Normalisierter Rassismus?

Sebastian Friedrich hat in der „edition assemblage“ einen Sammelband vorgelegt, der sich mit einem konstitutiven Bestandteil des geistigen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft beschäftigt, der immer dann, wenn „die Idee die Massen ergreift“ Blut fließen lässt. Friedrichs Buch befasst sich mit dem Thema „Rassismus“.
Friedrich ordnet die Beiträge der 16 Autoren in vier Kapiteln: Migration und Rassismus, Bevölkerungs- und Biopolitik, Kapital und Nation, Intervention und Perspektiven. Doppelungen des Mitgeteilten sind dabei zwangsläufig, mindern aber nicht den Wert der Schrift. Die soll den aktuellen Forschungsstand darbieten – das macht sie mit Bravour. Sie soll den wissenschaftlichen und den politischen Diskurs vorantreiben – das macht sie zu guten Teilen. Und sie soll aufklären. Diesen Anspruch erfüllt sie nur bedingt. Das liegt auch darin begründet, dass Leserinnen und Leser, die sich nicht in Permanenz im Sprachbecken des benannten Diskurses tummeln, Mühe haben werden, die Distanz der 262 Seiten des Textes zu überwinden. Die Göttinger Kulturanthropologin Sabine Hesse beklagt in einer Anmerkung zu ihrem Beitrag „Welcome to the Container“ selbst die inzwischen „regalfüllenden … selbstreflektiven Abhandlungen in den Kulturwissenschaften“ im Zusammenhang mit dem Kulturbegriffsverständnis der Mulitikulturalismus-Debatte.
Einerseits liegt dies daran, die eingeführten Begrifflichkeiten der community gebrauchen zu müssen. Tückischer scheint mir der selbstauferlegte Handlungszwang linker Theoriebildung zu sein, mit Macht und Gewalt „Neues“ finden und definieren zu müssen. Vassilis Tsianos und Marianne Pieper schreiben zum Beispiel über „Postliberale Assemblagen. Rassismus in Zeiten der Gleichheit“. Sie erklären den rechts-sozialdemokratischen Leitstern Thilo Sarrazin quasi zum Vorreiter eines „dubiosen“ Modernisierungsprojektes: „… für das offensive Mainstreaming eines neuen Rassismus in Europa, des postliberalen Rassismus. Es ist ein Rassismus der radikalisierten Suburbia-Mittelschicht…“ Hier wird es problematisch. Den Beleg dafür, dass es sich in Europa – die Autoren beschränken sich weitgehend auf die Betrachtung europäischer Verhältnisse, genau genommen schreiben sie (fast) nur über Deutschland – um einen „neuen Rassismus“ handelt, bleiben sie schuldig. Oder ist es die Tatsache, dass in einem Europa der gefallenen, also in der Landschaft nicht sichtbaren, Grenzen Rassismus scheinbar unvermutet mit einer Wirkungsmächtigkeit auftaucht, die humanistisch denkende Menschen mit an der europäischen Aufklärung orientiertem Weltbild für längst überwunden geglaubt hatten? Die starke Fixierung auf Sarrazins Machwerk halte ich für kontraproduktiv. „Amazon.de“ empfahl mir seinerzeit im Zusammenhang mit Sarrazins Buch ein Pamphlet des brandenburgischen CDU-Mannes Jörg Schönbohm, die Schrift der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig (zu Unrecht, wie ich finde – siehe Das Blättchen 20/2010) und das Buch „Deutsche Opfer, fremde Täter“ von Götz Kubitschek und Michael Paulwitz – 2011 im rechten Verlag „Edition Antaios“ erschienen. Da ist zusammen, was zusammengehört und das ist so neu nicht: „Manche Juden habe ich sehr geschätzt“, sagt die von Inge Keller grandios gespielte Freifach von Zernikow in der ZDF-Produktion „Das Kindermädchen“ (2011). Sowohl in der „Oberschicht“ als auch in der „Suburbia-Mittelschicht“ war Rassismus nie verschwunden.
Eines ist neu: Immer wieder äußern Menschen, befragt was sie denn von Sarrazins Buch hielten, „endlich spräche da mal einer aus, was alle denken“. Die Betonung liegt auf „endlich“. Lange musste man sich schließlich zusammenreißen. Wegen der political correctnes, wegen „des Auslandes“ und auch wegen „der Wirtschaft“. Man erinnere sich: Selbst über jeden Rassismusverdacht erhabene altlinke bundesdeutsche Autoren wie Bernt Engelmann beschworen seinerzeit gegen fremdenfeindliche (also rassistische!) Argumentationen der Rechten den Zusammenbruch der bundesdeutschen Wirtschaft, wenn von heute auf morgen alle „ausländischen“ Arbeitskräfte abgezogen werden würden…
Im Herbst 2011 ergab eine im Auftrage der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellte Studie von Oliver Decker und Elmar Brähler, dass 30 Prozent der Deutschen ein Ausländerbild haben, das sich mit dem der rechtsextremen Parteien decke: Ausländer kämen, „um den Sozialstaat auszunutzen“ und man solle sie bei knappen Arbeitsplätzen „wieder in ihre Heimat zurückschicken“. Jeder vierte Deutsche, so diese Studie, spräche sich für „eine starke Partei“ aus, die „die Volksgemeinschaft insgesamt“ verkörpere. Mit einem „starken Führer“ natürlich. So berichtete es die taz. Was ist da „neorassistisch“ oder „postliberal“? Das ist klassische faschistische Denke mit einer gefährlichen Virulenz. Die zitierte Zeitung vermerkt übrigens, dass die Autoren der Studie ihre Erhebungen vor dem Erscheinen des Sarrazinschen Pamphletes vornahmen. Noch erschreckender: „Fast durchgängig findet sich unter Kirchenmitgliedern christlicher Konfessionen eine höhere Zustimmung zu rechtsextremen Einstellungen als unter Konfessionslosen.“ Das deckt sich mit einer Untersuchung, die die Meinungsforschungsinstitute INFO und Liljeberg Research International im Mai 2010 vorlegten. „Etwa jeder fünfte Deutsche ist Ausländern und Migranten gegenüber grundsätzlich negativ eingestellt“, fasste der SPIEGEL deren Befunde zusammen. INFO maß 2011 für Berlin noch einmal nach. 26 Prozent der Berliner sind nach dieser Analyse ausländer-und migrantenfeindlich eingestellt. Für Marzahn-Hellersdorf fand man mit 48 Prozent, für Treptow-Köpenick mit 39 Prozent und für Spandau mit 30 Prozent noch erschreckendere Befunde. Die Berliner Zeitung versuchte dies mit dem Untertitel „Angeblich ist jeder vierte Berliner ausländerfeindlich“ zu relativieren. Über die Jahre hat sich offenbar ein faschismusanfälliger „Grundstock“ in der Gesellschaft gehalten. Ähnliche Daten gibt es aus den achtziger Jahren der Alt-Bundesrepublik. „Die offene, direkte Ablehnung ist größer geworden.“ So zitierte der Tagesspiegel im Dezember 2011 die ehemalige Ausländerbeauftragte Berlins, Barbara John. Rassismus ist in der „Unterschicht“ weit verbreitet. Die jüngsten Berliner Wahlergebnisse gerade in einigen Quartieren der von der Info-Studie benannten Bezirke sprechen eine eindeutige Sprache. Endlich kann man ja wieder sagen, was man denkt… Falsch, nicht jeder und erst recht nicht jede: Naika Foroutan zum Beispiel nicht. Die Deutschiranerin trat zweimal gegen Sarrazins Geschwätz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen an. Wie Die Zeit in ihrer Ausgabe 10/2012 berichtet, wurde sie daraufhin dermaßen unflätig mit Hass-Mails zugeschüttet, dass die Berliner Sozialwissenschaftlerin inzwischen auf jeden Fernseh-Auftritt verzichtet.
Zurück zum Buch und hier noch einmal zu Tsianos und Pieper. Es geht eben inzwischen nicht nur, wie die Autoren erklären, um „… (post-)koloniale, antisemitische, antiziganistische, antimigrantische und antimuslimische diskursive Figurationen“. Zu Unrecht wird in manchen Beiträgen des Bandes der tradierte plumpe biologisch determinierte Rassismus ausgeblendet. Ursächlich scheint mir das Übersehen der historischen Wurzeln des westlich-europäischen Rassismus mit dafür verantwortlich zu sein, dass im vorliegenden Band äußerst interessante Analyseanätze nicht tiefschürfend genug ausgearbeitet werden. Die „neuen“ Erscheinungsformen des Rassismus wirken auf linkes Fortschrittsdenken zutiefst irritierend. Dieser Rassismus ist eines der vielen – wenn auch ein gern verstecktes – Kinder der europäischen Aufklärung. Die „Anderen“, die „Fremden“, die man sich gerade anschickte auszurotten und auszuplündern musste man zwangsläufig irgendwie zu niederen Kreaturen erklären. „Völkerschau“ bei Hagenbeck als Krönung dieser Entwicklung. Das wirkt bis heute nach. Und die tieferen Antriebe sind so anders nicht. Christoph Butterwege und Jörg Kronauer weisen dezidiert auf die gesellschaftliche Konditionierung des sogenannten „Neorassismus“ hin (Butterwege interpretiert den „Rechtspopulismus als ideologisches Ablenkungsmanöver der Herrschenden“) und weisen nach, dass der nicht zufällig in einer Zeit seine bösartigen Urstände feiert, in der – zwar noch verhalten, aber immer unüberhörbarer – Deutschland einen „atlantische“ oder sonstige „Westbindungen“ peu á peu verlassenden Führungsanspruch reale Wirklichkeit werden lässt. Kronauer konstatiert die „politische Radikalität“ von „Teilen der deutschen Eliten“, die – er zitiert das Beiratsmitglied der Bundesakademie für Sicherheitspolitik Herfried Münkler, durchaus den „Wunsch nach ein klein wenig Diktatur“ diskutieren. Hier betreten Friedrich und seine Autorinnen und Autoren diskursives Neuland. Schlussendlich weisen sie nach, dass das Hochkochen rassistischer Verhaltensmuster der Vorbereitung „kommoder“ diktatorischer Strukturen dient. Die tatsächlichen Gefahren liegen also weniger bei scheinbar unkontrolliert durch das Land mordenden „NSU“-Zellen – die liegen in den Politikansätzen der bürgerlichen Eliten. Solange die „kleinen Leute“ ihre kleinen Kriege gegeneinander führen, können die „großen“ ungehindert ihre „großen Kriege“ durchziehen. Desto Ärgerlicher, dass sich das Abschlusskapitel „Interventionen und Perspektiven“ hinsichtlich der bitter nötigen Gegenstrategien – zu denen die Linke trotz rhetorischer Kraftmeiereien immer noch nicht gefunden hat – auf „narrative Spiegelung“ und das „Formulieren von Kritik“ reduziert.
Bei allen Einwänden: Unbestritten sei der Wert dieses Sammelbandes. Er weist nach, dass es letztlich nicht um die scheinbar unerklärliche Massenwirkung eines am „zweiten Band“ herumschnitzenden Scharlatans geht. Das ist kein Irrsinn, da ist Methode drin, um es mit Shakespeares Polonius zu sagen. Unser Land ist faschismusanfälliger geworden.

Sebastian Friedrich (Hrsg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“, edition assemblage, Münster 2011, 262 Seiten, 19,80 Euro