Einfach nur albern?

Über Protest und die „occupy“-Bewegung

Einfach nur albern – so das Urteil des Fast-Bundespräsidenten Joachim Gauck über die Protestbewegung gegen die weltweite, jeder demokratischen Kontrolle sich entziehende Macht des so genannten Finanzmarktes. Anders die verbalen Reaktionen der RepräsentantInnen des deutschen Parteienkartells: Durchweg wurde hier „Verständnis“ für den Unmut über das spekulative Treiben von Banken und Kapitalfonds geäußert. Aber Ruhe und Ordnung, so fügen die Politprofis stets hinzu, müssten selbstverständlich von den Aufbegehrenden respektiert werden. Ein bisschen Protest als Ventil? Und zugleich die Erwartung, die Unruhe werde sich von selbst wieder beruhigen, es werde ihr der Atem ausgehen, die politische Klasse könne so weitermachen wie bisher.

Business as usual?

Auch die Regierenden wissen längst, dass sie ihr Geschäft auf „systemisch“ veränderte Bedingungen einstellen müssen, und reihenweise purzeln in europäischen Ländern Politiker aus ihren Ämtern. In Griechenland und in Italien wurden sie bereits ersetzt durch „Fachleute“, die Interessen internationaler Banken zu exekutieren haben. Die Bundesrepublik steht demgegenüber erfolgreich da, sie genießt (noch) das Vertrauen des „höheren Wesens“, der geheimnisvollen obersten Instanz „Finanzmarkt“.

Die deutsche Bundeskanzlerin sprach auf dem Parteitag der CDU von „epochalen Veränderungen und Herausforderungen“, von einer „Schicksalsstunde“, der man sich „stellen“ müsse.

Was wandelt sich da, wer fordert wen heraus?

In der Tat haben sich innerhalb der inzwischen global herrschenden kapitalistischen Ökonomie weitreichende „Innovationen“ durchgesetzt, die dramatischen sozialen Problemdruck erzeugen und herkömmliche Funktionen nationalstaat­licher parlamentarischer Politikregulierung außer Kraft setzen. Knapp skizziert:

Seit Jahren schon hat sich bei der Verwertung von Kapital die hochspekulative Finanzsphäre an die Spitze gesetzt gegenüber der Produk­tionswirtschaft und den „realen“ Dienstleistungen. Immer neue „Finanzproduk­te“ bestimmen die Prozesse des Kreditgebens und des Gewinn­machens.

„Volks“-Wirtschaften haben sich nun den Zwängen dieses supranationalen Finanz-„Marktes“ zu unterwerfen, auch den Institutionen, die ihm behilflich sind, wie der Internationale Währungsfond, die Europäische Zentralbank und der Europäische Stabilisierungsfond. „Rettungsschirme“ auf Kosten des gemeinen Steuerzahlers werden dort aufgespannt, wo Banken in diesem turbulenten Wettbewerb „falsch“ gewettet haben, Staatsverschuldung bringt ganze Nationen im Kre­ditgeschäft in Verruf und führt zur Entmündigung ihrer Regierungen. Wo Verlierer sind, fehlt es aber nicht an Gewinnern – Finanzspekulationen erbringen eben auch hohe Profite, verschuldete öffentliche Haushalte zahlen hohe Zinsen, der epochale Aufstieg des Finanz-„Marktes“ bedeutet: riesige Schuldenlast bei den steuerfi­nanzierten öffentlichen Etats – und ebenso riesige Vermögensbildung in privater Hand, bei einer kleinen Bevölkerungsschicht.

Die sozial-materielle Polarisierung hat sich in der jüngsten Vergangenheit auch in den ins­gesamt reichen europäischen Ländern massiv verschärft, es bilden sich Armutszonen he­raus in diesem Kontinent, zwischen seinen Staaten und auch innerhalb seiner hochvermö­genden Länder.

Unter dem Druck, eine mög­lichst hohe Profitrate zu erzielen und andere „Marktteilneh­mer“ nieder zu konkurrieren, werden Löhne gesenkt und Arbeitsverhältnisse „prekarisiert“. In den Staatshaushalten führen „Schuldenbremsen“ zur Demontage bei den Sozialleistungen.

Dass der Parlaments- und Par­teienbetrieb anfällig ist für Einflussnahmen demokratisch nicht legitimierter wirtschaftlicher Interessen, ist nichts Neues. Aber auch in dieser Hinsicht vollziehen sich syste­mische „Innovationen“: Natio­nalstaatliche Parlamente und Regierungen sind hilflos den Vorgaben des internationalen Finanz-„Marktes“ ausgesetzt, Finanz- und Wirtschaftspolitik ist nur noch darauf ausgerichtet, das „Vertrauen“ der gar nicht greifbaren Machtinhaber dieser „Finanzsphäre“ zu gewinnen.

Das Europäische Parlament ist nicht in der Lage, diesen Funk­tionsverlust einzelstaatlicher Demokratie zu kompensieren.

Und so geraten wir in die Epoche der „Postdemokratie“, wie PolitikwissenschaftlerInnen diese sich herausbildende Herr­schaftsform cool benennen.

„Banken in die Schranken“ – als Richtungsangabe einer Pro­testbewegung gegen die schleichende politische Machtergreifung des Finanz-„Marktes“ ist dieser Ausruf plausibel.

„Albern“ ist daran gar nichts. Aber es bringt diese neue, der Taktik von Parteien sich entziehende, außerparlamentarische Opposition auch nicht weiter, wenn politische Routiniers „Verständnis“ für sie äußern.

Die Chance dieses noch tastenden Protests liegt gerade darin, sich den lähmenden Zusprü­chen der konventionellen Po­litikverwaltung fernzuhalten, die Auseinandersetzung zu führen, nicht nur mit den Fi­nanzgewalten, sondern auch mit ihren Dienstleistern in den politischen Institutionen, die Parteiführungsstäbe einbegriffen.

Dass sich mit dem „occu­py“ kein festes und ausformuliertes Programm verbindet, ist kein Nachteil. Wer könnte denn von sich behaupten, er hätte die Patentlösung für die Probleme des Wirtschaftslebens in der Tasche oder auf dem Rechner?

Unsinn ist es, einer Protestbe­wegung vorzuwerfen, sie führe ihre Diskussionen „chaotisch“, ohne festgefügte Regularien. Soll sie sich von der Bertels­mann-Stiftung ein Curriculum verpassen lassen?

Autonomie heißt eben auch: den Lernprozess selbst zu entwickeln, die Formen des gemeinsamen Nachdenkens, des Austausches von Meinungen und der Vereinbarung der nächsten Schritte selbst zu bestimmen. Selbstverständlich enthält das Risiken.

Um einige Risiken zu nennen:

Protest kann sich, durchaus zu Recht auf Unabhängigkeit pochend, zu sehr abgrenzen von ansprechbaren anderen Gruppierungen, sich also unnötiger­weise „verinseln“.

Wer Bewegung in die Gesellschaft bringen will, muss offen sein für Weggefährten, für neue Bündnisse, er wird sich hüten müssen vor Alleinvertretungsansprüchen.

Gesellschaftlich oppositionelle Kräfte wurden und werden häufig vergeudet durch die Fixierung auf den Konflikt im eigenen Umfeld. Protest braucht, wenn er wach machen soll, die Blickrichtung auf die Aktualität und zugleich den Anspruch: Es kann ganz anders zugehen, Alternativen sind möglich. Aber nicht alles, was in Zukunft sein kann und sein soll, ist morgen schon realisiert. Wer sich politisch einmischen will, darf sich nicht in Abwartestellung begeben – einen langen Atem jedoch braucht jede oppositionelle Bewegung.

Das ökonomische System, aus dem die zerstörerischen Operationen des Finanz-„Marktes“ hervorgehen, verschwindet nicht in einem Crash.

Kritik und Widerstand, alternative Entwürfe und Versuche ha­ben eine lange Geschichte – und eine weite Strecke vor sich. Eine Protestbewegung lebt von Zuspitzung, von fantasievoller Aktion – was nicht heißt, sie könnte darauf verzichten, ihre analytischen Fähigkeiten zu entwickeln. „Die Banken in die Schranken“ – damit ist ein Punkt gesetzt.

Er ist auf weiterführende Fragen und Explorationen angewiesen: Welche Strukturen haben Banken und andere Kapi­talfonds in ihre Machtstellung gebracht, wie hat dabei die etablierte Politik mitgespielt, wo liegen Möglichkeiten, in die Selbstherrlichkeit des Finanz-„Marktes“ kurzfristig einzugreifen, was sind Alternativen auf längere Sicht? Das alles sind Überlegungen, die nicht den „Experten“ überlassen bleiben können.

Demokratie heißt auch: „Theorie“ ist kein Privileg akademischer „Exzellenzen“. Das „occu­py“ – warum sollte es nur den Banken gelten?

 

Arno Klönne

 

Prof. Dr. Arno Klönne (* 4.5.1931 in Bochum) ist Soziologe, Politikwissenschaftler und Autor. Seine jugendsoziologische Studie Jugend im Dritten Reich gilt als Standardwerk zur Geschichte der Hitlerjugend und ihrer GegnerInnen.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 365, 41. Jahrgang, Januar 2012, www.graswurzel.net