Last Exit Versammlungssprengung

Blockaden als »grobe Störung«?

in (19.01.2012)


„Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“(§ 21 VersG) Seit Jahren suchen die Ermittlungsbehörden nach Möglichkeiten, gegen Massenblockaden von Naziaufmärschen vorzugehen.

Es wurden Ingewahrsamnahmen, Prügeleinsätze und Großabsperrungen versucht. Dies stellte sich allerdings oft als kontraproduktiv heraus: Man bringt damit nicht nur breite gesellschaftliche Schichten gegen sich auf, ab einer bestimmten TeilnehmerInnenzahl bleiben solche Maßnahmen schlicht wirkungslos. Umso mehr suchen Polizei und Ermittlungsbehörden nach Möglichkeiten, Teilnehmende und Veranstaltende zu kriminalisieren, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind friedliche Blockaden allerdings nicht als Nötigung zu betrachten. Dies umso mehr, wenn die Aktionen ihrerseits Versammlungscharakter haben. Dies ist bei antifaschistischen Blockaden von Naziaufmärschen der Fall. Da bei Massenblockaden wirkliche Gesetzesverstöße nur eine untergeordnete Rolle spielen, macht man sich auf die Suche nach einer geeigneten Strafnorm und glaubt sie in § 21 VersG gefunden zu haben.

Von Brokdorf nach Dresden

Eines der wichtigsten Urteile des BVerfG ist das sogenannte Brokdorf-Urteil von Mai 1985 (1 BvR 233, 341/81). Das Urteil stärkte die Rechte der BürgerInnen auf Ausübung des Versammlungsrechts enorm. Unter anderem wurde festgeschrieben, dass bei Spontandemonstrationen keine Anmeldepflicht besteht und insbesondere die Verletzung der Anmeldepflicht nicht schematisch zu Auflösung und Verbot führen darf. Insbesondere wurde durch das Urteil eine Pflicht der Behörden festgeschrieben, nach dem Vorbild friedlich verlaufender Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne besonderen Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben. Soweit nicht zu befürchten ist, dass eine Demonstration als Ganzes einen unfriedlichen Verlauf nimmt oder dass ein solcher angestrebt ist, bleibt der Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen einer Minderheit zu rechnen ist.

Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung, die in den letzten Jahren immer wieder bestätigt und  ausgeformt wurde, muss die von der Staatsanwaltschaft Dresden als Allheilmittel gegen BlockiererInnen eingesetzte Strafnorm des § 21 VersG besonders kritisch gesehen werden. Die Norm ist zunächst eindeutig. Wer Gewalt androht oder anwendet, um nicht verbotene Versammlungen oder Demonstrationen zu verhindern, zu sprengen oder sonst zu vereiteln, wird  bestraft. Friedliche Blockaden stellen keine Gewalt und in der Regel auch keine Nötigung dar. Da das Dresdner Blockadebündnis also keine Gewalt im Sinne dieses Gesetzes anwendet oder androht, spielt diese Variante der Norm hier keine Rolle. Weiterhin ist zwar jeder Versuch einer gewalttätigen Versammlungsverhinderung gemäß § 21 VersG strafbar, nicht aber die öffentliche Aufforderung hierzu.

Grobe Störung?

Die von der Dresdner Staatsanwaltschaft zur Strafverfolgung angewendete Variante ist das Verursachen grober Störungen. Grobe Störungen sollen solche Einwirkungen auf eine Versammlung sein, die zu einer groben Beeinträchtigung derselben führen. Nach der Rechtsprechung bayerischer Gerichte soll eine solche grobe Störung bereits gegeben sein, wenn der Beginn eines Naziaufmarsches um wenige Minuten verzögert wird. Dass die BlockiererInnen von Dresden Nazifrei eine solche Beeinträchtigung des größten europäischen Naziaufmarsches anstreben, steht außer Frage.

Trotzdem kann die Teilnahme an den Aktionen von Dresden Nazifrei nicht gemäß § 21 VersG strafbar sein. Abweichend vom Grundgedanken dieser Norm handelt sich bei der Blockade des Aufmarsches nicht um bloße Störaktionen, sondern um eigenständige Versammlungen. Diese haben einen eigenen versammlungsrechtlichen Kern, da sie Kundgebungen antifaschistischer Meinungen sind. Der Aufmarsch ist auch nicht grundsätzlich schützenswerter als die antifaschistischen Proteste – nach dem Motto „Wer zuerst anmeldet, marschiert auch zuerst“. Ein solches Vorgehen würde den Grundrechten auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit widersprechen.

Seit Jahren melden Nazis in Dresden am 13. Februar und dem folgenden Wochenende ihre Aufmärsche an. Seit Jahren führt das Bündnis Dresden Nazifrei Blockaden und damit Versammlungen durch. Ob diese angemeldet sind oder aufgrund der besonderen Struktur des Bündnisses nicht angemeldet werden können, weil es bei einer solchen Art von Versammlungen  keine AnmelderInnen und LeiterInnen geben kann, kann dabei keine Rolle spielen. Es liegen also verschiedene, gleichermaßen vom Versammlungsrecht geschützte Versammlungen vor, von denen ein Teil als Spontanversammlungen zu bewerten sind, weil sie sich aus der aktuellen Situation vor Ort erst ergeben. Wenn aber zwei gleichermaßen geschützte Versammlungen sich gegenüberstehen, kann von einem „Verursachen grober Störungen“ keine Rede sein.

Wenn Repräsentativorgane versagen...

Das BVerfG führt im Brokdorf-Urteil aus: „Demonstrativer Protest kann insbesondere notwendig werden, wenn die Repräsentativorgane mögliche Missstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen.“ Genau dies ist hier der Fall. Die Unfähigkeit und Unwilligkeit staatlicher Stellen, die gewalttätige und bedrohende Hetze von organisierten Nazis einzuschränken, führt dazu, dass die antifaschistische Bewegung diese notwendigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen selbst herbeiführt. Staatliche Stellen haben durch ihre Unterwanderung und teilweise Unterstützung der NPD durch V-Leute eine Situation herbeigeführt, in der diese nicht verboten werden kann, obwohl die Voraussetzungen für ein solches Verbot vorlagen. Die Dresdner Aufmärsche erfolgen direkt aus dem NPD-Spektrum, auch wenn andere Anmelder und Gruppen vorgeschoben werden. In einer Abwägung muss also geprüft werden, ob hier das Kundgeben antifaschistischer Positionen niedriger zu bewerten ist als das Kundgeben nazistischer Positionen von Gruppierungen, die ohne staatliches Versagen verboten wären.

Wie festgestellt handelt es sich bei den Blockaden um eigenständige, ebenfalls geschützte Versammlungen. Eine Auflösung einer solchen Versammlung ist nur möglich, wenn diese insgesamt in erheblichem Maße gegen Gesetze verstößt. Ordnungswidriges Verhalten reicht hierzu in der Regel nicht aus. Wer aber keine Gewalt, beispielsweise im Sinne einer Nötigung, ausübt, begeht mit seinem Verhalten auch keine Gewalttätigkeit im Sinnes des § 21 VersG. Dieser unterscheidet im Wortlaut nicht zwischen einer Gewalttätigkeit und einer groben Störung. Aus rechtssystematischen Gründen kann dies nur bedeuten, dass eine grobe Störung nur vorliegen kann, wenn sie von ihrer Intensität und Gefährlichkeit her einer Androhung von Gewalttätigkeiten entspricht. Eine friedliche Blockade, die keine Gewalttätigkeit darstellt, kann daher keine grobe Störung im Sinne des § 21 VersG darstellen oder verursachen. Die Unmöglichkeit des Losmarschierens ist sicherlich eine Störung, eine grobe Störung kann aber nur eine solche sein, die durch schwerwiegende Mittel bewirkt wird.

Dies entspricht auch der Systematik des Versammlungsgesetzes. In § 29 Absatz 4 VersG wird das Stören des Ablaufes einer öffentlichen Versammlung als Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld belegt. Es gibt also eine Störung einer Versammlung, die nicht „grob“ ist. Voraussetzung für die Ordnungswidrigkeit ist allerdings die wiederholte Zurechtweisung durch VersammlungsleiterIn oder OrdnerInnen. In jedem Fall ist es also erforderlich, dass Blockierende zunächst aufgefordert werden, ihre „Störung“ zu unterlassen.

Störung durch Versammlung

Gerichte haben bislang oftmals Störungen dann als „grob“ begriffen, wenn diese die geplante Durchführung einer Versammlung unmöglich gemacht haben. Das kann aber nicht für diejenigen Fälle gelten, in denen die „Störung“ ihrerseits durch eine Versammlung erfolgt. Für solche Fälle muss daher eine Abwägung zwischen Zweck und Mittel erfolgen. Blockieren sich zwei Demonstrationen, so entspricht dies dem grundgesetzlich garantierten Recht auf Meinungsfreiheit, das auch eine scharfe, konfrontative Auseinandersetzung ermöglichen soll. Für die Anwendung des § 21 VersG als letztes rechtliches Mittel ist in solchen Situationen kein Raum.


Dieser Artikel erschien in der Ausgabe # 46 (Winter 2010/2011) der antifaschistischen Zeitschrift LOTTA.