David Harveys amerikanischer Marx [1]

Erkenntnistheorie muss vor allem Sprachkritik sein.

Bertolt Brecht

 

1. Das Problem und die Aufgabe

Harvey, Jahrgang 1935, hat im selben Jahr wie der nur wenige Monate jüngere Rezensent, nämlich 1971, damit begonnen, Kapital-Kurse abzuhalten, und auch ihn hat die Aufgabe, eine theoretisch wie praktisch brauchbare Kapital-Lektüre zu entwickeln, seither nicht losgelassen. Die Parallelen zwischen Harvey 2010 und Haug 1974 (1. Auflage der seit 1971 gehaltenen Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, in dritter Fassung 2005) sind damit noch nicht erschöpft. Beide haben nicht nur für Studierende, sondern auch für gewerkschaftlich organisierte Lohnarbeitende Einführungskurse durchgeführt. Beide wollen die Lektüre des Kapital nicht ersetzen, sondern unterstützen. Beide entdeckten die Tugend der Gründlichkeit um den Preis der Langsamkeit bei der Lektüre der ersten Kapitel – zumal des ersten –, »paying careful attention to Marx‘ language – what he says, how he says it and what, also, he takes for granted« (E 4). Beide heben die marxsche Dialektikauffassung hervor, »jede gewordne Form im Flusse der Bewegung« aufzufassen (MEW 23, 28) und erheben Einspruch gegen die populäre Phrase, Marx habe die hegelsche Dialektik ›umgekehrt‹. »Marx revolutionized the dialectical method; he didn’t simply invert it.« (E 11) Nicht zuletzt dienen beide nach Kräften dem in der Krise sich wieder meldenden Verlangen nach »einer starken theoretischen Grundlage, um besser zu fassen, wie alles mit allem andern zusammenhängt, um die eigenen besonderen Interessen und praktisch-politische Arbeit situieren und kontextualisieren« zu können (E vii).

Ein erster Unterschied besteht schlicht darin, dass der eine sich sprachlich im Universum des marxschen Originals bewegt, der andere in dem der englischen Übersetzung. Letztere tut sich mit der marxschen (deutschen) Theoriesprache schwer. Dass selbst in der bisher besten englischen Übersetzung des Kapital, der erstmals 1976 mit einer Einleitung von Ernest Mandel erschienenen von Ben Fowkes, nicht nur viele theoretische Feinheiten verloren gehen, sondern immer wieder auch Fehlinterpretationen die Begriffswahl bestimmen, ist Harvey, der kein Deutsch liest, nicht vorzuwerfen. Doch seinen Anspruch einzulösen, auf die Sprache von Marx sorgfältig einzugehen – »was er sagt, wie er es sagt und was er dabei als gewiss unterstellt« – musste ohne Rückgriff auf den marxschen Originaltext scheitern.

Seine Sorgfalt richtete sich nolens volens nicht auf den marxschen Text, sondern auf den von Fowkes überlieferten. Dort ist etwa der marxsche Ausdruck »dinglich« mit »material« (materiell) wiedergegeben. Im Gegenzug glaubt Harvey dann, unverdinglichte gesellschaftliche Verhältnisse seien für Marx »immateriell«. Der deutsche Übersetzer Christian Frings – wie jetzt der Rezensent – musste sich mit dem Problem auseinandersetzen, wie er mit denjenigen Ungenauigkeiten in Harveys Text umgeht, die sich zwar genau auf dessen Textvorlage, doch das heißt eben, auf Fowkes Übersetzung beziehen. Ob er das Problem der daraus folgenden Verwechslungen und Verwirrungen gesehen hat, wissen wir nicht, denn er gibt keinen Übersetzungsbericht, sondern begnügt sich damit, einen möglichst lesbaren Text herzustellen. Die Zitate aus Fowkes ersetzt er durch die entsprechenden MEW-Stellen; die mit dem Sprachmaterial von Fowkes arbeitenden Interpretationen Harveys stellt er daneben, nicht ohne ab und zu die so entstehenden Inkohärenzen zu überdecken. Allemal importiert er unbemerkte Sinnverschiebungen und Interpretationen, die sich auf der zweifachen Migration des Textes aus dem Deutschen ins Angloamerikanische und wieder zurück ergeben haben. So arbeitet Harvey etwa – im Glauben, es sei genau, »was Marx und wie er es sagt« – mit Marx’ vermeintlicher Absicht, »the origine of this money-form« (C I, 139) herauszufinden – denn so gibt Fowkes »Genesis dieser Geldform« (K I, 62) wieder, während Engels noch »the genesis of this money form« gesetzt hatte (C 1887, 40) –; und Frings übersetzt die Harvey hinterrücks widerfahrene Sinnverschiebung als dessen eigenständiges Original ins Deutsche: »Marx’ Ziel ist es, den Ursprung der Geldform zu erklären« (D 43). Doch so entsteht ein dritter Text, der sich auf der Grenze zur linguistischen Geldwäsche bewegt. Wie sagt doch Marx über seine Wertformanalyse: »Dem Ungebildeten scheint sich ihre Analyse in bloßen Spitzfindigkeiten herumzutreiben. Es handelt sich dabei in der Tat um Spitzfindigkeiten, aber nur so, wie es sich in der mikrologischen Anatomie darum handelt.« (K I, 12) »Genesis« meint im marxschen Kontext eine genetische Reihe, die von einer »elementaren« oder »Keimform«2 ausgeht. In dieser Reihe besitzt die Geldform gerade keinen direkten Ursprung, sondern geht aus der allgemeinen Wertform hervor, wie diese ihrerseits aus der entfalteten usw.

So handelt es sich im Folgenden nicht eigentlich um Anlage, Stärken und die enorme Bedeutung, die Harveys auch im Internet, als Video zugänglicher Kapital-Lektüre in den USA und zunehmend international zukommt, sondern um deren deutsche Ausgabe und damit um das allgemeinere Problem der Übersetzung eines aus sprachlich zweiter Hand entwickelten Verständnisses des marxschen Hauptwerks in dessen Originalsprache. Diese Aufgabe verlangte nach einem kritischen Anmerkungsapparat. Das konnte von Frings unter den gegebenen Bedingungen nicht erwartet werden. So geht es im Folgenden nicht darum, ihn schlecht zu machen. Die Kritik seiner Übersetzung setzt die der englischen Übersetzungen des marxschen Hauptwerks voraus und soll eine Aufgabe ins Bewusstsein rücken, die sich der internationalen, an Marx anschließenden theoretischen Kultur stellt. Für sie ist es unerlässlich, die Sinnverschiebungen zu erkennen, die beim Übergang zumal in die globale lingua franca entstehen, um sie neutralisieren zu können. Der Rückimport, der den Übersetzungs-Bias verdoppelt,3 verstärkt hinterrücks die Hegemonie des Angloamerikanischen und geht auf Kosten der Theorie. Wenn Frigga Haug jüngst versucht hat, »der Geschichtsenteignung der deutschen und westeuropäischen Frauenbewegung durch US-Importe entgegenzuwirken « (2011, 345), so steht hier eine kritisch-theoretische Kultur auf dem Spiel, die sich nicht zufällig in ihrer angestammten Sprache und dem in dieser Sprache historisch einzigartig herausgebildeten kritisch-dialektischen Denkens entwickelt hat. Hier richtet sich nun doch die Zweifelsfrage an Harvey selbst. Wie kann er meinen, Marx »on his own terms« (E 1) zu lesen und damit dessen eigenständiger Begrifflichkeit gerecht zu werden, wenn er das Original unberücksichtigt lässt? Mehr noch, er geht davon aus, dass »the mainly German critical philosophical tradition weighed heavily on Marx because that was his original training« (E 5).4 Könnte es sein, dass, was da vermeintlich so schwer auf Marx lastete und Harvey und seinem Übersetzer offenbar graue Haare bescherte, Eigengewicht und Tiefgang des marxschen Denkens selbst sind? Jeder, der einmal versucht hat, dialektisches Denken ins pragmatische Angloamerikanische zu bringen, kann ein Lied davon singen. Im Vorwort zu Marxism and Form, dem Buch eines anderen amerikanischen Marxisten, aber eines, der Marx und tutti quanti im Original studiert hat, ist diese Schwierigkeit beschrieben: »Nowhere is the hostility of the Anglo-American tradition toward the dialectical more apparent, however, than in the widerspread notion, that the style of these works is obscure and cumbersome, indigestible, abstract – or, to sum it all up in a convenient catchword, Germanic.« (Jameson 1971, xiii) Im Deutschen dagegen »the dialectic somehow speaks in its own name« (xii). Mit Blick auf Adornos Stil fährt Jameson fort: »I cannot imagine anyone with the slightest feeling for the dialectical nature of reality remaining insensible to the purely formal pleasure of such sentences, in which the shifting of the world’s gears and the unexpected contact between apparently unrelated and distant categories and objects find sudden and dramatic formulation.« (xiii) Für die marxsche Dialektik mit ihrer hochkarätigen Sachhaltigkeit gilt diese Bemerkung auf andere Weise erst recht. Ob Harvey dem Rechnung trägt, kann als ein Kriterium für die Beurteilung seines »Companion to Marx’ Capital« gelten. Denn was Marx »meine dialektische Methode« nennt (K I, 27), bildet – um einen in anderem Zusammenhang gebrauchten Ausdruck Lenins zu verwenden – die »lebendige Seele« seiner Kritik der politischen Ökonomie. Ohne sie bleibt es bei Formeln und den Schematismen einer Powerpoint-Präsentation, die, selbst wenn sie so gut gemacht sind wie bei Valeria Bruschi u.a. (2012), für sich allein genommen über dem Fertigen das Verfertigen und damit genau dasjenige verloren haben, was der marxschen Theorie in immer neuen Situationen ihre Lebenskraft gibt.

Wenn schon Marx bei der Wertformanalyse den Eindruck des Spitzfindigen fürchten musste, wie mehr dann erst unser Versuch, die doppelte sprachliche Verfremdung der Hin- und Rückübersetzung mit ihren blinden Folgen fürs Kapital- Verständnis in den Blick zu bekommen. Philologie hoch vier ist gefragt. Erstens ist da das deutsche Original mit seinen oft schwierigen und auf jeden Fall umstrittenen Methodenfragen; über diesen Grundtext legt sich die angloamerikanische Übersetzung von Fowkes mit ihren Sinnverschiebungen;5 drittens erhebt sich aus dieser und aus den zeitbedingten Diskussionen seiner Lesegruppen Harveys Kapital-Lektüre; viertens tritt uns deren Übersetzung entgegen, von der wir bereits wissen, dass sie die Fowkes-Basiertheit ihrer Vorlage beibehält, aber unsichtbar macht, indem sie kommentarlos das Zitatmaterial der zweiten Schicht durch den Wortlaut der ersten ersetzt. Ungewollt hüllt sie Harvey dadurch in den Schein einer eigenwillig sich von Marx abhebenden Interpretation und macht das Quidproquo vollkommen. Um nun aber nicht selbst denjenigen die Leselust auszutreiben, denen die Krisenlektüre des Kapital auf den Nägeln brennt, beschränken wir uns nicht nur auf wenige Beispiele, sondern wählen diese zum einen aus dem Umkreis der einst von Engels aufgeworfenen und durch die »logische« Kapital-Lektüre neu in die Diskussion geratenen Frage nach dem Verhältnis von Historischem und Logischem bei Marx,6 zum anderen aus dem aktuellen Krisenbezug von Harveys Kapital-Lektüre.

 

2. Das Problem, die Anfangsschwierigkeit zu verstehen

Die notorische Anfangsschwierigkeit beim Einstieg in die Kapital-Lektüre begründet Harvey damit, dass Marx, statt »bei der Oberflächenerscheinung« zu beginnen, in »apriorischer und etwas kryptischer Vogel-friss-oder-stirb-Weise« (E 15) »mit der Darstellung der Grundbegriffe« beginne (E 8). »Half the time you have no idea, what he is talking about.« Erst am Ende des Buches »verstehen wir ganz, wie diese Begriffe funktionieren« (ebd.). – Aber beginnt denn Marx nicht mit dem Jedermannswissen der »›ungeheuren Warensammlung‹«, als die kapitalistischer Reichtum auf den ersten Blick »erscheint«? Und begründet er nicht damit, dass »die einzelne Ware als seine Elementarform« begegnet, dass seine »Untersuchung […] mit der Analyse der Ware [beginnt]« (K I, 49)? Harvey scheint diese Erklärung überlesen zu haben, denn er behauptet, Marx versuche »erst gar nicht, diese Wahl [des Anfangs] zu erläutern, noch bemüht er sich, ihre Legitimität zu begründen« (E 9). Wir sind geneigt, diese winzig erscheinende Differenz zu vergessen. Doch wie bei der Erforschung von Naturprozessen, wenn der Anfangszustand eines Systems nur annähernd bekannt ist, die anfänglich winzige Ungenauigkeit sich mit wachsendem Abstand bis zur Chaotisierung steigert, wachsen sich auch hier die interpretationsleitenden Folgen dieser winzig scheinenden Unaufmerksamkeit zu veritablen Fehlern aus. Wenn Marx dann nach dem Dritten fragt, das zwei qualitativ verschiedene Waren quantitativ, als Tauschwerte vergleichbar macht, und auf den beiden gemeinsamen Charakter, Arbeitsprodukte zu sein, stößt, sieht Harvey »wieder einen jener Apriori- Sprünge in Form einer Behauptung« (17) am Werk. An der Reduktionsszene, bei der Marx das Gedankenexperiment vorführt, »vom Gebrauchswert der Warenkörper ab[zusehen]« (K I, 52),7 entgeht ihm der Charakter der denkexperimentellen Auslöschung der sinnlichen Beschaffenheit einer Ware, bis am Schluss nichts übrig bleibt als die leere Vorstellung jenes weggedachten Konkretums, ein flirrendes Gedankending. Stattdessen stellt er die Wesensfrage an die »gespenstige Gegenständlichkeit« oder »bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit«, wie Marx die Vorstellung umreißt, zu deren experimenteller Erzeugung er einlädt (K I, 52): »This poses the question: is value really a ›phantom-like objectivity‹, or does it merely appear that way?« (E 18) Merkwürdige Frage an ein Gedankending.

»Kryptisch« nennt Harvey diesen allerersten Anfang. Doch das Kryptische ist mehr in seinen Augen als im Text. Man kann sehen, wie er über das an den Text herangetragene Interpretationsschema stolpert, wo Marx vom »Tauschwert als der notwendigen Ausdrucksweise oder Erscheinungsform des Werts« spricht (K I, 53). Harvey ignoriert den Begriff der »Ausdrucksweise«, den Marx etwas später im Begriff des »Wertausdrucks« (K I, 62) wieder aufnimmt, zugunsten der traditionellphilosophischen Kategorie der Erscheinungsform. Die ›deutsche philosophische Tradition‹ scheint mehr noch auf seiner Interpretation als auf der marxschen Darstellung zu lasten. Der Magnetismus des Wesen-Erscheinungs-Paares zieht die Aufmerksamkeit weg vom allbekannten Wert-Ausdruck in Gestalt eines Tauschangebotes oder einer Gegenforderung. Stattdessen sagt er: »das Geheimnis dessen, was alle Waren austauschbar macht, ist nun verstanden als eine Welt von Erscheinungen dieser ›gespenstigen Gegenständlichkeit‹, genannt Wert« (E 18).

Man spürt die Anstrengung, den Anfängern das Verständnis zu erleichtern, indem Verständnis für ihre Schwierigkeit gezeigt wird. Abgesehen davon, dass der bestimmte Hinblick erst die Schwierigkeit schafft, wird diese Hilfe zum Hindernis, wo sie allzu schnell zum Ergebnis will. Die Wertformanalyse, nach der Analyse des Doppelcharakters der warenproduzierenden Arbeit das eigentliche Eingangstor in die Kritik der politischen Ökonomie, enthalte »eine Menge langweiliges Material«, man sehe den Wald vor Bäumen nicht, wie oft bei Marx (E 30). Der dialektische Geist der marxschen Darstellung sei »drögem Buchhalterstil« gewichen (E 38). Doch es scheint, dass es der Interpret ist, der den roten Faden sucht, wo er nicht ist, und nicht sieht, wo er ist. Er glaubt nämlich, Marx wolle in der Wertformanalyse nichts zeigen, als dass der Tauschakt immer einen Doppelcharakter aufweise – »the poles of relative and equivalent forms« (E 31). Ihm entgeht, dass Marx hier die Grammatik der Alltagspraxis Wertausdruck zerpflückt und deren bewusstseinsbedingende Effekte untersucht. Polar, in komplementäre Gegensätze auseinandergelegt, ist der Wertausdruck zunächst einer einzelnen Ware. Wieder lädt Marx zu einem Experiment ein: Man mag diese Ware »drehen und wenden«, wie man will, und wird doch ihren Wert nicht an ihr selbst zu fassen bekommen, sondern erst an einer qualitativ von der ersten unterschiedenen Ware. Diese dient als Material des Wertausdrucks jener ersten und wird als genetische Quellform des Geldes begreifbar. Hat man einmal die Wertform als Praxisform (statt primär als kryptische Erscheinungsform eines Unsichtbaren) begriffen, wird ihre dialektische Entfaltung hin zur Geldform im »Witz der Widersprüchlichkeit « (Brecht) ohne die von Harvey immer wieder behauptete (und also vermutlich auch selbst erlebte) Dunkelheit und Langeweile nachvollziehbar.

Was Harvey dabei behindert, ist eine in der englischen Kapital-Übersetzung von Fowkes unterlaufene Sinnverschiebung. Wo Marx sagt: »Der in der Ware eingehüllte innere Gegensatz von Gebrauchswert und Wert wird also dargestellt durch einen äußeren Gegensatz, d.h. durch das Verhältnis zweier Waren« (K I, 75), und wo Engels »made evident externally by two commodities« gesetzt hatte (C 1887, 53), fügt Fowkes vor dem »äußeren Gegensatz« die Worte »on the surface«, »an der Oberfläche«, ein (C I, 153). Indem er den Gegensatz innen vs. außen durch den Gegensatz innen vs. Oberfläche ersetzt, macht er die Wirklichkeit zur bloßen Oberfläche ihrer selbst. Im Bann der unreflektiert interpretationsleitenden Macht der vormarxschen metaphysischen Gegensätze übersieht Harvey die bei Marx gelegten praxeologischen Spuren. Der Weg der marxschen Dialektik, Begriffsentwicklung und Sach- oder Praxisentwicklung zusammenzudenken, verschwindet für ihn. Oberfläche/Tiefe verschluckt die Genesis der Geldform, die doch hier das Thema ist.

 

3. Die Wertformanalyse und die Frage »logisch oder historisch?«

Hier taucht für Harvey eine Frage auf, über die im Namen der Neuen Kapital- Lektüre die Trommeln so betäubend gerührt worden sind, dass die dialektische Infragestellung der Fragekategorien untergegangen ist: »is Marx making a historical argument or a logical argument?« (E 31). Der Gebrauch des Wortes »logisch«, den Marx nur ironisiert, aber nie für seine Methode in Anspruch genommen hat, scheint die Frage, was es meint, zu erübrigen. In der Umgangssprache ist die kurze Antwort »logisch!« eine Form als selbstverständlich empfundener Bestätigung. Wo es um die marxsche Methode geht, ist »logisch« aber nur eine Phrase, die in marxscher Begrifflichkeit nicht deckungsfähig ist. Am Gegenpol übersieht Harvey den für Marx kapitalen Unterschied zwischen historisch und genetisch, obgleich Marx doch nicht die Geschichte, sondern die Genesis der Geldform zu rekonstruieren beansprucht.

Zur Forschungsliteratur, die bestreitet, dass Geld entsprechend der marxschen genetischen Rekonstruktion entstanden sei, bemerkt er: »Under capitalism, the money-form has to be disciplined to and brought into line with the logical position that Marx describes […]. The precursors of the money-form […] have to conform to this logic to the decree that they get absorbed within capitalism« und »the market could not have evolved without that disciplining taking place. Though the historical argument is weak, the logical argument is powerful.« (E 32) Wie man sieht, heißt »logisch« für ihn gerade das Praktisch-Genetische. Mehr noch, er rekonstruiert es von den Bedürfnissen der Praxis her, was auch dem Rezensenten der einzig gangbare und nach geschichtsmaterialistischen Kriterien sich nicht selbst dementierende Weg zu sein scheint.

Wenn aber der Reihe der von Marx aus dem Wertausdruck einer einzelnen Ware im Medium einer zweiten Ware entwickelten Wertformen ein praktisch-genetischer Erklärungszusammenhang gerecht wird, dann hat Harveys Behauptung keinen Sinn, es bestehe eine »internal and coevolving relation between the rise of money- and value-forms« (E 33). Frings verwirrt die Stelle weiter, indem er den in diesem Kontext sachgerechten Plural »value-forms« durch den Singular »Wertform« (D 46) wiedergibt, während Harvey umgekehrt suggeriert, es gebe diverse Geldformen. Wenn Frings Harvey hier stillschweigend ›korrigiert‹, so tut er das vermutlich deshalb, weil das Unterkapitel bei Marx »Die Wertform oder der Tauschwert« überschrieben ist. Während es indes nur eine Geldform gibt, gibt es eine ganze Reihe von Formen des Werts unterhalb jener und über sie hinaus, »also der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw.« (K I, 95, Fn. 32). Harvey dagegen fasst bereits die einfache Wertform wie die anderen prämonetären Formen als Geldform, die er »nur allmählich – schrittweise wie in der logischen Beweisführung – zu Ausdruck des Werts« werden sieht (E 33, D 45). Befangen in der Wesen-Erscheinungs-Falle, ist Wert das Wesen, das erst am Ende zum Ausdruck kommt. Während für Marx der Wertausdruck den Anfang macht, um über Zwischenstufen in die Geldform zu münden, macht für Harvey die Geldform den Anfang, um schrittweise im Wertausdruck anzukommen. Doch so wird der Zugang zu Eigenart, Sinn und epistemologischer Begründbarkeit der dialektischen Methode von Marx verschüttet.

Wie mit der Abfolge der Wertformen im ersten Kapitel, tut Harvey sich schwer mit der Abfolge der ersten beiden Kapitel. Im zweiten Kapitel von K I findet er »nichts, was wir nicht schon in früheren Abschnitten gesehen haben« (D 64). Er übersieht, dass der Austauschprozess etwas anderes ist als die Analyse der Ware, des Doppelcharakters ihrer selbst sowie der sie produzierenden Arbeit, ihres Wertausdrucks und seiner Entwicklung bis zur Geldform, sowie der »›Entgesellschaftlichung‹« der Produzenten, da der »privat-arbeitsteilige Charakter« ihrer Gesellschaftlichkeit sich als ihrer Kontrolle entzogene, ja sie selbst ihrer entfremdeten Macht unterwerfende und insofern fetischistische »›Gesellschaft der Dinge‹« manifestiert (KV I, 136). Was die Verwechslung der Erkenntnisobjekte der beiden Kapitel nahelegen kann, ist »die marxsche Schreibung des ›Ist wert‹ mit demselben Gleichheitszeichen, das auch das ›Tauscht sich gegen‹ bezeichnet. Der Wertausdruck erfolgt aber einseitig und ist, um zum Austausch zu führen, darauf angewiesen, dass ihm ein entsprechender Wertausdruck seitenverkehrt entgegenkommt.« (KV II, 45) Nach der Praxisform wird die Praxis in dieser Form und die durch sie ausgelöste Dynamik von Marx behandelt.

Hier, wo die praktische Triebkraft und die Marktbeziehungen der Warenbesitzer zusammen mit der Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse durch die privatarbeitsteilige Produktion ins Bild kommen, schlagen die philologischen Verhältnisse zwischen der deutschen und der anglo-amerikanischen Kapital-Textlage zu Gunsten der letzteren um. Wo nämlich Marx auf die Dynamik des Tauschverkehrs zu sprechen kommt, die keine Ruhe gibt, bis »die gesellschaftliche Tat […] eine bestimmte Ware zum allgemeinen Äquivalent« macht (K I, 101), sagt der fowkesche Marx (C I, 181) – genau wie vor ihm der engelssche (C 1887, 75) –, dass die Lösung erzielt wurde durch »differentiation of commodities into commodities and money«. Frings setzt dafür den Wortlaut von MEW 23: »Verdopplung der Ware in Ware und Geld« (K I, 102). Vor zwanzig Jahren habe ich die von der marxistisch-leninistischen Wirklichkeit mit schwarzem Humor geschriebene Geschichte des verlorenen Buchstabens nachgezeichnet,8 des »n«, das aus Ware Waren macht und in der letzten von Marx besorgten Ausgabe noch da ist, auch in der von Marx besorgten französischen Ausgabe seine Entsprechung findet, jedoch in der nach seinem Tod von Engels schnell auf den Weg gebrachten dritten Ausgabe von 1883 verloren ging, obwohl die Stelle, wie gesagt, in der von Engels verantworteten englischen Fassung richtig den doppelten Plural hat. Sind wir zu spitzfindig? Um zu finden, muss man genau hinsehen. Und hier geht es um den doppelten marxschen Lernprozess, den theoretischen und den durch die internationale Kommunikation und die Arbeit an der französischen Kapital-Übersetzung vorangetriebenen sprachlichen, dessen Tragweite ich 2004 untersucht habe (13 V, 223-35). Der auf den ersten Blick lächerlich erscheinende, fehlende Buchstabe schafft eine jener anfangs kaum merklichen Ungenauigkeiten, von denen wir weiter oben geredet haben und die im Fortgang die Diskussion chaotisieren. Mit dem Spezifischen steht hier das Zukunftsfähige der Kritik der politischen Ökonomie auf dem Spiel. Und machen wir uns nichts vor! Was seinerzeit der dumpfe Trott der in Selbstverrat umgeschlagenen vermeintlichen Treue zu Engels bewirkt hat, setzt sich auf andere Weise auch im antidogmatischen Gewand fort.

 

4. Die Materiefalle

Eine unerschöpfl iche Quelle der Verwirrung ist die Vieldeutigkeit, die Fowkes in den Begriff des Materiellen hineingetragen hat. Nicht nur den Ausdruck »materiell« gibt er als »material« wieder, sondern auch die marxschen Adjektive »sachlich« (bei Marx der Gegensatz zu persönlich), »dinglich« (bei Marx der Gegensatz zu relational und prozessual) und »stofflich« (bei Marx im Gegensatz zur historisch-gesellschaftlichen Formbestimmtheit). An entscheidenden Stellen hat bereits Engels den Materiebegriff dem marxschen Stoffbegriff übergestülpt.

Wo Marx Gebrauchswerte als »Verbindungen von zwei Elementen, Naturstoff und Arbeit« (K I, 57) bestimmt, setzt Engels dafür »combinations of two elements – matter and labour« (C 1887, 36). Fowkes gibt die Stelle vorsichtiger mit »combinations of two elements, the material provided by nature, and labour« (C I, 133) wieder. Wo Marx herausstellt, dass »der Mensch in seiner Produktion nur verfahren [kann], wie die Natur selbst, d.h. nur die Formen der Stoffe ändern« (K I, 57), und daher die stoffliche Beschaffenheit der Waren ihre »Naturalform« nennt (62), gibt Engels wiederum »Stoffe« durch »matter« wieder (C 1887, 36), Fowkes dagegen durch »materials« (C I, 133). Doch wie auch für die Physik der Stoff nicht den Materiebegriff erschöpfen kann, so auch für den dialektisch-historischen Materialismus. Zur Materialität des Gesellschaftlichen gehören auch die Verhältnisse der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, und die Materialität von Verhältnissen privatarbeitsteiliger Produktion machen sich über den Markt geltend, geballt in der Krise. Indem Engels die stoffliche Seite mit der Materie identifizierte und Fowkes ihm darin folgte, begünstigte die englische Textlage Harveys Eindruck, es sei im Sinne von Marx, gesellschaftliche Verhältnisse, weil nicht stofflicher Art, zwar als objektiv, dennoch als immateriell aufzufassen: »you cannot actually see, touch or feel social relations directly« (E 33).

Harvey verstrickt sich heillos in dem Materie-Einerlei, das Fowkes durchs Zusammenwerfen der w.o. genannten vier differenzierenden Ausdrücke in dem einen des »Materiellen« angerichtet hat. Eine ganze Kette von Fehldeutungen schließt sich an diese erste, das Stoffliche als materiell und das Nichtstoffliche als immateriell zu fassen. Marx vergleicht die Wertabstraktion, die qualitativ heterogene Waren quantitativ homogenisiert, mit ihrer Gewichtsabstraktion. Eisen (das Gewicht der Waage) und Zucker (die zu wiegende Ware), sind beide »schwer« und als bloße Gewichte oder Masse betrachtet ununterschieden. Doch wenn, fährt Marx fort, Schwere eine Natureigenschaft der Körper ist, so Wert »etwas rein Gesellschaftliches«, das Marx ironisch »übernatürlich« nennt (K I, 71). Hier hakt Harvey ein. Da die Schwere in einem Stück Eisen so wenig aufzufinden ist wie der Wert an einer einzelnen Ware, gilt für ihn: »both have to be conceptualized as immaterial but objective« (43). Das liefe darauf hinaus, der Materie immaterielle Eigenschaften zuzuschreiben.9 Die Bedeutung dieser Aussage könne man »nicht übertreiben« fügt er hinzu (E33).

Doch ihr liegt die Verwechselung von Materie mit Stoff zu Grunde. Sie führt zu der Ungereimtheit, den Wert, der einem Gut insofern zu eigen ist, als in diesem »abstrakt menschliche Arbeit […] materialisiert ist« (K I, 53), als ein materialisiertes Immaterielles und gesellschaftliche Verhältnisse als immateriell aufzufassen. Hier wäre ein wenig »lastende« kritisch-philosophische Tradition rettend, nicht zu vergessen Lenins Versuch und die an ihn anschließende Diskussion darüber, »den materialistischen Materiebegriff von seiner verbreiteten Identifikation mit dem Begriff des Stoffes zu befreien« (Wittich 2004, 817). Lenin bestimmt als »einzige ›Eigenschaft‹ der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewusstseins zu existieren« (LW 14, 260).

Wo Marx von den Waren sagt, es »geht kein Atom Naturstoff in ihre Wertgegenständlichkeit ein«, so »dass ihre Wertgegenständlichkeit also rein gesellschaftlich ist« (K I, 62), hat bereits Engels den »Naturstoff« durch den für moderne und gar dialektische Materialisten umfassenderen Begriff »matter« ersetzt: Bereits die »sinnliche Gegenständlichkeit der Warenkörper« tauft er um in die »materiality of their substance«, und im Gegensatz zu dieser eigne ihrer Wertgegenständlichkeit »not an atom of matter« (C 1887, 40). Fowkes folgt ihm in der Ersetzung von Naturstoff durch Materie, bleibt aber im Übrigen hier näher am Original: »Not an atom of matter enters into the objectivity of commodities as values«, sodass »their objective character as values is therefore purely social« (C I, 138; zit. in E 32). Harvey, dieses Textmaterial vor Augen, behauptet nun: »Marx proposes the following idea: value, being immaterial, cannot exist without a means of representation.« (E 33) Der Übersetzer verstärkt das sogar noch: »Marx stellt folgende These auf: Als etwas Immaterielles können Werte nicht ohne Medium der Repräsentation existieren.« (D 45) Die Geldform biete »a means of tangible expression«. Aber Marx spricht nirgends von einer Immaterialität von Werten, er spricht witzig von »einer übernatürlichen Eigenschaft […], etwas rein Gesellschaftliches« (71), sprich: keine »Natureigenschaft« (K I, 71).

So erklärt sich auch Harveys Rede von der »dematerialization of the whole financial system in the early 1970s« (E 35), die Frings als »Entmaterialisierung des gesamten Währungssystems« wiedergibt (D 48). Aber wenn »dematerialization« meint, dass Gold aus seiner institutionalisierten Rolle als Geldware bzw. seiner Funktion der Gelddeckung entlassen wird, um die finanzpolitische Handlungsfähigkeit der Staaten zu entfesseln, so heißt das nicht, die Austauschverhältnisse würden aus materiellen in immaterielle verwandelt. Andernfalls käme es sofort zur »Flucht aus dem bloßen Wertzeichen in Geld als ›Selbstwert‹ (Marx)« (HTKK 121). Geld für sich ist nichts. Es sind die Waren, über die seine Kaufkraft gebietet, in denen sein Wert ankert. Wie Gold sind alle anderen Waren Selbstwerte, wenn auch nicht wie dieses durch seine physische Beschaffenheit und jahrtausendealte Gewohnheit in der Volksvorstellung als das absolute Wertobjekt verankert.

Papiergeld ohne Golddeckung scheint das Geld zum bloßen Zeichen zu machen, eine Auffassung, die Marx verworfen hat, nicht ohne die in diesem Irrtum sich meldende »Ahnung« zu würdigen, »dass die Geldform des Dings […] bloß Erscheinungsform dahinter versteckter menschlicher Verhältnisse« ist (K I, 105). Im Sinne der Zeichentheorie des Geldes begründet Marx seine Ablehnung derselben, »wäre jede Ware ein Zeichen, weil als Wert nur sachliche Hülle der auf sie verausgabten menschlichen Arbeit. Indem man aber die gesellschaftlichen Charaktere, welche Sachen, oder die sachlichen Charaktere, welche gesellschaftliche Bestimmungen der Arbeit auf Grundlage einer bestimmten Produktionsweise erhalten, für bloße Zeichen, erklärt man sie zugleich für willkürliches Reflexionsprodukt der Menschen.« (105f)

Engels und in der Folge auch Fowkes haben den marxschen Konjunktiv als Indikativ wiedergegeben. Harvey entfernt auch noch den distanzierenden Kontext und macht Marx unversehens zum Zeugen gegen sich selbst, der das als falsch Kritisierte als Gegebenheit bestätigt: »given that ›every commodity is a symbol […]‹«, erschließe sich Marx hier »the symbolic aspects of how capitalism works« (E 50). Frings baut die Stelle um, lässt einiges weg und vertuscht den Bruch, indem er den Satz von Marx komplett und mit Konjunktiv zitiert und Harveys Bemühen, Marx für postmoderne Denkweisen genießbar zu machen, auf Kosten der Kapital-Lektüre unterstützt (D 65).

 

5. Das Fetischismusproblem

Fowkes steigert die Verwirrung zusätzlich, indem er einmal »material [dinglich]« setzt (C I, 166), wo Marx in Wirklichkeit »sachlich« sagt, um den »Fetischcharakter der Warenwelt« daraus herzuleiten, dass »die Privatarbeiten sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen [betätigen], worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittelst derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.« (K I, 87)

Verweilen wir einen Moment beim Fetischismusbegriff. Mit Recht hält Harvey an ihm fest als einem Grundbegriff der Kritik der politischen Ökonomie.10 Doch fasst er ihn in einer Weise, die Althussers Vorbehalt, Fetischismus meine eine »falsche Vorstellung« (DKL II, 258), bestätigt. Auch hier hat Fowkes eine alles ändernde Verschiebung vorgenommen: Wo Marx die Waren als »sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge« bezeichnet (K I, 86), setzt Fowkes »sensuous things which are at the same time suprasensibel or social« (C I, 165). Kurz, wo Marx gesellschaftliche Gebrauchswerte in Warenform als »sinnlich übersinnlich« den Widerspruch umfassen lässt, spaltet Fowkes unvermerkt die beiden Momente auseinander und lässt die Deutung zu, für Marx sei das Gesellschaftliche etwas Übersinnliches und folglich Immaterielles.11

Bestrebt, den marxschen Begriff des Fetischcharakters der Waren seinen Adressaten näherzubringen, macht Harvey daraus eine im Marktaustausch von Dingen versteckte »relation between you, the consumer, and the direct producers« (E 39). Aber nein! Den Kern bildet ein Verhältnis zwischen Produzenten, ein Produktionsverhältnis. Dessen »sachliche Hüllen« (K I, 88) verwandeln sich ihm über Fowkes in »material integuments « (E 41). Aus der »Macht der Machwerke« über die sie gemacht Habenden (KV I, 161f), einer Macht, die sich zwar aus ihrem Handeln speist, aber gegen dieses sich verselbständigt« (KV II, 180), wird hier das Unwissen der Konsumenten »über die Arbeit oder die Arbeiter« (E 39f, D 53). Harvey behauptet sogar einen ursächlichen Zusammenhang mit der Globalisierung: »Daher kommt es auf dem Weltmarkt unvermeidlich zu diesem Fetischismus.« (E 40, D 53) Indem er aber seinen Studenten die Augen dafür öffnete, woher die Bestandteile ihres Frühstücks stammten – »das Brot, der Zucker, der Kaffee, die Milch, die Tassen, Messer und Gabeln, der Toaster und die Plastikteller – ganz zu schweigen von den für ihre Produktion erforderlichen Maschinen und Einrichtungen« –, was sie auch von den Nachfahren der klassischen politischen Ökonomie hätten erfahren können, verschwand die Verselbständigung der Produkte mitsamt deren periodischem Aufstand gegen ihre Produzenten aus dem Bild. Das verdeckt den wirklichen Fetischcharakter von Produkten, sobald sie Wertform annehmen, und damit das, was die marxsche Theorie zur Kritik der politischen Ökonomie und nicht bloß zu einer neuen Form derselben macht. Nicht erst die Globalisierung ist das Problem. Und nicht vor allem Unwissen, sondern reale Ohnmacht der Produzenten gegenüber ihren Produkten bedeutet der Fetischismus, der sich periodisch zum Ausnahmezustand der Krise zusammenballt, aber auch der Normalität seinen Stempel aufdrückt. Die »Verschleierung« des Zusammenhangs, in dem »sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt« (K I, 89), von der Harvey sagt, sie sei es, die Marx »den ›Fetischismus‹ nennt« (E 41, D 54), ist Folge, nicht Grund. Das Wissen darüber »hebt den Schein der bloß zufälligen Bestimmung der Wertgrößen der Arbeitsprodukte auf, aber keineswegs ihre sachliche Form« (K I, 89).

Die Tauschwerteigenschaft der Waren ist ja nichts als »die Form, in der sich ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis geltend macht, worin Arbeitsprodukt gegen Arbeitsprodukt ausgetauscht wird, gemessen an dem Anteil an der gesellschaftlich notwendigen Gesamtarbeit, der jeweils in diesen Produkten steckt« (KV I, 36). Es ist dies die Gestalt, die der unter solchen Bedingungen lebensnotwendige »gesellschaftliche Stoffwechsel«12 annimmt, je nach Entwicklung der Arbeitsteilung ebenso notwendig wie die Arbeit als »von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, […] um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln« (K I, 57). Was ich mit der Widerspruchsformel des »planlosen Plans aller privat-arbeitsteiligen Produktion« zu fassen versucht habe (HTKK, 63), »demzufolge jeder zwar für die durch den ›Markt‹ vertretene Gesellschaft produziert, dabei indes immer nur in die eigene Tasche wirtschaftet, während der gesellschaftliche Zusammenhang sich erst nachträglich und hinterm Rücken der Akteure, also bewusstlos, herstellt« (KV I, 159),13 scheint Harvey aus der Gesellschaftlichkeit des Wirtschaftens abzuleiten, nicht aus deren kapitalistischer Form, wenn er sagt: Gesellschaftlich notwendige Arbeit »cannot operate as a regulator of what is happening directly, because it is a social relation« (E 36).

Aber es ist umgekehrt. Nicht weil sie ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt, kann notwendige Arbeit nicht zur Regulierung eingesetzt werden, sondern obwohl sie es ist. Marx bringt Verhältnisse, die an und für sich gesellschaftlich wären, ins Bild eines »Vereins freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre Arbeitskraft verausgaben«. Entsprechendes gälte für die Arbeitszeit: »Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen.« (K I, 92f) Der Witz im Kapitalismus dagegen ist, dass hier Verhältnisse sozusagen nur an sich gesellschaftliche sind, nicht jedoch für sich, sprich: für und durch die Gesellschaft selbst, die sich Formen schafft, in denen sie ihre Bedingungen regelt. »The immaterial relational value of socially necessary labor times [Frings tilgt den Plural] comes into being within the evolving space-time of capitalist global development.« (E 37)

Man versteht, was Harvey sagen will, aber er tut sich schwer mit der marxschen Begrifflichkeit, zumal er sie nur durch den Schleier der Übersetzung aufzunehmen vermag. In der Tat realisiert sich die Wertbestimmung der Waren in der Form, die ich als »Drama des Durchschnitts« bezeichnet habe, das »allzuoft […] die Rationalität der einzelnen Warenproduzenten zuschanden« macht (KV I, 97). Das mit der Wucht eines Naturprozesses auf die einzelnen Warenproduzenten zurückschlagende Resultat der prozessierenden Wertverhältnisse spottet der Auffassung Hohn, diese seien immateriell. Weil es sich über den Markt vermittelt, meint Harvey nun gar, »that values arise out of exchange processes« (E 41). Das nimmt die Realisierung der Wertbestimmung auf dem Markt für die Wertentstehung und bringt die Arbeit zum Verschwinden.

Wertformen lassen sich als die Formen begreifen, in denen im Kapitalismus »die Gesellschaftsmitglieder ihren sozialen Stoffwechsel praktizieren« (KV I, 153). Als solche bilden sie »die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie [...,] sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse « (K I, 90). Hier schiebt Harvey ein »Nur« bzw. »Lediglich« (D 58) ein, das beim Begreifen der Wert- als Praxisformen nicht nur nicht hergehört, sondern den Blick aufs wirkliche Problem verstellt, das primär keines des Unwissens oder der falschen Vorstellungen ist. Die Kategorien der politischen Ökonomie »are merely ›forms of thought ...‹« usw., sagt Harvey (E 44). Aber nein, es sind faktisch richtige Vorstellungen ›verkehrter‹ – im Sinne von: das Verhältnis der Menschen zu ihren Produktionsverhältnissen verkehrender – Verhältnisse.

 

6. Harveys Heimspiel

Bereits in der Behandlung des Übergangs vom Geld zu Kapital und Lohnarbeit zeigt sich Harvey sichtlich souveräner. Und je näher die marxsche Entwicklung an Probleme und Konflikte kommt, die der Gegenwart auf den Nägeln brennen, desto mehr ist Harvey in seinem Element. Am Gegenpol zu akademistischer Textimmanenz oder gar Esoterik probt er die Erklärung der heutigen Gesellschaftswelt, ihrer Geschlechter- und Naturverhältnisse im Anschluss an die Begrifflichkeit des marxschen Kapital.

Gelegentlich unterlaufen ihm agitatorische Ausrutscher, in denen man Reflexe der aktuellen Gestimmtheit seines Publikums zu spüren meint. So wenn er China als das Land vorkommen lässt, in dem »a large proportion of the labour force […] have been denied their wages, prompting widerspread protests« (E 104). Abgesehen davon, dass man dem grammatisch falschen Satz noch das Mündliche anmerkt, macht ihn die Übersetzung vollends kurios: »In China werden heute großen Teilen der Arbeiterschaft […] die Löhne nicht gezahlt, was zu massiven Protestbewegungen geführt hat« (D122f) – anscheinend, da im Perfekt, schon vorbeugend, denn nicht gezahlt wird heute, im Präsenz. Allein die Zahl der innerchinesischen Arbeitsmigranten wurde für 2010 auf 270 Millionen geschätzt (Li 2012, 139), wieviel sind dann wohl große Teile davon, denen heute der Lohn nicht gezahlt wird? Nicht, dass sich darin das Thema China in Harveys Companion erschöpfen würde. Für die Diagnose der Akkumulationsprobleme des Kapitalismus, einer Diagnose mit einem durch Luxemburgs Akkumulationstheorie korrigierten Marx, spielt China historisch und gegenwärtig eine wichtige Rolle, auch wenn die Dialektik der Beziehungen zwischen den USA und China ausgeblendet bleibt.

Die Verschränkung von marxistischer Gegenwartsanalyse und Kapital-Vermittlung durch Harvey und der Widerhall, den er damit findet, ist ein Ereignis. Der deutschen Übersetzung aber fehlt der entscheidende Schritt der Vermittlung zwischen dem anglo-amerikanischen Marxismus und der angestammten Sprache des marxschen und luxemburgschen Werks. Gerade wo sie Harvey, von Schnitzern oder Zugeständnissen an gängige Phraseologie abgesehen,14 im allgemeinen in flüssiges Deutsch bringt, vertuscht sie die Distanz, ja teilweise Disparatheit der theoretischen Kulturen der beiden Sprachbereiche. Aber wie sollte sie es auch anders machen. Solange nun einmal das Angloamerikanische die lingua franca des internationalen Marxismus – weil des transnationalen Hightech-Kapitalismus – ist, macht sich das Fehlen einer neuen englischen Kapital-Übersetzung, die den Kriterien einer kritischen Ausgabe genügt, fatal spürbar. Ohne die Vermittlung über diese – aber von wem? – zu leistende Arbeit, trägt der Re-Import des einst exportierten und nun sprachlich entfremdeten Marx in seine Ursprungssprache zur theoretischen Zermanschung bei.

 

1 Harvey, David, A Companion to Marx’ Capital, Verso, London-New York 2010 (356 S., kart., 15,70 €); dt.: Marx’ »Kapital« lesen. Ein Begleiter für Fortgeschrittene und Einsteiger , aus d. Amerik. v. Ch.Frings, VSA, Hamburg 2011 (390 S., kart., 24,80 €).

2 Keimform ist nicht Ursprung der Frucht. Erstens hat sie selber einen Ursprung, in unserem Fall den unmittelbaren Produktentausch, und zweitens entspringt das Geld nicht dieser vereinzelten Zufallsform, wie ja auch die Frucht nicht direkt dem Keim entspringt. Zwischen beiden Extremen vermittelt eine Formenfolge.

3 Bereits auf deren erster Seite stolpert man über die »marxianische politische Ökonomie«, wo Harvey die marxsche (»marxian«) meint. Der Übersetzer begründet seinen Neologismus mit dem Distanzierungsbedürfnis, »eine weniger dogmatische Orientierung an der Theorie von Marx anzuzeigen, als sie mit dem Ausdruck ›marxistisch‹ verbunden« sei (D7, Fn.).

4 Frings gibt den Satz folgendermaßen wieder: »Aber die vorwiegend deutsche Tradition der philosophischen Kritik lastete schwer auf Marx, weil er zuerst in ihr geschult worden war.« (D 15) Hier verschiebt er den Sinn gleich doppelt: Marx war nicht »geschult worden «, sondern hatte sich eigenständig seine Bildungswelt erobert, und »die Tradition der philosophischen Kritik« ist nicht »vorwiegend deutsch«, sondern drang über Frankreich und England nach Deutschland ein – erst David Hume hat Kant – der zunächst noch »Critick« schrieb, weil das Wort aus dem Französischen kam – »aus dem dogmatischen Schlummer geweckt« (Prolegomena, A 13). Frings gibt weitere Ungenauigkeiten Harveys – die nicht mehr aufs Konto von Fowkes gehen – kritik- und kommentarlos weiter: Spinoza gehöre zur »mainly German philosophical tradition«, und Marx habe über Epikur promoviert (E 5, D15) – statt über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie.

5 Diese müsste eigentlich mit der ersten, von Friedrich Engels mitverantworteten Übersetzung

verglichen werden, was wir nur punktuell tun werden.

6 Vgl. dazu Argument 251/2003: Kritik der politischen Ökonomie: Methodenstreit.

7 In Parallelführung zu Descartes‘ berühmter Reduktion des Denkens aufs Cogito, also die bloße Denktatsache als solche unter Abstraktion von ihren Inhalten.

8 Online zugänglich unter www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/documents/DerverloreneBuchstabe.pdf.

9 Für Warenwert und Körperschwere gelte gleichermaßen: »If it is immaterial, you cannot measure it directly.« (E 37) Abgesehen von allem andern, hat der Begriff der Direktmessung keinen Sinn. Messen ist immer relational. Ohne Maß kann es nicht stattfinden.

10 Allerdings ist Fetischismus kein Grundbegriff der »political economy«, wie Harvey sich ausdrückt, den Kritikcharakter weglassend, der den radikalen epistemologischen Schnitt der marxschen Theorie im Verhältnis zu dieser bezeichnet (E 38).

11 Engels macht daraus »social things whose qualities are at the same time perceptible and imperceptible by the senses« (C 1987, 63), und vermeidet dadurch diese Aufspaltung.

12 »Soweit der Austauschprozess Waren aus der Hand, worin sie Nicht-Gebrauchswerte, in die Hand überträgt, worin sie Gebrauchswerte, ist er gesellschaftlicher Stoffwechsel.« (K I, 119)

13 »Die Gesellschaft ist hier, auch im Zustand unumschränkter Herrschaft des Privateigentums, immer schon vorausgesetzt als ein Organismus mit vielen Organen, deren jedes nur leben kann, wenn alle anderen Organe mitwirken.« (KV I, 101)

14 Rundweg unsinnig ist bereits Harveys Rede von der »commodification of wage labour« (E 101). Indem Arbeitskraft zur Ware wird, verwandelt sich ihre Verausgabung in Lohnarbeit. Diese kann nicht noch einmal in Ware verwandelt werden, was für Arbeit generell nur in der Vulgärökonomie möglich ist. Arbeit besitzt keinen Wert, sondern bildet ihn. – In Harveys »commodification« erkennt Frings im Übrigen nicht das allgemeinverständliche marxsche Zur-Ware-Werden, sondern bedient den US-kolonisierten Gruppenjargon und spricht von »Kommodifizierung der Lohnarbeit« (D 120).

 

Literatur

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Bruschi, Valeria, Antonella Muzzupappa, Sabine Nuss, Anne Steckner u. Ingo Stützle, Polylux- Marx. Bildungsmaterial zur Kapital-Lektüre. Erster Band, Berlin 2012

Harvey, David, The limits to capital (Oxford: Blackwell 1982), neue, vollst. überarb. Ausg., London-New York 2006

Haug, Frigga, »Das Care-Syndrom. Ohne Geschichte hat die Frauenbewegung keine Perspektive «, in: Das Argument 292, 53. Jg., 2011, H. 3, 345-64

Haug, Wolfgang Fritz, Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, Neufassung, Hamburg 2005 (zit. KV I)

ders., Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern, gefolgt von Sondierungen zu Marx / Lenin / Luxemburg, Berliner Beiträge zur kritischen Theorie Bd. 3, Hamburg 2005 (zit. 13 V) ders., Neue Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, Hamburg 2006 (zit. KV II)

ders., Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise, Berliner Beiträge zur kritischen Theorie Bd. 14, Hamburg 2012 (zit. HTKK)

Jameson, Fredric, Marxism and Form. Twentieth-Century Dialectical Theories of Literature, Princeton 1971

Lenin, Wladimir Iljitsch, Materialismus und Empiriokritizismus, Lenin Werke (LW), Bd. 14, Berlin/DDR 1962

Li Quiang, »Die Entwicklung der Sozialstruktur in China«, in: Das Argument 296, 54. Jg., 2012, H. 1/2, 133-44

Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erstes Buch, Der Produktionsprozess des Kapitals, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23 (zit. K I)

ders., Capital. A Critical Analysis of Capitalist Production, 3. dt. Ausg. aus d. Deutsch. v. S.Moore u. E.Aveling, hgg. v. Fr.Engels, London 1887, Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Bd. II.9, Berlin 1990 (zit. C 1887)

ders., Capital. A Critique of Political Economy, Bd. 1, mit einer Einl. v. E.Mandel, aus d. Deutsch. v. B.Fowkes, 1976, zit.n. Vintage Books Edition 1977 (zit. C I)

Wittich, Dieter, »immateriell«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6/I, hgg. v. W.F.Haug, Hamburg 2004, 816-19