Eiskaffee in der Mall und Joggen hinterm Zaun

Die Privatisierung öffentlichen Raumes in San Salvador

in (10.09.2012)

Straßenverkäufer_innen im Stadtzentrum von San Salvador

Bei einem meiner längeren El Salvador-Aufenthalte im Jahr 2005 stellte ich irgendwann überrascht fest, dass ich mich regelmäßig zum Kaffeetrinken in einer Mall1  verabredete – zumeist im zentral gelegenen Metrocentro. Das passte eigentlich sehr wenig mit meinem Selbstverständnis zusammen: Ich wollte ja die Alltagsrealität der Salvadorianer_innen kennenlernen, die Stadt erfahren, und mich nicht in stark bewachten Luxus-Konsum-Tempeln tummeln. Aber die Idee, sich in ebendiesen auf einen Kaffee zu verabreden, war nicht immer meine gewesen. Salvadorianische Freund_innen – nicht unbedingt mit viel Geld – hatten diesen Vorschlag gemacht. Ich gab mich also geschlagen und kam zu der Einsicht, dass öffentlicher Raum, wie wir ihn aus europäischen Städten gewohnt sind, in San Salvador nicht (mehr) existiert: Parks werden gemieden, weil sie als besonders gefährlich – als Orte des Verbrechens und der Prostitution – gelten, es ist ungewöhnlich zu Fuß zu gehen, und Straßencafés im historischen Zentrum sind undenkbar. Wenn man also einen Kaffee trinken gehen möchte, dabei aber auch gerne draußen sitzt und ein bißchen den Flanierenden zusieht, dann eignet sich dafür das Einkaufszentrum am Besten.
Dort stehen schwer bewaffnete Security-Kräfte am Eingang und sortieren die Besucher_innen vor. Straßenkinder und ambulante Verkäufer_innen tummeln sich eher vor dem Eingang des Metrocentro, um den Passant_innen etwas zu verkaufen oder sie anzubetteln. Innerhalb der Mall begegnet man diesen als bedrohlich oder zumindest Unordnung schaffend wahrgenommenen – weil armen – Menschen eher nicht. Angela Reyes schreibt deswegen angesichts der Malls von einer „Traumwelt“, die geschaffen und einer Ideologie, die vermarktet wird.2  Angesichts der Gewalt auf San Salvadors Straßen und der Hilflosigkeit der Regierung, die nur über Repression und Militarisierung agiert, ist aber auch die rein physische Sicherheit nicht zu vernachlässigen, die in diesen „Traumwelten“ geboten wird.
Mit mehr als 4.300 Morden – also ca. zwölf Morden pro Tag – war in El Salvador das Jahr 2011 das gewalttätigste seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1992.3 Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung UNODC bezeichnete in seiner „Global Study on Homicide 2011“ El Salvador als das Land, in dem nach Honduras weltweit am meisten Menschen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ermordet werden.4  Gemäß der These, dass Stadt und städtischer Raum ein Spiegel der Gesellschaft sind (vgl. den Artikel „Unsere Stadt für alle oder: Wie kann man sich einen Porschefahrer vom Leib halten?“), wirkt sich die Omnipräsenz der Gewalt auch auf die Nutzung und Gestaltung des öffentlichen Raums in der Hauptstadt San Salvador aus.
Die Stadtsoziologin Sonia Baires erkennt in San Salvador einen „Trend zur Privatisierung von Wohn-, Industrie- und Einkaufsgebieten“. In den geschützten Konsumbunkern sieht sie einen „neuen Typus öffentlich-privater Reglements“. Stadtplanung – verstanden als Aufgabe der Kommunen, die auch soziale Anforderungen berücksichtigt – wird an Unternehmen ausgelagert, die wiederum Einkaufsflächen und Gastronomiebetriebe vermieten, Infrastruktur zur Verfügung stellen und Zugangsbedingungen schaffen. Öffentlicher Raum wird dadurch privatisiert und den Gesetzen des Marktes unterworfen. Der freiwillige Einschluss der ökonomisch Bessergestellten fördert aber auch den sozialen Ausschluss: Es ist eindeutig, wer als „unbequem“ oder „gefährlich“ identifiziert wird und deswegen in diesen Räumen des öffentlichen Lebens, des Konsums und der Freizeitbeschäftigung unerwünscht ist: u.a. Mitglieder von Jugendbanden, Prostituierte, Bedürftige und Straßenkinder.
Dass die Stadtplanung den Regeln des Marktes unterworfen wird, hat auch aus ökologischer Sicht fatale Konsequenzen. Für den Bau des speziell auf reiche Kundschaft ausgelegten Einkaufszentrums Multiplaza wurden Anfang der 2000er Jahre große Teile der Finca El Espino zubetoniert. Die Finca war mit der Agrarreform von 1980 zur Kooperative geworden und galt als letzte „Grüne Lunge“ des Großraums San Salvador.5
Der privatisierte öffentliche Raum wird jedoch nicht nur von ökonomisch Bessergestellten genutzt. Es kann durchaus eine Sonntagnachmittagsunternehmung einer Familie der unteren Mittelschicht sein, durch das Metrocentro (oder eines der vielen anderen Einkaufszentren) zu flanieren und Schaufenster zu bestaunen, ohne zu konsumieren. 2006 gehörten laut einem Bericht der Wirtschaftsbeilage der Tageszeitung La Prensa Gráfica 77 Prozent der Mall-Besucher_innen in der Hauptstadt zur Unterschicht und unteren Mittelschicht, 19 Prozent zum Mittelstand und nur vier Prozent zur Oberschicht.6  Das ist eher ein Querschnitt durch die salvadorianische Gesellschaft als die ökonomische Elite. Die Menschen kommen nicht nur, um einzukaufen. Sie nutzen Fitnessstudios, Kinos und Fastfood-Restaurants. Und laut Angela Reyes konsumieren sie nicht nur Waren, sondern auch Sicherheit und einen gewissen Lebensstil, „auch wenn am Ende alles gleich aussieht, wie in Madrid, wie in New York oder wie in Berlin“7.
Der Anthropologe Marc Augé spricht von Shopping-Malls als „Nicht-Orten“. Laut Augé besteht der Unterschied solcher Orte zum traditionellen Ort im Fehlen von Geschichte, Relation und Identität sowie in einer kommunikativen Verwahrlosung. Für Augé schafft der „Nicht-Ort“ Einsamkeit und Ähnlichkeit.8  Während die – Ähnlichkeit schaffende – Globalisierung eines gewissen Lebensstils, wie er von Reyes beschrieben wird, sich sicherlich in den Malls manifestiert, ist das Konzept der Einsamkeit und der kommunikativen Verwahrlosung in Bezug auf die salvadorianischen Einkaufszentren in Frage zu stellen. Mangels eines Sicherheitsgefühls im öffentlichen Raum werden Räume des Konsums durchaus vielfältig und ambivalent – eben auch zum Bummeln und Kaffeetrinken – genutzt.
 

 

Joggen hinterm Zaun

Bevor ich im Jahr 2002 das erste Mal nach El Salvador fuhr, bekam ich viele gute Tipps von Erfahrenen. Einer war, joggen sei gut möglich, falls ich in einer abgesperrten Straße wohnen würde. Da ich nicht jogge, war mir dieser Hinweis recht egal.  Erst als ich vor Ort unterwegs war, begann ich das Ausmaß des Phänomens zu verstehen: Nicht nur die ganz Reichen ziehen sich in komplett umzäunte und stark bewachte Wohnanlagen zurück, in denen große Teile der notwendigen wohnnahen Infrastruktur (z. B. Einkaufsmöglichkeiten, Gemeinschaftseinrichtungen, eigene Kindergärten, Schulen und medizinische Versorgung) bereits vorhanden sind, sondern auch Angehörige der Mittelschicht sperren gerne einfach mal ihre Straße ab.
Seit den 90er Jahren entstanden verstärkt Anwohner_innenvereinigungen, die Sicherheitstore und Pförtner_innenhäuschen für ihre jeweilige Straße beantragten, bzw. selbige ohne Genehmigung installierten. Dies führte soweit, dass der Oberste Gerichtshof festlegte, dass nur der Vize-Transportminister das Schließen einer Straße erlauben kann, während Pförtner_innenhäuschen und Eingangstore von den Gemeindeverwaltungen genehmigt werden können.9
Die Soziologin Sonia Baires gibt an, gated communities seien vornehmlich ein Mittelklassephänomen: Über 60 Prozent dieser geschlossenen Wohnanlagen seien mit Hauspreisen zwischen 28.000 und 114.000 US-Dollar dem Mittelschichtssegment zuzurechnen.10  Während die Selbstisolation der Oberschicht eine lange Tradition hat, die bis auf die Kolonialzeit zurückgeht, ist das Sicherheitsdenken und das Bedürfnis nach Abschottung nun bis in die weniger privilegierten Schichten vorgedrungen. Die Bedeutung der Sicherheit für die Entstehung der geschlossenen Wohnsiedlungen lässt sich an den Vorläufern dieser Wohnform ablesen: Zum einen entstanden in den 70er Jahren Militärkolonien, in denen Armeeangehörige vor Angriffen durch die Guerrilla geschützt werden sollten, zum anderen fand in den Jahren des bewaffneten Konflikts eine „schleichende Einmauerung“11  statt, die Schutz vor bewaffneten Auseinandersetzungen bieten sollte. Aber auch als Statussymbol kann der Rückzug hinter den Zaun oder das Pförtnerhäuschen gewertet werden: „Wesentlich ist das Gefühl, unter Gleichen zu sein und den Kontakt zu anderen auf ein Minimum zu reduzieren.“12
 Informeller Handel – ein Obststand

Informeller Handel – ein Obststand

 

Umkämpftes Stadtzentrum

Organisierung und Protest gegen diese Segregation und „Hygienisierung des Öffentlichen Raumes“13
  gibt es eher im historischen Stadtzentrum, in das die Oberschicht keinen Fuß setzt und das als „unsicher“ im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Die Menschen, die dort arbeiten, haben – trotz des auch bei ihnen vorhandenen Unsicherheitsgefühls – keine Alternativen: Da sie sich keinen Marktstand leisten können, sind sie darauf angewiesen, die – zumindest tagsüber – sehr belebten Straßen als Verkaufsort zu nutzen. Tagsüber fahren ca. 65 Buslinien durch das Zentrum. Die Händler_innen nutzen den Verkehrsknotenpunkt, um dort die diversesten Dienstleistungen anzubieten. Ein Großteil der informellen Ökonomie findet im Zentrum statt.
Der gerade mit überwältigender Mehrheit im Amt bestätigte Bürgermeister von San Salvador, Norman Quijano, der der rechten ARENA-Partei angehört, verfolgt eine Politik der Säuberung und Neuordnung des Stadtzentrums. Sein Vorgehen ist dabei aber keines, das die Betroffenen einbezieht und deren Interessen berücksichtigt. Mit Verboten und Polizeirepression werden diejenigen vertrieben, die den öffentlichen Raum – mangels Alternativen – noch nutzen und damit in den Augen des Bürgermeisters Unordnung schaffen. Die FMLN-nahe Zeitung Co-Latino berichtete im November 2011 über den Plan des Bürgermeisters den zentralen Mercado Libertad zu modernisieren. Während Quijano behauptet, dort könnten dann ca. 2000 informelle Händler_innen Unterschlupf finden, die von der Straße vertrieben werden, weisen die organisierten Händler_innen darauf hin, dass das 3,5 Mill. US-Dollar teure Projekt sehr große und für kleine Händler_innen nicht bezahlbare Verkaufsplätze vorsieht. Sie kritisieren das Projekt als „ausschließend“ und als einen Schritt Richtung Privatisierung der kommunalen Märkte.14 
Die informellen Straßenverkäufer_innen wehren sich deswegen gegen die städtische Politik, im Zentrum eine Ordnung zu schaffen, die zu ihrer Vertreibung führt. So gab es im Juni 2010 Straßenschlachten, die sich Verkäufer_innen, die von ihren angestammten Verkaufsplätzen vertrieben worden waren, mit einer Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei (UMO) lieferten.15  Auch 2011 gab es in den Tagen vor Weihnachten Blockaden und Proteste von Verkäufer_innen, die von ihren Verkaufsplätzen vertrieben wurden.16   Zwei Wochen nach den Kommunalwahlen am 11. März 2012 verkündete die Onlinezeitung Pagina, die „Flitterwochen“ des Bürgermeisters mit den informellen Händler_innen im Zentrum seien nun vorbei.17  Nachdem der Konflikt in der Zeit des Wahlkampfs geruht hatte, wird Quijano nun sein Wahlversprechen, das historische Zentrum zu sanieren, mit neuem Elan verfolgen. Es ist unwahrscheinlich, dass dies zu mehr Sicherheit und der Rückgewinnung des städtischen Raums im Sinne seiner Nutzer_innen führen wird.

 1    Mall = Einkaufszentrum —> eine bewusst konzipierte (und nicht zufällig entstandene) räumliche Konzentration von Einzelhandelsgeschäften und Dienstleistungsbetrieben unterschiedlicher Branchen und anderen Angeboten wie Fitnessstudios oder Kinos
 2    Reyes, Angela (2007): Wie in Madrid und New York. In: ila, Nr. 307, S. 8-10.
 3    http://www.elsalvador-info.org/wordpress/?p=2417, letzter Abruf 30.3.2012
 4    82 pro 100.000 Einwohner_innen in Honduras, 66 pro 100.000 Einwohner_innen in El Salvador, vgl. Hierzu: http://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/statistics/Homicide/Globa_study_on_homicide_2011_web.pdf, letzter Abruf 30.3.2012
 5    http://www.cafe-cortadora.de/attachments/article/54/kk31.pdf, letzter Abruf 30.3.2012
 6    zitiert nach: Reyes, Angela (2007): Wie in Madrid und New York. In: ila, Nr. 307, S. 8-10.
 7    Reyes, Angela (2007): Wie in Madrid und New York. In: ila, Nr. 307, S. 8-10.
 8    Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer.
 9    Baires, Sonia (2005): Klassenbewusste Einbunkerung. In: ila, Nr. 288, S. 12,13.
 10    Vgl. Hierzu: Interview mit Sonia Baires (2005) http://www.nccr-north-south.unibe.ch/_interview1005.asp, letzter Abruf 30.3.2012
 11    Baires, Sonia (2005): Klassenbewusste Einbunkerung. In: ila, Nr. 288, S. 12,13.
 12    a.a.O.
 13    Hoinle, Birgit ( 2010): Wem gehört die Stadt? In: Lateinamerikanachrichten, Nr. 430. http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/3815.html, letzter Aufruf 30.3.2012
 14    http://www.diariocolatino.com/es/20111108/municipalismo/97157/Vendedores-dicen-que-modernizaci%C3%B3n-de-mercado-Libertad-es-excluyente.htm, letzter Abruf 30.3.2012
 15    http://lapalabra.utec.edu.sv/index.php?option=com_content&view=article&id=255:vendedores-ambulantes-causan-desordenes-en-el-centro-de-la-capital-salvadorena&catid=36:realidades&Itemid=63, letzter Abruf 30.3.2012
 16    http://www.laprensagrafica.com/el-salvador/social/237976-disturbios-por-ventas-informales-en-centro-historico.html, letzter Abruf 30.3.2012
 17    http://www.lapagina.com.sv/nacionales/64375/2012/03/25/Se-acabo-la-luna-de-miel-alcaldia-capitalina-contraataca-, letzter Abruf 30.3.2012