Neue Spielräume

Wie die KurdInnen in Syrien den Arabischen Frühling für sich nutzen

Der Arabische Frühling strahlt bisher vor allem auf jene Teile Kurdistans aus, die in den mehrheitlich arabischen Staaten Irak und Syrien liegen. Wie der Arabische Frühling selbst, bleiben aber auch die Entwicklungen in Syrisch-Kurdistan widersprüchlich. Wo autoritäre Herrschaftssysteme aufbrechen, entstehen nicht automatisch Demokratien.

In Syrisch-Kurdistan blieb es im Frühjahr 2011 zunächst überraschend ruhig. Offenbar warteten die syrischen KurdInnen ab, wie sich die Situation entwickeln würde. Die Traumatisierung durch die brutale Niederschlagung ihrer Proteste im Jahr 2004 mag dabei eine Rolle gespielt haben. Erst nach der Ermordung des bekannten Intellektuellen und Führers der Kurdischen Zukunftsbewegung, Mashaal Tammo, im Oktober 2011 kam es in Qamishli zu den ersten Großdemonstrationen.

Ebenfalls im Oktober gründete die Mehrheit der zersplitterten syrisch-kurdischen Parteien den Kurdish National Council of Syria (KNCS), analog zum oppositionellen Syrian National Council (SNC). Doch das kurdische Bündnis wurde nicht Teil der arabisch-sunnitisch dominierten Oppositionsallianz. Der KNCS protestierte zwar gegen das Assad-Regime, blieb aber auch dem SNC gegenüber skeptisch. Die KurdInnen fürchteten angesichts der Dominanz der Muslimbruderschaft in der arabischen Opposition, vom Regen in die Traufe zu kommen. Der SNC weigerte sich zudem, den kurdischen Parteien konkrete Zugeständnisse zu machen und garantierte lediglich, dass die syrischen KurdInnen in Zukunft gleichberechtige StaatsbürgerInnen Syriens sein würden. Der SNC weigerte sich, eine politische Autonomie Syrisch-Kurdistans auch nur zu diskutieren.

Einen Sonderweg geht derweil die mit den anderen syrisch-kurdischen Oppositionsparteien konkurrierende Partei der Demokratischen Union (PYD). Diese syrische Schwesterpartei der PKK wendet sich offen gegen den SNC, aufgrund der türkischen Unterstützung für ihn. Die historische Unterstützung der PKK durch den früheren syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad mag dabei ebenfalls eine Rolle spielen. Das Verhältnis des syrischen Baath-Regimes zur PKK war allerdings keineswegs von ungebrochener Zuneigung geprägt. 1998 ließ der Vater des heutigen Präsidenten den PKK-Führer Öcalan auf türkischen Druck hin aus Syrien ausweisen. Und in den letzten Jahren wurden PYD-AktivistInnen oft härter verfolgt als Angehörige anderer kurdischer Parteien.

Wenn die PYD seit dem Beginn des bewaffneten Aufstands gegen das Assad-Regime im Kurd Dagh und in Kobanî kurdische Kulturzentren und Sprachschulen eröffnet und de facto Herrschaftsfunktionen ausübt, wird dies zwar vom Regime geduldet, um so eine Machtübernahme der Opposition in diesen Gebieten zu verhindern. Aber dies bedeutet nicht, dass die PYD als verlängerter Arm des Regimes fungieren würde, wie dies von den Parteien im KNCS behauptet wird. Vielmehr ergeben sich zeitlich befristete Synergien zwischen Regime und PYD: Das Regime kann seine militärischen Kapazitäten für die Bekämpfung des Aufstandes in den arabischen Städten im Zentrum Syriens nutzen. Die PYD versucht ähnlich wie die PKK in den 1980er Jahren in der Türkei, die Macht innerhalb der kurdischen Bewegung mit Gewalt zu monopolisieren und das Problem der Zersplitterung der kurdischen Politiklandschaft autoritär zu ‚lösen‘.

Die verschiedenen kurdischen Parteien waren bis in die 1990er Jahre fast nur in Qamishli präsent. Dies ermöglichte es der 2003 gegründeten PYD, das politische Vakuum in Kobanî und Afrîn zu füllen. Derzeit scheint die Partei in diesen beiden Hochburgen de facto die Staatsgewalt übernommen zu haben. Während die anderen syrisch-kurdischen Parteien der PYD eine Zusammenarbeit mit dem Assad-Regime vorwerfen, bestreitet dies letztere vehement. AktivistInnen der PYD sind auch weiterhin in Haft. In ihren Statements wirft die PYD dem Regime vor, Syrien in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Im Dezember 2011 erklärte die Partei, dass die Regierung ihre Legitimität verloren habe, und rief einen »Volksrat in Westkurdistan« als »einzigen Repräsentanten des kurdischen Willens« aus. Dass die PYD mit dem »Volksrat« in Kobanî und Afrîn die Macht übernommen hat und damit zwei PKK-freundliche Enklaven direkt an der Grenze zur Türkei geschaffen hat, wird mit eine Rolle spielen, wenn von Seiten der Türkei nun laut über ein militärisches Eingreifen zur Errichtung einer Sicherheitszone in Syrien nachgedacht wird.

Währenddessen wurde Mitte März nach langen Verhandlungen eine Einigung zwischen dem KNCS und dem SNC erzielt. Diese Einigung erfolgte allerdings zu einem Zeitpunkt, an dem sich innerhalb des SNC zunehmende Spannungen auftaten und mit Catherine al-Telli, Kamal al-Labwani und Haitham al-Maleh gleich drei Führungsmitglieder des SNC zurücktraten, die dem SNC-Vorsitzenden Burhan Ghaliun vorwarfen, autoritär und »antidemokratisch« zu sein. Eine Woche später sah alles wieder anders aus: Der SNC einigte sich wieder mit den Ausgetretenen, während der KNCS Ende März den SNC wieder verließ, da dieser sich nicht auf eine Autonomie der KurdInnen im neuen Syrien festlegen wollte.

Vor Ort gibt die kurdische Basis deutlichere Lebenszeichen von sich. Am 12. März nahmen mehrere hunderttausend syrische KurdInnen an einer Schweigeminute zum Jahrestag der Unruhen in Qamishli von 2004 teil. Zehntausende gingen daraufhin in Qamishli und anderen Städten auf die Straße, um gegen das Regime zu demonstrieren. Zur wachsenden Mobilisierung dürften auch bekannte kurdische Künstler beitragen, die sich öffentlich hinter die Revolution stellen, wie der in Qamishli geborene Ciwan Haco.

Bei allen Unsicherheiten über die weitere Entwicklung hat der Arabische Frühling auch für die nichtarabischen Minderheiten arabischer Staaten neue Spielräume geschaffen. Dies gilt für die nordafrikanischen BerberInnen ebenso wie für die SprecherInnen neusüdarabischer Sprachen im Jemen und die KurdInnen in Syrien und im Irak. Ob sie diese Spielräume nützen können, wird von der Entwicklung der jeweiligen Staaten, aber auch von der Fähigkeit zur Selbstorganisation abhängen. Zersplitterung, Tribalismus und die Instrumentalisierung durch dritte Akteure stellen dabei ebenso Gefahren dar, wie der zunehmende Einfluss unterschiedlicher Bewegungen des politischen Islam. Sollten Syrien und Irak längerfristig instabil bleiben, würden sich dabei zwar Chancen für kurdische Mikroherrschaftsgebiete ergeben. Diese sind jedoch nicht notwendigerweise emanzipatorische Projekte.

 

 

Thomas Schmidinger ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie. 2011 brachte er im Peter Lang Verlag das Buch »Kurdistan im Wandel« heraus. Eine längere Fassung dieses Textes steht auf iz3w.org