäß Art. VII der UN-Charta, bestätigten die Richter. Es war zu erwarten, dass das Strafgericht sich nicht von seinem Prozess gegen die vier angeklagten Hizbullah-Mitglieder abhalten lassen will. Deren Verteidigung hatte gefordert, dass es zunächst überprüfe, ob es überhaupt rechtmäßig eingesetzt worden sei. 
 
Keine zweite Zedernrevolution
 
Wenn auch "14. März" wie zu seiner Gründung im Anschluss an den Hariri-Mord den Machtwechsel fordert, gleicht ansonsten nichts der damaligen "Zedernrevolution", von der "8. März" durchaus auch ein Teil war. Zwar gibt es seit dem tödlichen Anschlag auf Hassan wieder insbesondere in Beirut und Tripoli Proteste. Anders als nach dem Mord an Hariri, fällt die Unterstützung durch die Bevölkerung jedoch vergleichsweise verhalten aus. Stattdessen erweist sich, dass es sich bei vielen Hariri-Anhängern keineswegs um friedliche Demokratie-Aktivisten handelt. Unübersehbar sind auf die Karte des Konfessionskonflikts setzende Marodeure und Milizen z.T. mit Fahnen der syrischen Aufständischen, z.T. gar von Al-Qaida. Es gab bereits mehrere Todesopfer, darunter ein neunjähriges Mädchen, das in Tripoli von Hariri-Anhängern erschossen wurde, die es fälschlich für eine Alawitin hielten, oder einen Scheikh, der ermordet wurde, als er zur Gewaltlosigkeit rief. Als Premierminister Najib al-Miqati vergangenen Samstag tatsächlich seinen Rücktritt anbot, forderte Präsident Suleiman ihn jedoch auf, im Amt zu bleiben. Hassans Beerdigung fand am 21.10. statt, überschattet von dem Versuch militanter Hariri-Anhänger, den Sitz des Premierministers zu stürmen. Bis heute dauern die gewaltsamen Auseinandersetzungen und die Furcht vor einem Übergreifen des syrischen Bürgerkriegs auf Libanon an. Die vier UN-Vetomächte, von denen die westlichen 2005 die "Zedernrevolution" nach Kräften befördert hatten, riefen diesmal durch ihre Botschafter zur Beilegung aller Konflikte auf und vermieden es, Partei zu ergreifen. Das heißt aber keineswegs, dass sie neutral sind.
Aber wer war es? Wie nach dem Hariri-Mord bezichtigen alle Seiten sich gegenseitig. Sogar auf Deutschland fällt ein Schatten des Verdachts. Nur wer hatte überhaupt die technischen Möglichkeiten und konnte sich zugleich unerkannt in Libanon bewegen, und nicht zuletzt: Wem nützt's? Nach dieser Frage zumindest scheinen einige der üblichen Verdächtigen schnell auszuscheiden. Unlogisch, so die Tageszeitung "Al-Akhbar", erscheine es, Syrien gleichermaßen für die stümperhafte Samaha-Affäre und den mit eiskalter Präzision ausgeführten Anschlag auf Hassan verantwortlich zu erklären. Hizbullah wiederum hatte sich bei der Samaha-Affäre auffällig zurückgehalten, wahrscheinlich um nicht tiefer in den tragischen Syrien-Konflikt hineingezogen zu werden. Und Israel, als Rache für seine ausgeschalteten Spionagenetze? Im Iran liquidiert der israelische Geheimdienst gegenwärtig einen Wissenschaftler nach dem anderen, wobei es sogenannte Kollateralschäden weitgehend vermeidet. Verglichen damit zeugte der Anschlag auf Hassan also nicht von der gleichen Handschrift. Wer aber käme sonst noch als Täter in Frage?
 
25.10.2012
 
Quellen: Al-Akhbar, Angry Arab, Al-Jazeera, Spiegel, NYT, Al-Quds al-arabi, Daily Star, An-Nahar, STL, Qifa Nabki, The Orange Room, inamo