Hunger als Menschenrechtsverletzung

Das Recht auf Nahrung im UN Sozialpakt

Wenn Menschenrechte mehr sein sollen als Absichtserklärungen auf geduldigem Papier, lautet die entscheidende Frage: Wie wird aus dem Menschenrecht auf Nahrung etwas zu essen? Dass es dafür nicht immer mehr Ressourcen braucht, sondern weniger Diskriminierung, zeigt sich auch in Deutschland.

Das Recht auf Nahrung zielt nicht in erster Linie auf Nahrungshilfen oder ein Ernährt-Werden. Staaten müssen vielmehr die nötigen Rahmenbedingungen schaffen, damit Menschen sich selbst ernähren können. Deshalb wird es auch treffend als das „Recht, sich (angemessen) zu ernähren“ bezeichnet. Doch rund 925 Millionen Menschen auf der Welt hungern oder sind chronisch unterernährt[1] - die meisten von ihnen nicht deshalb, weil es keine Nahrung gäbe, sondern weil sie sich vorhandene Nahrung nicht leisten können.[2] Angesichts dieser Umstände ist Hunger kein Schicksal, sondern ein politischer Skandal und eine schwere, andauernde Menschenrechtsverletzung.

Wirtschaftliche Vereinbarungen, die ohne Rücksicht auf die Menschenrechte geschlossen werden sowie politische Dogmen und Vorurteile, die noch aus dem Kalten Krieg stammen, verhindern die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung weltweit. Nachdem sich der Westen vornehmlich die bürgerlich-politischen Rechte, der Osten die sozialen Rechte auf die Fahnen geschrieben hatte, sind die Menschenrechte in einen ideologischen Grabenkampf geraten, der bis heute verhängnisvoll wirkt. Noch immer werden soziale Rechte als utopisch, zu teuer oder als nicht justiziable „Staatszielbestimmungen“ abgetan,[3] wird der künstliche Gegensatz zwischen (sozialen) „Leistungsrechten“ und (bürgerlich-politischen) „Abwehrrechten“ aufrechterhalten. Doch das Recht auf Nahrung fordert von Regierungen sowohl Taten wie Unterlassungen, hat Leistungs- und Abwehrkomponenten und kann keinem politischen Lager zugerechnet werden.

Nahrung, die dem Wohl und der Gesundheit der Menschen angemessen ist, verzeichnet 1948 bereits Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Völkerrechtlich verbindlich garantiert der UN Sozialpakt in Art. 11 das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, einschließlich ausreichender Ernährung, und auch in der Kinderrechtskonvention ist es ausdrücklich verankert. Das Recht als solches ist damit universell anerkannt: 160 Staaten haben den UN Sozialpakt ratifiziert; alle 193 UN Staaten haben die Kinderrechtskonvention gezeichnet, nur zwei Ratifikationen stehen noch aus.[4] Für die Vertragsstaaten resultiert daraus ein übergreifendes Diskriminierungsverbot (Art. 2 Abs. 2 UN Sozialpakt) sowie die Pflicht, das Recht auf Nahrung zu achten, zu schützen und unter Ausschöpfung aller Ressourcen zu gewährleisten – die sogenannte Pflichtentrias.

 

Was heißt angemessen?

Angemessene und ausreichende Nahrung bedeutet nicht irgendetwas zu essen, sofern es nur den Magen füllt. Nach Definition des UN Sozialausschusses ist das Recht auf Nahrung dann verwirklicht, wenn diese verfügbar und ohne Diskriminierung zugänglich bzw. erhältlich ist, jeweils kulturell angemessen und akzeptabel ist und in ihrer Zusammensetzung qualitativ den jeweiligen Bedürfnissen entspricht.[5]

Der UN Sozialausschuss hat mit seinen Allgemeinen Bemerkungen – speziell mit der Allgemeinen Bemerkung Nr. 12, die eigens das Recht auf Nahrung behandelt – die staatlichen Verpflichtungen konkretisiert und damit die politische Umsetzung des Rechts auf Nahrung und seine Einklagbarkeit entscheidend vorangebracht. Das 18-köpfige Expert_innengremium überwacht außerdem die Einhaltung des Sozialpakts, bestellt die Vertragsstaaten in regelmäßigen Abständen zum Bericht über ihre Maßnahmen und Fortschritte ein und sorgt dafür, dass die Vertragsstaaten den Sozialpakt nicht unterschreiben, abheften und getrost vergessen. Kritik trifft keineswegs nur ressourcenschwache Länder: Im Mai 2011 kritisierte der Ausschuss im Rahmen des regulären Staatenberichtsverfahrens auch die Bundesrepublik für Verstöße gegen den Sozialpakt.

Das reguläre Staatenberichtsverfahren wird seit langem auch von Vertreter_innen der Zivilgesellschaft dazu genutzt, um dem Ausschuss recherchierte Fälle und Fakten zur Kenntnis zu bringen. Solche Einzelfälle können auch Verletzungen des Rechts auf Nahrung anschaulich machen und nachzeichnen, wo im konkreten Fall das Versäumnis und die Verantwortung des Staates liegt. Diese Fallstudien haben viel dazu beigetragen, das Recht zu konkretisieren und dadurch die Justiziabilität sozialer Rechte weltweit voranzutreiben. Parallelberichte der Zivilgesellschaft werden auf den UN-Webseiten ebenfalls veröffentlicht. Ausführliche Berichte zu Deutschland – die u.a. Verletzungen des Rechts auf Nahrung infolge der deutschen Handels- und Agrarpolitik anprangern, aber auch Verstöße gegen andere Rechte des Sozialpakts aufführen – bilden ein Gegengewicht zum offiziellen Bericht der Regierung und sind ebenfalls auf der Website des UN Ausschusses nachzulesen.[6]

 

Nicht Technik, sondern Menschenrechte

Wie konkret, anschaulich und anwendbar das Recht auf Nahrung in der Politik und in der Rechtsprechung sein kann, beweisen auch die Berichte des UNO-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung – ein Amt, das 2000 eingerichtet wurde. Seither haben Jean Ziegler und sein Nachfolger Olivier de Schutter die Umsetzung dieses Rechts beobachtet und Regierungen praktische Empfehlungen und Richtlinien an die Hand gegeben. Sie warnen, wenn neue Entwicklungen das Recht auf Nahrung verletzen oder gefährden. Ihre Berichte untersuchen beispielsweise die Auswirkungen von genmanipuliertem Saatgut auf das Menschenrecht auf Nahrung, die zunehmende Spekulation mit Nahrungsmitteln, den Klimawandel, Agro-Sprit oder den großflächigen Ankauf von Ackerflächen (Land Grabbing).[7]

Mit den freiwilligen Leitlinien für das Recht auf Nahrung, die sämtliche Mitgliedstaaten der Welternährungsorganisation (FAO) verabschiedeten,[8] wurde 2004 ein Paradigmenwechsel der internationalen Staatengemeinschaft sichtbar: Die Lösung liegt nicht in der Produktion, sondern in der gerechten Verteilung von Nahrung. Statt technischer Innovationen müssen – in Übereinstimmung mit den Menschenrechten – politische Schritte ergriffen werden, um Diskriminierung zu überwinden und mit partizipativen Maßnahmen das „empowerment“ fördern, um so wiederum die Aussicht auf nachhaltige Lösungen zu verbessern.

Tatsächlich hat sich gezeigt, dass es möglich ist, selbst widerstrebende und zögernde Staaten weltweit zur Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Pflichten zu bewegen.Wo das gelingt, ist es meist der Beharrlichkeit und dem Mut von Betroffenen zu danken, die – zum Teil unter Einsatz ihres Lebens – damit zugleich andere ermutigen, ihre Rechte ebenfalls einzufordern. Im besten Fall werden sie dabei von einer aktiven Zivilgesellschaft unterstützt, internationalen Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen.

 

Achtungspflicht: Der Staat als Täter

Auf der ersten Stufe der staatlichen Pflichtentrias steht die Achtungspflicht. Dass jeder Staat das Recht auf Nahrung achten muss, klingt selbstverständlich. Die Achtungspflicht verlangt keine kostspieligen Investitionen – ein simples Nichts-Tun reicht. Trotzdem werden in zahlreichen Ländern, wie z.B. Simbabwe, Kambodscha oder Italien, Siedlungen über Nacht dem Erdboden gleichgemacht: Bei einer solchen rechtswidrigen Räumung verlieren Menschen mit der gesamten Infrastruktur ihres Lebens meist auch die Grundlage ihrer Existenz; hier wird der Staat selbst zum Täter schwerer Menschenrechtsverletzungen. Nicht selten bleiben die Täter_innen straflos. Auffallend häufig treffen staatlich verordnete Menschenrechtsverletzungen Bevölkerungsgruppen, die bereits marginalisiert und diskriminiert werden, z.B. Slumbewohner_innen, Indigene, Roma oder Flüchtlinge.

So haben in Paraguay Polizist_innen im Rahmen eines Landkonflikts indigene Gemeinschaften von dem Land vertrieben, das sie traditionell bewohnt und bewirtschaftet haben. Wohnungen und Ernte wurden verbrannt, viele Familien mussten unter Plastikplanen am Seitenstreifen einer Schnellstraße Zuflucht suchen und haben dort jahrelang ausgeharrt. Sie haben den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen und Recht bekommen: Paraguay muss ihnen ihr angestammtes Land zurückgeben. Mehr als drei Jahre lang haben sich die Behörden geweigert, diesen Urteilsspruch umzusetzen. In all dieser Zeit hielten die indigenen Gemeinschaften aus, der internationale Druck ließ nicht nach, und im Sommer 2011 griffen die Vereinten Nationen den Fall auf. Jetzt besteht Anlass zur Hoffnung, dass das Urteil endlich auch umgesetzt werden wird: Im Zuge des regelmäßigen Staatenberichtsverfahrens vor dem Menschenrechtsrat ist Paraguay für dieses Versäumnis scharf gerügt worden. Im August 2011 hat Paraguay daraufhin die Kritik öffentlich akzeptiert und zugesagt, den indigenen Gemeinschaften die Rückkehr auf ihr Land zu ermöglichen.[9]

 

Die Schutzpflicht lässt sich nicht „outsourcen“

Der Staat muss die Menschenrechte nicht nur achten, sondern sie auch vor Übergriffen Dritter schützen – Artikel 11 des Sozialpakts enthält ausdrücklich das Recht, „vor Hunger geschützt zu sein“. Staaten müssen z.B. Grundwasser und Felder vor Verseuchung bewahren. Im Nigerdelta haben die Bewohner_innen sich gegen den Global Player Shell durchgesetzt: Das umweltzerstörerische Abfackeln von Gas, das ihre Umwelt und ihre Lebensgrundlage zerstörte, ist inzwischen in der Verfassung verboten – jetzt müssen die nigerianischen Behörden und Gerichte allerdings die effektive Durchsetzung sicherstellen. Die nächste gerichtliche Auseinandersetzung um Ölverschmutzungen gigantischen Ausmaßes ist angelaufen; Shell hat die Verantwortung für zwei Schadensfälle bereits übernommen.[10] Ein UN Bericht hat belegt, dass die Umweltschäden noch schlimmer sind, als bisher angenommen wurde. Menschenrechtsorganisationen kritisieren nicht nur Shell als Verursacher, sondern auch, dass die nigerianischen Behörden die Unternehmen zu wenig kontrolliert haben. Der aktuelle Fall in London belegt, welch wichtiger Fortschritt im effektiven Menschenrechtsschutz es ist, wenn ein Unternehmen wie Shell sich für sein Handeln in Nigeria auch in Europa gerichtlich verantworten muss.

Welche Verträge ein Staat auch immer mit Wirtschaftsunternehmen abschließt, sei es eine Konzession zur Rohstoffförderung, der Verkauf fruchtbaren Landes an ausländische Investoren oder die Privatisierung der Wasserversorgung: Die verbindliche Verantwortung für die Menschenrechte kann kein Staat „outsourcen“. Diese Verpflichtung endet auch nicht an den geographischen Landesgrenzen. Aber nur zögernd stellen sich Staaten ihren extraterritorialen Pflichten, indem sie beispielsweise heimische Unternehmen, denen Menschenrechtsverletzungen im Ausland vorgeworfen werden, strafrechtlich zur Rechenschaft ziehen.

Statt dessen machen sich Staaten wie die Bundesrepublik selbst gravierender Verletzungen des Rechts auf Nahrung im Ausland schuldig. Die Handels- und Agrarpolitik auf nationaler, EU- und globaler Ebene verschärft und vertieft strukturelle Ursachen des Hungers, statt durch eine konsequente Ausrichtung an den Menschenrechen zu seiner Bekämpfung beizutragen. Auch die Entwicklungszusammenarbeit ist fehleranfällig, wenn nicht auf allen Ebenen ein menschenrechtliches Monitoring greift: Nach Recherchen der Menschenrechtsorganisation FIAN (Food First Informations- und Aktions-Netzwerk) und anderen kann ein vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstütztes Projekt in Kambodscha, das durch Landtitelvergabe Rechtssicherheit und Ernährungssouveränität sichern soll, in der praktischen Umsetzung ausgerechnet bei den Ärmsten der Bevölkerung zu Verletzungen des Rechts auf Nahrung führen.[11] Der UN Sozialausschuss hat die Bundesrepublik deshalb aufgefordert, das menschenrechtliche Monitoring in der Entwicklungszusammenarbeit zu verbessern.[12]

 

Gewährleistungspflicht: Eine Frage der Prioritäten

Neben der Achtungs- und der Schutzpflicht hat jeder Vertragsstaat eine Gewährleistungspflicht. Sie kann direkte Lebensmittellieferungen erfordern, sei es für die eigene Bevölkerung, sei es im Rahmen internationaler Zusammenarbeit. Doch unter die Gewährleistungspflicht fallen viele andere Maßnahmen, die nichts mit direkter Nahrungshilfe zu tun haben – z.B. eine Agrarreform, die es landlosen Familien ermöglicht, sich künftig selbst zu ernähren, der Aufbau eines Sozialversicherungssystems oder Steuervergünstigungen für Arbeitgeber_innen in verarmten Regionen. Während die Gewährleistungspflicht unter der pragmatischen Maßgabe der fortschreitenden Verwirklichung steht, duldet die Beseitigung bestehender Diskriminierung keinen Aufschub.

Wo das Menschenrecht auf Nahrung mangels Ressourcen verletzt wird, ist es Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, diesem Mangel abzuhelfen, wie es auch der UN Sozialpakt in Art. 2, 11 und 23 verpflichtend vorsieht. Der UN Sozialausschuss hat die Bundesrepublik im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens in diesem Jahr erneut aufgefordert, die Entwicklungshilfe zu erhöhen – ein positives Echo hat diese Forderung auch diesmal nicht gefunden. Ob es um innen- oder außenpolitische Entscheidungen geht: Oft fehlt es bei der Gewährleistungspflicht nicht an Ressourcen, sondern an dem politischen Willen, die vorhandenen Ressourcen dort auszugeben, wo sie nötig sind. Umso mehr, wenn solche Entscheidungen weder populär noch wahlentscheidend sind. So ist nach Aussagen von Amnesty International in Slowenien, einem der wirtschaftsstärksten neuen EU-Land, fast die gesamte Bevölkerung ans Wassernetz angeschlossen. Bemerkenswerte Ausnahme: Roma-Siedlungen, in denen der Alltag von extremer Armut und dem vehementen Rassismus ihrer Umgebung geprägt ist. Erst internationale Proteste haben die slowenische Regierung veranlasst, seit Mitte 2011 auch solche Roma-Siedlungen an die Wasserversorgung anzuschließen, die sie bis dahin als „illegal“ eingestuft hatte. Die Berufung auf Artikel 11 des Sozialpakts kann Regierungen zwingen, ihren Fokus – wenn auch widerwillig – auf den Abbau von Diskriminierung zu lenken und mit den betroffenen Gruppen gemeinsam nach nachhaltigen Lösungen zu suchen.

 

Ein Meilenstein: Das Zusatzprotokoll

Der jüngste Meilenstein ist das Zusatzprotokoll zum Sozialpakt. Das Zusatzprotokoll beantwortet die Frage, ob soziale Rechte überhaupt justiziabel seien, mit einem klaren Ja. Es eröffnet Menschen, die in ihren sozialen Rechten – auch im Recht, sich zu ernähren – verletzt sind, die Möglichkeit, sich an den UN Sozialausschuss zu wenden, wenn sie den nationalen Rechtsweg ausgeschöpft haben. Noch ist es nicht in Kraft getreten, weil die Mindestzahl von zehn Ratifikationen nicht erreicht ist, aber rund 40 erfolgte Zeichnungen und die erklärte Ratifikationsabsicht mehrerer mittel- und südamerikanischer Regierungen lassen hoffen, dass es bald in Kraft tritt. Das Zusatzprotokoll stärkt vor allem die Rechte von Menschen in Armut, die sich damit gegen ihre jeweilige Regierung zur Wehr setzen können. Die Bundesrepublik zwar hat mehrfach angekündigt, das Zusatzprotokoll zum Sozialpakt zügig ratifizieren zu wollen – passiert ist bisher aber nichts. Damit setzt sie sich dem Verdacht aus, eine Überprüfung sozialpolitischer Maßnahmen auf menschenrechtliche Defizite zu scheuen und versperrt Menschen in Deutschland bewusst den Weg zu den Vereinten Nationen.

So wichtig das Zusatzprotokoll auch ist: Um im Alltag effektiv durchsetzbar zu sein, müssen soziale Menschenrechte in erster Linie national verankert sein. Die meisten Richter_innen und Jurist_innen blättern nicht in völkerrechtlichen Verträgen, wenn sie einen Sachverhalt juristisch beurteilen wollen, sondern ziehen ihr nationales Gesetz zu Rate. Auch in der deutschen Rechtssprechung spielt der 1973 von der Bundesrepublik ratifizierte Sozialpakt, außer in der Auseinandersetzung um wiedereingeführte Studiengebühren, praktisch keine Rolle – und das, obwohl er den Rang eines Bundesgesetzes hat.

 

Deutschland: Abwiegeln statt Abhilfe

In Staaten, die das Recht auf Nahrung und/oder Wasser ausdrücklich in der Verfassung verankert und eine entsprechende Rahmengesetzgebung erlassen haben, konnten Betroffene damit vor Gericht bereits Erfolge erstreiten. In diesem Punkt sind beispielsweise Indien, Brasilien oder Südafrika der Bundesrepublik voraus. Zwar verankert das Grundgesetz in Artikel 20 Abs. 1 das Sozialstaatsprinzip. Lange Zeit wurde daraus aber kein individueller Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum abgeleitet. Erst 2010 hat das Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) – der Menschenwürde - in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG – dem Sozialstaatsprinzip - in seinem Urteil zu den Hartz-IV-Sätzen einen individuellen Rechtsanspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum bejaht. Wie soll dieser Anspruch aber mit den Sätzen für Asylsuchende, die weit unter der Sozialhilfe liegen und seit 1993 stagnieren, noch gewährleistet sein? Diese Frage hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen im Juli 2010 dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt und bereits deutlich gemacht, dass es an der Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) zweifelt. Amnesty International ist in einer ausführlichen Stellungnahme bereits zu einem eindeutigen Ergebnis gelangt: Nein, diese Sätze ermöglichen kein menschenwürdiges Minimum (wozu auch Teilhabe am kulturellen Leben gehört).[13] Außerdem schränken Sachmittelleistungen und Zuweisungen bestimmter Waren-Kontingente Asylsuchende in ihrem Recht ein, ihre Nahrung selbst zu wählen. Sind diese Defizite bereits drastisch, so ist es hinsichtlich der Sätze für Kinder noch schlimmer. Hier ist Amnesty International zu dem Schluss gekommen: Mit diesen Pauschalen können Asylsuchende ihre Kinder nicht einmal angemessen und den gesundheitlichen Minimalstandards gemäß ernähren! Doch obwohl die Regierung bereits 2010 angekündigt hat, die Leistungen für Asylsuchende noch vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts anheben zu wollen, ist seither nichts passiert: Ein Monat nach dem anderen verstreicht, ohne dass diese Ankündigung umgesetzt wird. Eine derart kalkulierte Verletzung des Rechts auf Nahrung ist ein vernichtendes Zeugnis für ein Land, das so viel Geld für anderes aufbringt.

Auch der UN Sozialausschuss hat im Mai 2011 die Diskriminierung von Flüchtlingen und Migrant_innen in Deutschland scharf kritisiert. Das ist jedoch bei weitem nicht der einzige wunde Punkt. Einige Forderungen betreffen ausdrücklich das Recht auf Nahrung: Nicht nur die fatalen Auswirkungen deutscher Handelspolitik auf die Ernährungslage in anderen Ländern wurden angesprochen. Die Bundesregierung konnte dem Ausschuss auch nicht überzeugend darlegen, wie sie im eigenen Land sicherstellt, dass Schulkinder auch ohne Schulspeisung angemessen versorgt werden. Dabei, so betont der Ausschuss, müsste ihre Aufmerksamkeit vor allem Kindern aus sozial benachteiligten Familien gelten. Bisher reagiert die Bundesregierung auf diese menschenrechtliche Kritik – wie schon beim Asylbewerberleistungsgesetz – nicht etwa mit sofortiger Abhilfe, sondern mit Abwiegeln und Abwarten. Umso wichtiger ist es, sie endlich dazu zu verurteilen, ihren Pflichten aus dem Sozialpakt in vollem Umfang nachzukommen.

 

Dorothee Hasskamp ist Mitglied einer Menschenrechtsorganisation und war u.a. an der deutschen Parallelberichterstattung an den UN Sozialausschuss beteiligt.



[1]    http://www.fao.org/hunger/en/ (Stand aller Links: 17.09.2011).

[2]    Olivier de Schutter, The Right to Food. The Role of national Parliaments in combating hunger, The World of Parliaments, Quarterly Review, 36 (2009), http://www.ipu.org/news-e/wop/36/5.htm.

[3]    Z.B.: Horst Pötzsch, Grundrechte. Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, 2009, http://www.bpb.de/themen/A6LHF4,1,0,Grundrechte.html.

[4]    Aktueller Zeichnungs- und Ratifikationsstand: http://treaties.un.org/Pages/Treaties.aspx?id=4&subid=A&lang=en.

[5]    Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Die „General Comments“ zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Übersetzung und Kurzeinführungen, 2005, 250ff; Committee on Economic, social and cultural rights (CESCR), General Comments: http://www2.ohchr.org/english/bodies/cescr/comments.htm.

[6]    http://www2.ohchr.org/english/bodies/cescr/cescrs46.htm.

[7]    http://www2.ohchr.org/english/issues/food/annual.htm.

[8]    FAO Council,Voluntary Guidelines to support the progressive realization of the right to adequate food in the context of national food security, 2005, http://www.fao.org/docrep/meeting/009/y9825e/y9825e00.htm.

[9]    Amnesty International, „Paraguay: Amnesty International urges respect for the human rights of indigenous Peoples“, Public Statement, 2011, AI Index AMR 45/002/2011.

[10]  BBC News Africa, 4. August 2011, Nigeria Ogoniland oil clean-up 'could take 30 years', www.bbc.co.uk/news/world-africa-14398659.

[11]  Additional information presented by FIAN Germany to the Committee on economic, social and cultural Rights, 46th session, May 2nd 2011, www.fian.de, Navigation: Publikationen – Downloads – Recht auf Nahrung – Deutschlands Verantwortung.

[12]  CESCR, Conluding Observations for Germany, 46th Session, 20. Mai 2011, UN Index E/C.12/DEU/CO/5, http://www2.ohchr.org/english/bodies/cescr/docs/E.C.12.DEU.CO.5_en.doc.

[13]  Amnesty International, Stellungnahme gem. § 27a BVerfGG im Verfahren 1 BvL 10/10, 2010: http://www.amnesty.de/files/Stellungnahme-AmnestyInternational-1BvL10-10.pdf.