Manches war doch anders*: Ein „Braunbuch“ mit Spätfolgen

Zeitgeschichtliche Spurensuche nach „braunen Keimträgern“ beim Aufbau des Bonner Staatsapparates hat derzeit Konjunktur. So erschien 2010 das fundierte Werk der Historikergruppe Conze, Frei, Hayes und Zimmermann sowie zahlreicher weiterer Autoren – „Das Amt“. Gemeint ist das Auswärtige, und das Buch beschreibt auf nahezu tausend Seiten einen Tatbestand, den es als „hohe personelle Kontinuität zwischen der Wilhelmstraße in Berlin und der Koblenzer Straße in Bonn“ bezeichnet, nämlich den nahezu bruchlosen Übergang von Funktionsträgern des faschistischen Auswärtigen Amtes in das der Bundesrepublik.
Auch an weiteren Stellen wird gegraben, wie am 23. Januar die Frankfurter Allgemeine Zeitung vermeldete: „So erforschen aktive und emeritierte Professoren die Geschichte beim Bundesnachrichtendienst (BND) sowie beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Auch der Bund der Vertriebenen erwartet seit längerem eine historische Studie [...]. Bereits abgeschlossen sind entsprechende Projekte beim Bundeskriminalamt […] und beim Auswärtigen Amt. […] Weitere Vorhaben, etwa beim Innenministerium, werden erwogen. Das jüngste Projekt zur Geschichtserforschung wird beim Justizministerium begonnen.“
Die Autoren von „Das Amt“ sprechen in ihrer Einleitung bemerkenswert Klartext, wenn sie feststellen: „Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts standen die Außenpolitik der Bundesrepublik und mit ihr das Auswärtige Amt unter Dauerbeschuss aus dem Osten, vor allem aus der DDR. Nicht nur deren ‘Braunbuch’ von 1965 verwies auf die hohe personelle Kontinuität zwischen dem alten und dem neuen Amt und auf die NS-Belastung führender westdeutscher Diplomaten. Die Angaben in dem Buch trafen zum allergrößten Teil zu, aber weil die Vorwürfe aus der DDR kamen, halfen sie [...] im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges den Beschuldigten eher, als dass sie ihnen schadeten.“ Demgegenüber hatte in den 60er Jahren selbst in seriösen westdeutschen Medien ein ganz anderer Tenor Bezugnahmen auf das „Braunbuch“ geprägt. So sprach Die Zeit vom „’Braunbuch’ über angebliche (Hervorhebung – d. Red.) ‘Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik’“.
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Zur Vorgeschichte: Am 7. Januar 1954 war in Berlin der „Ausschuss für deutsche Einheit“ gebildet, der unter Leitung von Albert Norden unter anderem Kampagnen gegen Nazi- und Kriegsverbrecher in der Bundesrepublik vorbereitete und durchführte beziehungsweise koordinierte. Der Ausschuss unterhielt enge Arbeitskontakte zu vergleichbaren Institutionen anderer sozialistischer Länder.
Die Tätigkeit des Ausschusses führte zu zahlreichen Dokumentationen über NS-Tätergruppen aus Staatsapparat, Justiz und Militär des Dritten Reiches, die in der Bundesrepublik – häufig in ihren alten oder höheren Positionen – wieder Funktionsträger waren.
Im Ergebnis des 13. August 1961 verschwand das Namensschild „Ausschuss für deutsche Einheit“ im Wortsinn über Nacht vom Bürohaus Friedrichstraße / Unter den Linden. Zeitgleich wurde im „Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland“ ein Westbereich unter Leitung von Gerhard Dengler geschaffen – mit drei Arbeitsgruppen (Staat, Justiz und Wirtschaft) und insgesamt 17 Mitarbeitern. Eine der spektakulärsten Aktionen mit breitem internationalen Widerhall wurde ein öffentlicher Prozesses vor dem Obersten Gericht der DDR gegen Hans Globke, engster Vertrauensmann Konrad Adenauers. Albert Norden vertrat die Auffassung „Ohne Globke kein Eichmann!“, hatte doch der spätere Staatssekretär des Bundeskanzlers in der NS-Ära als Fachjurist maßgeblichen Anteil an der Ausarbeitung Nürnberger Rassengesetzgebung war hernach der Verfasser eines Kommentars zu diesen Gesetzen. Globke zählte damit zu den geistigen Wegbereitern der späteren „Endlösung der Judenfrage“. Den im Juli 1963 stattfindende Prozess verfolgten zweihundert Journalisten. Der als „gesellschaftlicher Ankläger“ fungierende Rechtsanwalt Michael Landau aus Israel erklärte: „Wir sehen in diesem Prozess eine Fortsetzung des Eichmann-Prozesses, weil beide Angeklagte – auf verschiedene Art – die gleiche Schuld tragen.“ Der Prozess endete für den „Bürokraten des Todes“ mit dem Schuldspruch „lebenslänglich“.
Es war Albert Nordens Idee, abgestimmt auch mit NS-Strafverfolgungszentren anderer sozialistischer Länder, den Dokumentenfundus zu personellen „braunen Wurzeln“ der BRD in Kompaktform vorzustellen und international bekannt zu machen. Der Titel „Braunbuch“ bewies Analogie, hatte doch Norden selbst – unter Leitung Willi Münzenbergs – 1933 in Paris am „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror“ mitgewirkt. Die Zusammenstellung des Braunbuches erfolgte gemeinschaftlich durch die erwähnten drei Arbeitsgruppen des Nationalrats-Westbereichs; sie erhielten Zuarbeiten aller Strafverfolgungsinstanzen (Innenministerium, Ministerium für Staatssicherheit, Generalstaatsanwaltschaft und andere). Die Koordinierung der Arbeiten erfolgte durch Albert Norden persönlich.
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Das  „Braunbuch“ erregte weltweite Aufmerksamkeit, nachdem sich vor nunmehr 47 Jahren – am 2. Juli 1965 – ein prominentes internationales Gremium in Sachen NS-Täter im Berliner Haus am Kastanienwäldchen der internationalen Presse gestellt hatte. Zu den NS-Sachverständigen zählten dort unter anderem Czeslaw Pilichowsky, Direktor der Hauptkommission zur Untersuchung von Nazi-Verbrechen in Polen, Nikolai Alexandrow, sowjetischer Ankläger in den Nürnberger Prozessen gegen Hauptkriegsverbrecher sowie Sarn Goldblom, Vizepräsident des Jüdischen Rates zur Bekämpfung des Faschismus und Antisemitismus. In ihren aller Namen stellte Albert Norden, Mitglied der SED-Führung, das „Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik“ vor. Es enthielt 1.200 Kurzbiografien von einflussreichen Stützen des Naziregimes, die nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur weitgehend straflos ausgingen, sondern hohe und höchste Positionen einnahmen (Minister, Staatssekretäre, Generale und Admirale, Justizbeamte, Staatsanwälte, Richter, leitende Beamte des Auswärtigen Amtes, der Polizei und des Verfassungsschutzes). Es ginge – so Norden – „nicht um Einzel- oder Zufälle. Die Nichtverfolgung und Wiederverwendung der Nazi- und Kriegsverbrecher ist fester Bestandteil der Politik eines Staates, in dem die ökonomischen Spitzen des Hitlerregimes ihre Machtpositionen nicht nur erhalten, sondern verdoppelt und verdreifacht haben.“
Zugleich wurde im Vorwort klargestellt: „Selbstverständlich enthält das Braunbuch keine Namen nomineller Mitglieder der NSDAP. Die DDR hat immer konsequent zwischen der Millionenzahl ehemaliger Mitglieder der Nazi-Organisationen unterschieden, die selber irregeführt und betrogen wurden, und jener abscheulichen Gruppe von Hintermännern, Initiatoren und Profiteuren der Naziverbrechen. Wir denken nicht daran, irgendjemandem, der einmal einen politischen Irrtum beging, inzwischen aber längst seinen Fehler erkannt und einen neuen Weg beschriften hat, aus seiner Vergangenheit einen Vorwurf zu machen – schon gar nicht 20 Jahre danach.“
Es gab diverse internationale Presseberichte über die „Braunbuch“-Premiere. Die 1. Auflage war nach kurzer Zeit vergriffen, so dass im Oktober 1965 ein Nachdruck erfolgte, der auch fremdsprachig erschien. Als „Dauerbrenner“ in der politischen Landschaft der Bundesrepublik sollten sich Feststellungen Albert Nordens zur Tätigkeit des obersten Repräsentanten der BRD erweisen: „Der heutige Bundespräsident Lübke als Verantwortlicher für geheimste Rüstungsvorhaben der obersten Naziführung ist am Einsatz und am Tod vieler hundert Häftlinge des unterirdischen Konzentrationslagers Leau bei Bernburg schuldig [...] Hier im Saal sitzen polnische und französische Zeugen der Lübkeschen Verbrechen, die Erschütterndes berichten können. Man wird sehen, ob der Präsident der Bundesrepublik auch dazu schweigen wird.“ Das war zunächst der Fall.
Als vermeintlichen Konterschlag legte noch im Juli 1965 der so genannte Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen, der in West-Berlin agierte, eine Publikation mit dem Titel vor: „Ehemalige Nationalsozialisten in Pankows Diensten“. Dort erfuhr man zum Beispiel: „Prof Heinrich Dathe: Direktor des Tierparks Berlin-Friedrichsfelde; Mitglied des Präsidiums der Deutsch-Afrikanischen Gesellschaft; Mitglied des Präsidialrates des Deutschen Kulturbundes; Medaille ‘Für ausgezeichnete Leistungen’; Verdienstmedaille der ‘DDR’. Vor 1945: Eintritt in die NSDAP: 1.9.1932, Nr. 1.318.207.“ Ähnlich „belastet“ waren weitere Biografien. So wurde Gerhard Dengler, der selbst am „Braunbuch“ mitgewirkt hatte, außer dem NSDAP-Beitritt am 1. Juli 1937 zum Vorwurf gemacht, als Hauptmann der Hitler-Wehrmacht – er hatte mit seiner Einheit in Stalingrad vorzeitig kapituliert – später Mitglied des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ gewesen zu sein.
Die Auseinandersetzungen um das Wirken des damaligen Bundespräsidenten in der NS-Ära zog jedoch trotz amtlicher Zurückweisungen – „Verleumdung“ und „Fälschung“ – immer weitere Kreise. Anfang Februar 1968 besetzten Angehörige des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes das Rektorat der Bonner Universität und versahen Heinrich Lübkes Unterschrift als Ehrensenator mit dem Zusatz „KZ-Baumeister“. Wenig später gab es zwar Polizeieinsätze zur Räumung der Universität, aber insgesamt 22 Ordinarien schlossen sich den Studentenprotesten an und forderten „ein klärendes Wort“ Lübkes. Ende März verweigerte der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Franz Marx, KZ-Häftling in Dachau, die Annahme des Bundesverdienstkreuzes, so lange Lübkes „Beteiligung an den KZ-Bauten“ nicht geklärt sei. Als zusätzlicher politischer Sprengstoff hatte sich auch ein Eklat auf der Frankfurter Buchmesse am 17. Oktober 1967 erwiesen: Das dort ausgelegte „Braunbuch“ wurde gerichtlich eingezogen, worauf die 38 DDR-Aussteller ihre Stände schlossen.
Vielseitig gedrängt gab Heinrich Lübke dann zum Juli 1969 vorzeitig auf. Er begründete seinen Rücktritt drei Monate vor Beendigung der offiziellen Amtszeit mit „staatspolitischen Gründen“. Eine sarkastische Langzeit-Prognose Albert Nordens hatte sich als richtig erwiesen: „Die nicht existente Deutsche Demokratische Republik stürzt mit ihren nicht existierenden Akten existierende Bonner Minister, die dann allerdings nach unserer Enthüllung nicht mehr existieren.“
Im Mai 1968 gab es eine erweiterte 3. Auflage des „Braunbuches“ mit 1.400 Täterprofilen. Beleuchtet wurden nunmehr die politischen Lebensläufe von 21 Ministern und Staatssekretären, 100 Generalen und Admiralen, 828 hohen Justizbeamten, Staatsanwälten und Richtern, 245 leitenden Beamten des Auswärtigen Amtes sowie 297 mittleren bis hohen Beamten der Polizei und des Verfassungsschutzes – nicht mehr nur in der Bundesrepublik, sondern auch in West-Berlin.
Ein 2002 erschienener Reprint war schnell vergriffen.

Karsten D. Voigt: Das „Braunbuch“ – eine persönliche Erinnerung

Ich habe das „Braunbuch“ bereits kurz nach seiner Veröffentlichung gelesen. Die darin beschriebenen „braunen“ Lebensläufe führender Personen in der Politik erschienen mir glaubwürdig, obwohl ich nicht jeden Einzelfall beurteilen konnte und auch nicht wusste, ob die DDR einzelne Fakten manipuliert hatte. Der Tatbestand selber war für mich aber auch nicht neu: Ich hatte 1962/63 in Kopenhagen studiert. Der Schwerpunkt meines damaligen Studiums war die deutsche Besatzungszeit in Dänemark. Aufgrund meiner guten Kontakte in Dänemark erhielt ich die Einsicht in Akten des dänischen „Rigsarkivet“, die damals in der Regel noch nicht für Deutsche zugänglich waren. Auf der Grundlage dieser Kenntnisse interviewte ich Personen aus dem dänischen Widerstand, aber dann auch ehemalige Nationalsozialisten, darunter auch führende Mitarbeiter der SS. Sie übten keine führenden Funktionen aus, lebten aber in ihrer Umgebung als respektierte und erfolgreiche Bürger der Bundesrepublik.
Später habe ich in Frankfurt als Begleiter von Zeugen am Ausschwitz-Prozess teilgenommen. Auch dort wurde ich in Gesprächen immer wieder auf das nationalsozialistische Vorleben führender Personen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft hingewiesen. Als ich einige Jahre später die personelle Zusammensetzung des Auswärtigen Amtes kritisierte, wies der damalige Außenminister Genscher meine Kritik empört zurück und betonte, dass er keine zweite Entnazifizierung wolle.
Diese Kritik an der Nachkriegswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland hat mich gegenüber der DDR nicht positiver gestimmt. Frühere Kommunisten und spätere Sozialdemokraten hatten mir viel über die Verfolgung von un-orthodoxen Linken durch die Sowjetunion im spanischen Bürgerkrieg erzählt. Ich wusste von ihnen, dass Stalin zahlreiche Mitglieder der Führung der KPD hatte ermorden lassen. Und ich kannte Heinz Brandt und Leo Bauer, die als ehemalige Kommunisten von der DDR verfolgt worden waren. Außerdem hielt ich die Haltung der DDR zu Israel unter dem Gesichtspunkt der deutschen Geschichte für völlig inakzeptabel.
Insofern bestärkte mich das „Braunbuch“ in meiner Kritik an bestimmten Zuständen in der BRD, ohne gleichzeitig die DDR in einem positiveren Lichte erscheinen zu lassen.

* – So der Titel der 1968 erschienenen Lebenserinnerungen von Ernst Lemmer (CDU), deutscher Journalist und Politiker, unter anderem nach Kriegsende in führender Position beim FDGB in der Sowjetischen Besatzungszone, später Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen (1957 – 1962). Wir entlehnen den Titel für eine unregelmäßige Reihe historischer deutsch-deutscher Reminiszenzen. Der Auftakt-Beitrag erschien in der Ausgabe 4 / 2012.