Verstand ist stets bei Wenigen nur gewesen

Interview mit Wolfgang Däubler*

»Eine Geschichte verpasster Chancen«, so die gar nicht so seltene Einschätzung, wenn es um die Durchsetzung des europarechtlich verankerten Equal Pay-Grundsatzes, d.h die Anpassung der Leiharbeitslöhne an vergleichbare Löhne regulär Beschäftigter geht. Dabei gibt es keinen Grund, den Vorgang als abgeschlossen zu betrachten: Noch nie wurden so viele Menschen in Deutschland verliehen: ca. eine Million; jede dritte Stelle der Bundesagentur ist eine Leiharbeitsstelle; fast die Hälfte aller Neueinstellungen nach der Krise erfolgte in der ›boomenden‹ Metallindustrie auf Leiharbeitsbasis – und Leiharbeiter verdienen im Schnitt nur rund die Hälfte dessen, was regulär Beschäftigte erhalten. Doch wer soll und kann diese Abwärtsspirale aufhalten? Mit dem folgenden Beitrag knüpfen wir an unsere Einladung zur Debatte über Strategien im Umgang mit Leiharbeit aus dem letzten express an. Von Wolfgang Däubler wollten wir wissen, welche Rolle die EU bei der Einführung des Equal Pay-Grundsatzes spielt und welche Möglichkeiten zur Umsetzung dieses Prinzips – mit oder ohne Gewerkschaften – denkbar sind. Die Fragen stellten Andreas Bachmann und Kirsten Huckenbeck.

 

Was sind die Hintergründe und Triebkräfte für den »Equal Pay«-Grundsatz zur Leiharbeit im EU-Recht? Warum ist das EU-Recht hier eine treibende Kraft für egalitäre Regelungen?

 

Däubler: Ich glaube nicht, dass die EU die treibende Kraft für den Equal Pay-Grundsatz ist. In einer Reihe von Mitgliedstaaten gibt es ihn schon lange. Längst vor der EU-Richtlinie zur Leiharbeit existierte er auch schon in Deutschland, freilich in sehr verwässerter Form. Das sogenannte Job-Aqtiv-Gesetz von 2001 hatte ihn erstmals eingeführt und zwar sogar als zwingenden Grundsatz. Damals konnten Arbeitskräfte für zwei Jahre an denselben Unternehmer verliehen werden, und im zweiten Jahr mussten sie dasselbe wie vergleichbares Stammpersonal verdienen. Das war nicht sehr bedeutsam, weil die Verleiher darauf verzichteten, jemanden länger als ein Jahr zu verleihen. Dann kam 2003/2004 Hartz I und führte »Equal Pay« als allgemeinen Grundsatz ein, doch konnte (und kann) man von ihm durch Tarifvertrag abweichen. Erst 2008 erging die Leiharbeitsrichtlinie.

 

Ausgehend vom EU-Recht: Gilt der Grundsatz »Equal Pay« für alle Typen von Leiharbeit? Zum Hintergrund unserer Frage: Üblicherweise wird von zwei Typen von Leiharbeit ausgegangen – einem kontinuierlichen Beschäftigungsverhältnis beim Verleiher, also der ›Fiktion eines friktionslosen Beschäftigungsverhältnisses‹ einschließlich Weiterbeschäftigung in verleihfreien Zeiten, und einem auftragsbezogenen, befristeten Beschäftigungsverhältnis im Verleihunternehmen. Gilt Equal Pay überhaupt für den erstgenannten Typus, wie er modellhaft in Deutschland unterstellt ist, und wie geht man mit diesem Grundsatz bspw. in Bezug auf die verleihfreien Zeiten um?

 

Däubler: Ja, Leiharbeit ist Leiharbeit. Ob das Arbeitsverhältnis zum Verleiher befristet oder unbefristet ist, spielt keine Rolle. Für die sogenannten verleihfreien Zeiten gibt es keinen Equal-Pay-Grundsatz, doch darf der Leiharbeitnehmer auch hier nicht ohne Vergütung bleiben. Anderenfalls wäre das Betriebsrisiko des Verleihers auf ihn abgewälzt – ungefähr so, als würde ein Kellner oder ein Friseur nur dann etwas verdienen, wenn ausreichend Kunden kommen. Die Vergütung kann allerdings niedriger sein als während der Einsatzzeiten.

 

Im deutschen Arbeitsrecht ist der »Equal Pay«-Grundsatz durch Tarifverträge »abdingbar«, also »tarifdispositiv« gestaltet. So wurde es leider im Rahmen der Agenda 2010 bei der Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes eingefädelt. Wie weit reicht die Befugnis von Tarifvertragsparteien, von dem gesetzlichen Leitbild abzuweichen?

 

Däubler: Das kann man leider nicht wirklich präzise sagen. Inhaltlich ist die Abweichung dadurch gerechtfertigt, dass der Tariflohn auch in den verleihfreien Zeiten bezahlt wird, und außerdem kann man den Standpunkt vertreten, das unterschiedliche Lohnniveau der einzelnen Branchen solle auf diesem Wege »angeglichen« werden, so dass es keine Rolle mehr spielt, ob der Leiharbeitnehmer im »Hochlohnsektor« Chemie oder im Einzelhandel eingesetzt wird. Nur: Eine Abweichung, wonach die Betroffenen im Durchschnitt 40 Prozent weniger als die Stammkräfte verdienen, ist von der Ermächtigung nicht gedeckt.

 

Ist eine rechtliche Überprüfung solcher, durch Tarifvertrag installierter Abweichungen von gesetzlichen Regelungen vorstellbar?

 

Däubler: Ja, natürlich, nur traut sich niemand, die DGB-Tarife ernsthaft in Zweifel zu ziehen, obwohl sie den 40-Prozent-Abzug festschreiben. Auch die Gerichte hätten vermutlich Angst, plötzlich die Verleiher ganz generell zu »Equal pay« zu verdonnern und so die Leiharbeit erheblich teurer zu machen.

 

In welchem Rahmen und in welchen Grenzen wäre eine richterliche »Tarifkontrolle« akzeptabel?

 

Däubler: Die Gerichte können die Rechtmäßigkeit von Tarifverträgen überprüfen, etwa die Vereinbarkeit mit Grundrechten, aber auch die mit Gesetzen. Sie haben dabei im Laufe der Entwicklung in der Bundesrepublik eine sehr positive Rolle gespielt. So gab es etwa in den 1950er-Jahren »Frauenlohngruppen«, wo die geringeren Verdienste für Frauen – manchmal sogar in Form eines prozentualen Abzugs vom »Normallohn« der Männer – festgeschrieben waren. Die Arbeitsgerichte haben dies kassiert und damit einen wichtigen Beitrag zur Lohngleichheit von Mann und Frau geleistet. Warum sollten sie es nicht auch hier tun? Nicht alles, was »tarifautonom« ausgehandelt wurde, ist allein deshalb ethisch wertvoll und rechtlich akzeptabel.

 

Falls die DGB-Tarife die rote Linie der Zulässigkeit überschritten hätten, wie muss man sich den Rechtsweg vorstellen? Wer kann wie und wo klagen?

 

Däubler: Das ist eigentlich ganz einfach. Ein Leiharbeitnehmer, der nach einem DGB-Tarif vergütet wurde, macht »gleiche Bezahlung wie eine vergleichbare Stammkraft« (also Equal Pay) geltend und klagt die Differenz zu seinem bisherigen niedrigeren Lohn ein. Begründung: Weil die Tarife wegen Überschreitung der Ermächtigungsgrundlage unwirksam sind, steht ihm »Equal Pay« zu. Das Gericht überprüft dann, ob dies zutrifft und die Tarife wirklich unwirksam sind. Das einzige Problem liegt darin, Leiharbeitnehmer zu finden, die Klage erheben; bisher scheint die Angst zu dominieren, in dieser Branche nie mehr einen Arbeitsplatz zu bekommen, wenn man sich zu einem solchen Schritt entschließt.

 

Bekanntlich ist ja fast keine Leiharbeitnehmerin, fast kein Leiharbeitnehmer in einer der gelb-christlichen Ge-werkschaften organisiert. Organisationsgrad und Tarifbindung von LeiharbeitnehmerInnen in DGB-Gewerk-schaften dürften allerdings auch sehr übersichtlich sein. Insofern realisiert sich der Absenkungseffekt, den Tarifverträge gegenüber dem Equal Pay-Grundsatz entfalten, wohl im Wesentlichen durch die im AÜG vorgesehene Möglichkeit einzelvertraglicher Bezugnahmen auf die Tarifverträge. Ist dies mit der EU-Richtlinie vereinbar?

 

Däubler: Die EU-Richtlinie sieht eine Abweichung durch Tarifvertrag vor, was auch den Fall einschließt, dass der Arbeitnehmer kein Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft ist. In diesem Fall genügt eine Bezugnahme im Arbeitsvertrag. Allerdings unterscheidet sich das EU-Recht in einem wichtigen Punkt vom deutschen: Der »Gesamtschutz« des Leiharbeitnehmers darf durch die Tarifverträge nicht verschlechtert werden. Was das im Einzelnen bedeutet, ist schwer zu sagen, aber vom selben »Gesamtschutz« kann jedenfalls dann nicht mehr die Rede sein, wenn der Leiharbeitstarif 40 Prozent unter dem Stammarbeitstarif liegt.

 

Was würde passieren, wenn die DGB-Tarifverträge zur Leiharbeit auslaufen würden? Welche Nachwirkungsrisiken gäbe es dabei?

 

Däubler: Die Verleiher haben eine gute Lobby in der juristischen Fachöffentlichkeit. Deshalb gibt es eine ganze Reihe von Autoren, die den Standpunkt vertreten, auch ein nachwirkender Tarifvertrag würde dem Equal-Pay-Grundsatz vorgehen. Andere sagen dagegen zu Recht, dass nur ein voll wirksamer Tarifvertrag vom Gesetz abweichen kann. Gerichtsentscheidungen dazu gibt es nicht, weil es meines Wissens noch nie zu einer Nachwirkung von Tarifverträgen gekommen ist.

 

Die DGB-Tarifverträge haben noch eine beträchtliche Restlaufzeit. Gäbe es, abgesehen von dem erforderlichen politischen Willen, auch rechtliche Möglichkeiten für einen vorzeitigen Ausstieg aus den Tarifverträgen zur Leiharbeit?

 

Däubler: Nein, eine solche rechtliche Möglichkeit sehe ich nicht. Man kann nur gerichtliche Verfahren anstrengen, die sich auf die oben genannten Argumente stützen: Die Leiharbeitstarife gehen über die Ermächtigung im AÜG hinaus, und sie verstoßen außerdem gegen die EU-rechtliche Vorgabe, den »Gesamtschutz« nicht anzutasten. Das ist – verglichen mit einer neuen tarifpolitischen Willensbildung in den Gewerkschaften – sogar der sehr viel einfachere Weg.

 

Welche Probleme für »Equal Pay« ergeben sich aus dem neuen Mindestlohn in der Zeitarbeit?

 

Däubler: Keine. Der Mindestlohn fixiert eine Untergrenze und sagt nichts zum Verhältnis Leiharbeitnehmer – Stammbeschäftigte.

 

Wo liegen aus Ihrer Sicht die Motive für die DGB-Tarifverträge zur Leiharbeit? Empirisch gesehen überzeugt die häufig gehörte Erklärung des »notwendigen kleineren Übels« zu den gelb-christlichen Tarifen angesichts der tarifierten Entgelte ja nicht so recht.

 

Däubler: Sie stellen da eine ganz grundsätzliche Frage. Die DGB-Gewerkschaften hätten sich von vorne herein verweigern und gegen die unchristlichen Christentarife auf dem Rechtsweg vorgehen können. Dann hätte vielleicht ab 2006 oder 2007 der Equal Pay-Grundsatz effektiv gegolten.

Warum sie das nicht getan haben, kann man nur vermuten. Die Agenda 2010 wollte die Arbeitskosten in Deutschland reduzieren und hat dies ja auch erreicht. Dies geschah aber nicht wie heute in Griechenland auf dem brutalen Weg einer direkten Absenkung; vielmehr ermöglichte man Lohndumping im eigenen Land. Dies wirkte sich dann auf die Tarifabschlüsse aus, die nicht mal mehr einen vollen Inflationsausgleich erbrachten. Das war für die Gewerkschaften zwar unangenehm, aber irgendwie hinnehmbar, da ja das Hauptopfer von »Billiglöhnern« erbracht wurde, unter denen es kaum Gewerkschaftsmitglieder gibt.

Sich dieser Politik zu verweigern, hat man sich nicht getraut. Man hätte die Unterstützung der Bundesregierung verloren und wäre ins Abseits gestellt worden. Dagegen kann man sich zwar wehren, aber das geht letztlich nur über Streiks und andere Druckmittel. Diese hätten vorausgesetzt, dass man eine Kampforganisation geworden wäre. Eine solche Verwandlung wäre möglich, aber schwierig gewesen, und – das war wohl entscheidender – man wollte sie auch nicht.

 

Gibt es nach Ihrer Einschätzung eine Neubewertung der eigenen Tarifpolitik zur Leiharbeit in den DGB-Ge-werkschaften? Wohin geht die Reise?

 

Däubler: Das müssten Sie die Verantwortlichen fragen. Im Bereich der IG Metall gibt es interessante Ansätze, die Entleiher per Tarifvertrag zu »Equal pay« zu zwingen; in einigen Betrieben ist dies auch schon durch Betriebsvereinbarung erreicht worden. Aber: Erst brockt man sich die Suppe selbst ein, und dann löffelt man sie 10 oder 15 Jahre lang aus. »Verstand ist stets bei Wen’gen nur gewesen«, sagt der Dichter. Kluge Menschen als Entscheidungsträger – nur unverbesserliche Optimisten werden auch in Zukunft darauf hoffen. Anders als vor zwanzig Jahren habe ich heute Schwierigkeiten, diese Hoffnung zu teilen.

 

Herr Däubler, wir danken für dieses Interview.

 

* Wolfgang Däubler ist Professor für Deutsches & Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen.

 

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/12

express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express