Das Recht des deutschen Arztes auf Korruption

 

Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 22. Juni die Strafbarkeit von Bestechung und Bestechlichkeit bei niedergelassenen Ärzten nach den heute gültigen Gesetzen verneint. Zugleich hat er den Gesetzgeber darauf hingewiesen, dass dies die Folge einer Gesetzeslücke ist, weil die Strafandrohung bei Korruption nur für Amtsträger in Behörden und Kliniken gelte, nicht aber für Ärzte, die ihr Geld bei den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) verdienen. Dies sei aber von der Politik durch eine Gesetzesänderung heilbar. Das geltende berufsrechtliche Verbot der Annahme von Zuwendungen durch Waren- und Leistungsanbieter gemäß Paragraph 31 der Musterberufsordnung für Ärzte beziehungsweise Paragraph 128 Sozialgesetzbuch V (SGB V) wird im Urteil nicht beanstandet.
In der Sache handelte es sich um einen Kassenarzt, der gegen Geld (Kickback) des Herstellers vorzugsweise dessen teurere Arzneimittel verordnet hatte. Er verstieß dabei gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V und verteuerte durch die Absprache zur persönlichen Bereicherung die Kosten der Behandlung zu Lasten der Patienten. Das ist definitionsgemäß Korruption. Auch im zweiten Fall trifft das zu: Ein Warenanbieter stellte Ärzten kostenlos oder verbilligt Geräte zur Verfügung, wenn sie damit unzweckmäßige oder überteuerte Behandlungen zu Lasten der GKV-Versicherten veranlassten. Indem das Gericht dies für Arzt und Warenanbieter straffrei stellt, versetzt es der Korruptionsbekämpfung im Gesundheitswesen einen schweren Schlag.
Seit den achtziger Jahren hat die neoliberale Wettbewerbsideologie das berufsständisch gegliederte Gesundheitswesen zunehmend zur profitorientierten Gesundheitswirtschaft degenerieren lassen. Als Folge blühte ungestört von kontrollierenden Maßnahmen der ärztlichen Selbstverwaltung bei manchen Ärzten das ungehemmte Abkassieren von Patienten mittels profitträchtiger IGeL-Leistungen, fragwürdiger Medizinprodukte oder Nahrungsergänzungsmittel, überteuerter neuer Arzneimittel ohne relevanten Nutzen bei erfundenen Erkrankungen oder nicht mehr heilbaren fortgeschrittenen Krebserkrankungen. Nicht mehr fachlich und wirtschaftlich optimale Versorgung der Patienten, sondern PC- und Hersteller- assistiertes maximales Abkassieren der Krankenscheine wurde auch im Rahmen ärztlicher Fortbildung gefördert. In Kliniken stieg zugleich die Zahl der Eingriffe, für die es kein medizinisches Erfordernis gab, nur weil sie für die Klinik profitabel waren. Anders lässt sich nicht erklären, dass in Deutschland bis zu fünfmal mehr teure Computertomografien, teure Untersuchungen oder Eingriffe am Herzen durchgeführt werden als in anderen Industrieländern. Korrupte Absprachen zwischen Leistungs- und Warenanbietern zu Lasten der Krankenversicherten sollen nun straffrei bleiben, nur weil die Verursacher vorgeben können als Privatpersonen zu handeln.
Die zentrale Rolle niedergelassener Ärzte in dieser von Profitdenken gesteuerten Gesundheitswirtschaft spiegelt sich in der drastischen Zunahme finanzieller Wohltaten der Waren- und Leistungsanbieter wider, in Prämien oder Provisionen der Hersteller für die Verordnung von Arzneimitteln, Nahrungsergänzungsmitteln oder Medizinprodukten. Kopfgeldprämien in Höhe von bis zu mehreren Tausend Euro werden für die Verordnung von teuren Arzneimitteln im Rahmen scheinwissenschaftlicher Anwendungsbeobachtungen gezahlt. Und Spezialärzte, Labore oder Kliniken zahlen Fangprämien für die Zuweisung von Proben oder Patienten.
Eine gemeinsame Untersuchung der Antikorruptionsorganisation Transparency International und des GKV- Spitzenverbandes belegt, dass die ärztliche Selbstverwaltung unfähig, untätig oder unwillig ist, ihre Mitglieder korrekt über die berufsständischen Verbote der Vorteilsnahme zu informieren. Zwischen 14 und 35 Prozent der niedergelassenen Ärzte, 24 Prozent der Kliniken und 46 Prozent nichtärztlicher Leistungsanbieter halten Kickbacks für eine gängige Praxis im Verkehr mit ärztlichen oder nichtärztlichen Leistungserbringern. Diese Realität kann die ärztliche Selbstverwaltung nur verleugnen, weil sie keine effektiven Strukturen zur Kontrolle und Überwachung der berufsständischen Normen aufgebaut hat. Dass dies nicht Ziel ihrer klientelorientierten Politik ist, lässt sich aus dem Jubel der leitenden Funktionäre von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung über das BGH-Urteil ableiten. Es zeigt sich erneut, dass die ärztliche Selbstverwaltung außer Schaufensterreden keine effektiven Strategien zur Korruptionsbekämpfung verfolgt. Viele unserer europäischen Nachbarn betrachten die von deutscher Politik, staatlicher Administration, Industrie und Verbänden gepriesene Praxis von Selbstregulationen, Selbstverpflichtungen oder Selbstverwaltungen zu Recht als deutsche Spielart von Korruption und Klüngel.
Die Regierungsparteien reagierten auf das Urteil der BGH nur mit Wohlgefallen und Beifall für die Straffreiheit der Korruption von Ärzten, Waren- und Leistungsanbietern. Sie reagierten aber nicht mit Aktivitäten für die vom BGH angeregten gesetzlichen Maßnahmen. Ihr Sprecher im Bundestagsausschuss für Gesundheit, als ehemaliger Banker neoliberaler Profitorientierung nahestehend, hielt die Straffreiheit von Korruption bei Ärzten und Warenanbietern für rechtens. Nur die Opposition forderte gesetzliches Handeln zur Korruptionsbekämpfung gemäß der Anregung des BGH ein.
Die Kosten für die bestechenden Zuwendungen werden auf die Preise aufgeschlagen, die die Versicherten zu zahlen haben. Das Europäische Netzwerk gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen EHFCN errechnete im Jahre 2010 für Deutschland bei Gesundheitsausgaben von 287 Milliarden Euro Kosten von mehr als 19 Milliarden Euro, die durch korruptive Praktiken verursacht werden.
Waren- und Leistungsanbietern, die sich an solchen Praktiken der Verbrennung von Beitragsgeldern von Krankenversicherten beteiligen, drohen im Gegensatz zu Deutschland in anderen Industrieländern Strafen. Für kriminelle Marketingpraktiken haben in den USA in den vergangenen fünf Jahren Pharmafirmen Bußgelder in Höhe von mehr als 18 Milliarden US-Dollar an das Justizministerium oder Behörden der Einzelstaaten entrichten müssen. In Deutschland sind mir keine vergleichbaren Verurteilungen für sozial schädliches korruptives Verhalten im Gesundheitswesen bekannt. In der Verfolgung von Korruption im Gesundheitswesen hat Deutschland leider immer noch das Niveau einer Bananenrepublik.
Welche Optionen bieten sich an, um bei uns die Bekämpfung von Korruption bei den Ärzten und Warenanbietern zu ermöglichen:

  • Gesetzliche Normen zur Strafbarkeit von Ärzten, Waren- und Leistungsanbietern bei Korruption im Gesundheitswesen entsprechend der Anregung des BGH sind nachzujustieren. (Dies scheint allerdings bei der derzeitigen Regierung nicht erwartbar in Anbetracht von deren Hörigkeit gegenüber der Lobby von Warenanbietern und Ärzten.)
  • Kriminelles Marketing, Irreführung und Wissenschaftsbetrug durch Leistungs- und Warenanbieter im Gesundheitswesen müssen wie in anderen Industrieländern staatsanwaltlich verfolgt werden.
  • Die ärztliche Selbstverwaltung ist im Hinblick auf Organisationsversagen bei Umsetzung und Kontrolle berufsständischer Normen zu überprüfen. Notwendig sind: Entzug der Approbation bei Bestechlichkeit und Korruption; Ausschluss korrumpierender Waren- und Leistungsanbieter von ärztlichen Fortbildungsveranstaltungen; Offenlegung der Fälle von Korruption durch Aufsichtsbehörden.
  • Und schließlich sollte das vertragliche Beschäftigungsverhältnis von Kassenärzten mit den gesetzlichen Krankenkassen umstrukturiert werden hin zu einem Beauftragtenstatus oder Anstellungsverhältnis, zum Beispiel mittels Förderung von medizinischen Versorgungszentren anstelle von Einzelpraxen.