Alles Kriminelle!?

Jugendgewalt zwischen Realität und Darstellung

Gewalttätige Jugendliche sind in den Medien regelmäßig präsent. Die Rezeption ist dabei einheitlich: Jugendliche begehen mehr Straftaten aggressiver und brutaler. Forderungen nach Strafverschärfungen, schneller und häufiger verhängten stationären Maßnahmen und erleichterten Abschiebungen werden so immer lauter. Was ist da dran?

Unter Jugendkriminalität oder Jugenddelinquenz werden grundsätzlich alle strafrechtlich relevanten Taten erfasst, bei denen die Täter_innen zwischen acht und 21 Jahren alt sind. Erste Daten über Kriminalität kann man den Polizeilichen Kriminalstatistiken (PKS) entnehmen, in der jährlich alle staatlich registrierten Straftaten veröffentlicht werden. Diese Zahlen zeigen das sogenannte „Hellfeld„ der Kriminalität im Gegensatz zum nicht registrierten „Dunkelfeld“. Aus diesen Statistiken geht zwar hervor, dass ein Großteil aller Straftaten von Erwachsenen begangen wird. Allerdings sind vor allem männliche Personen zwischen 14 und 25 Jahren überproportional häufig straffällig bezogen auf ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung. Jugendliche von 14 bis 21 stellen z.B. nur 7% der Bevölkerung dar, aber 23% aller registrierten Tatverdächtigen[1].

Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass die Taten meistens im Bagatellbereich (z.B. kleinere Diebstähle) liegen. Außerdem sind sie regelmäßig impulsiv und ungeplant. Dies führt zu einer hohen Entdeckungswahrscheinlichkeit, was die Statistik ebenso beeinflusst, wie die festgestellte höhere Anzeigewahrscheinlichkeit gegenüber Jugendlichen.

Bei der Debatte um jugendliche Delinquenz müssen zudem drei Aspekte berücksichtigt werden: Jugendliche Straffälligkeit ist „normal“. Fast jede_r begeht ein oder mehrere Straftaten im Jugendalter, wenn auch nicht alle polizeilich erfasst werden. Hinzu kommt, dass dies in jeder sozialen Schicht und zu jeder Zeit festzustellen ist (sogenannte Ubiquität). Der wichtigste Aspekt ist die Episodenhaftigkeit der Kriminalität. Die meisten Jugendlichen beenden mit zunehmendem Alter von alleine ihr kriminelles Verhalten.

Zahlen und Fakten

Bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Entwicklung von jugendlicher (Gewalt-)Kriminalität ergibt sich eine Reihe von Problemen:  Es gibt in Deutschland keine fundierte Grundlage zur Bestimmung einer solchen Entwicklung, denn die polizeilichen Statistiken sind nur eingeschränkt repräsentativ. So kann eine erhöhte Anzeigebereitschaft unter den Opfern dazu führen, dass mehr Straftaten registriert werden, obwohl die absolute Anzahl insgesamt gesunken ist. Eine regelmäßige Dunkelfeldforschung, also eine Erforschung jenseits der PKS, gibt es bislang nicht.

Es gibt eine Reihe von Indizien für und gegen die Annahme einer quantitativen Zunahme von jugendlicher Kriminalität. In den Polizeilichen Kriminalstatistiken wird seit den 1990er Jahren ein Rückgang der Kriminalität mit Ausnahme der Gewaltkriminalität registriert. Insgesamt steigt die Zahl der Tatverdächtigen. Andererseits kann keine vergleichbare Zunahme der Verurteiltenzahlen festgestellt werden. Im Gegenteil wurde eine erhöhte Anzeigebereitschaft und Aufmerksamkeit in der Bevölkerung festgestellt. Die vorhandenen Dunkelfeldbefragungen gehen insgesamt von einem Rückgang der Kriminalität von Jugendlichen aus. Anzunehmen ist also eine Verschiebung der Kriminalität vom Dunkel- ins Hellfeld. Dies bestätigt auch die Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen (Anzahl der registrierten Tatverdächtigen bezogen auf die Bevölkerungszahl), welche von 1984 bis 2001 um 90% angestiegen ist, im Vergleich mit der Anzahl der Verurteilungen, welche in diesem Zeitraum nur um 1,4% angestiegen ist.

Für die qualitative Entwicklung von jugendlicher (Gewalt-)Kriminalität gibt es ebenfalls Anhaltspunkte, die einer „Brutalisierung“ der Jugend, wie es in den Medien dargestellt wird, widersprechen. Zwar werden keine Daten von der Polizei dazu erfasst, aber es lässt sich keine Zunahme der Härte der jugendgerichtlichen Urteile feststellen: Bei einer Zunahme von jugendlicher Brutalität wäre z.B. zu erwarten, dass die Urteile gegenüber Jugendlichen am Strafmaß zunehmen. Dunkelfeldbefragungen können die Behauptungen der Medien nicht stützen. Nimmt mensch beispielsweise die offiziell gemeldeten Fälle von „Raufunfällen“ an Schulen als Grundlage einer Bestimmung der Entwicklung, muss von einem Rückgang der Körperverletzungen an Schulen ausgegangen werden. Die Versicherungsfälle können als valider Indikator für einen Rückgang seit 1997 angesehen werden.

Wahrnehmung jugendlicher Delinquenz in der Gesellschaft

Grundsätzlich ist festzustellen, dass sich die Gesellschaft zunehmend von Kriminalität bedroht fühlt. Das Gefühl der Bedrohung resultiert laut kriminologischen Untersuchungen aus drei Gesichtspunkten: Die affektive Komponente umfasst das allgemeine Gefühl der Sicherheit in der täglichen Umgebung. Hierzu gehört auch die Sorge, selbst Opfer eines Delikts zu werden. Als kognitive Komponente wird die persönliche Einschätzung der Kriminalität und der Kriminalitätsentwicklung bezeichnet. Hierzu gehört die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, selbst Opfer einer Straftat zu werden. Als Resultat kann eine konative Komponente festgestellt werden: Wir reagieren auf Furcht oder der Erwartung Opfer einer Straftat zu werden mit Abwehrmaßnahmen oder Vermeidungsverhalten. Das (Un-)Sicherheitsgefühl kann sich z.B. auf bestimmte soziale Brennpunkte oder Tageszeiten beschränken.

Befragungen führten zu dem Ergebnis, dass sowohl die Einschätzung der Bedrohung in der Gesellschaft als auch die Sorge um die eigene Sicherheit in Deutschland auffallend niedrig ist.[2] Die Wahrnehmung der Entwicklung der Kriminalität ist hingegen stark verzerrt. Der Anteil der schweren Delikte wird deutlich überschätzt und eine Zunahme von Kriminalität entgegen der meisten Forschungen und Statistiken angenommen. Die Vielzahl von Bagatelldelikten ist dabei ausschlaggebender für die Kriminalitätsfurcht und das Bedrohtheitsgefühl als die geschätzte Anzahl der schweren Delikte, wie z.B. Mord.

Auffallend sind die Ergebnisse, wenn sie auf Regionen oder Delikte beschränkt werden. Zwar nehmen die meisten Personen an, dass die Kriminalitätsbelastung bundesweit zunimmt. Je enger bei einer Befragung aber der Kreis um ihre unmittelbare Umgebung gezogen wurde, desto geringer ausgeprägt wird der Anstieg geschätzt. Es besteht also eine allgemeine Einschätzung, die aber von der persönlichen Erfahrung nicht gedeckt wird. Besonders deutlich wird dieses Missverhältnis, wenn mensch die Einschätzung der Bevölkerung der statistischen Entwicklung gegenüber stellt.

Medienspektakel

Eine bedeutsame Rolle bei der gesellschaftlichen Einschätzung der Kriminalität und der Kriminalitätsentwicklung spielen die Massenmedien. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Medien nie die Realität abbilden, sondern die Realität medienspezifisch aufbereiten und das Ergebnis entsprechend präsentieren. Fälle massiver Gewalt (insbesondere an Schulen) finden ein auffallend starkes Medienecho. Sie orientieren sich zwar stets an real vorfindbaren Gewaltphänomenen. Regelmäßig werden Einzelfälle aber detailliert dargestellt und eine Verallgemeinerung vorgenommen. Außerdem führen die angeführten Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik, welche ja nur die staatlich registrierten Fälle enthalten, zu einem verengten Blick auf die Wirklichkeit der Gesamtkriminalität. Als Folge wird ein sowohl quantitativer als auch qualitativer Zuwachs der Gewaltkriminalität suggeriert. Gerade durch die häufige und dramatische Darstellung von kriminellen Vorfällen in den Medien entsteht ein irrealer Eindruck der Kriminalitätsentwicklung. Problematisch ist dabei der Trend der privaten Sender zum sogenannten „Infotainment“, also zur Vermischung von Information und Unterhaltung. Gerade Zuschauer_innen von privaten Nachrichtensendungen überschätzen dabei die Kriminalitätsentwicklung.[4] Die Berichterstattung über Kriminalität ist in diesem Zusammenhang vor allem an der Einschaltquote orientiert und deswegen möglicherweise unangemessen häufig und dramatisch. Dabei ist die Darstellung von antisozialem, kriminellem Verhalten extrem reizgeladen und findet deshalb sowohl bei den Massenmedien als auch bei den Zuschauer_innen besondere Beachtung.

Der Zusammenhang von Mediennutzung und Kriminalitätsfurcht ist wissenschaftlich höchst umstritten. Insbesondere das persönliche Umfeld scheint einen Einfluss darauf zu haben, wie die mediale Darstellung von Kriminalität verarbeitet wird. Anders sieht dies bei der Informationsverarbeitung über die Entwicklung von Kriminalität aus. Da der Zugang zu wissenschaftlichen Quellen über die Entwicklung von Kriminalität eher beschränkt ist, spielen die Medien hier eine zentrale Rolle. Teilweise konnte eine abnehmende Kriminalitätsfurcht und die Annahme eines Anstiegs der realen Kriminalität parallel festgestellt werden.

Vor dem Hintergrund eines enorm hohen Dunkelfeldes der (Gewalt-)Kriminalität junger Menschen können die Medien auf der anderen Seite auch eine positive Reaktion hervorrufen. Die öffentliche Debatte kann ein anderes Problembewusstsein schaffen, zu erhöhter Aufmerksamkeit und veränderten Bewertungsmaßstäben führen. Dadurch kann es zu einer Sensibilisierung kommen, die sich allerdings wiederum in den Statistiken widerspiegelt.

Blinder Aktionismus

Problematischerweise lässt sich bundesweit feststellen, dass im Bereich der Inneren Sicherheit immer weniger Fachpersonal bzw. Wissenschaftler_innen zu Rate gezogen werden. Entscheidend für die Politik sind vielmehr das von den Medien beeinflusste Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und die Erwartungen der Bevölkerung an die Politik. Dies ist vor allem deshalb problematisch, weil eklatante Fehl- bzw. Falschinformationen über den Themenkomplex vorherrschen.

Mit der Angst der Bevölkerung und den Fehlvorstellungen kann ebenso einfach wie erfolgreich Wahlkampf betrieben werden. Auch lassen sich fragliche Sicherheitsgesetze und Einschränkungen der Bürger_innenrechte leichter rechtfertigen. Gerade die Verschärfung des Jugendstrafrechts erscheint sowohl der Politik als auch der Öffentlichkeit sinnvoll, obwohl nicht nur kriminologische und soziologische Forschungen dem widersprechen. Sogar ein Bericht der Innenminister-Konferenz kommt zu dem Schluss, dass Jugendgewalt hauptsächlich soziale und schulische Ursachen habe und ihr deshalb auch dort entgegengewirkt werden müsse.[5]

Als Folge kann es zu einer Verschiebung der effektiven Kriminalitätsbekämpfung hin zu populistischen Maßnahmen kommen. Wenn die gewünschte Verschärfung oder Änderung der Gesetze etc. vorgenommen werden, besteht meist weder bei Medien noch bei der Bevölkerung ein Interesse an deren Auswirkungen. Die Videoüberwachung ist ein gutes Beispiel dafür. Studien in Großbritannien widerlegen zwar den präventiven Charakter des dortigen Videoüberwachungssystems, trotzdem ist die Kameraüberwachung nicht nur in der Politik beliebt. Die Maßnahme ist für die Kriminalitätsbekämpfung zwar sinnlos, aber die Bevölkerung fühlt sich sicherer. Und die Politik hat etwas für ihre Bevölkerung getan. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben beispielsweise auch eine Kameraüberwachung in ihren U-Bahnen eingeführt. Als Ergebnis musste aber eine Zunahme der Straftaten festgestellt werden. Die Untersuchung dazu wollte die BVG nicht freiwillig veröffentlichen.[6]

Ratio!

Es wird auch weiterhin schwer sein bei einem so emotionalen Thema sachlich zu diskutieren. Aber es ist notwendig über Fehlvorstellungen aufzuklären, gerade in Zeiten einer gefühlten ultimativen Bedrohung durch Islamismus, Extremismus, Jugendgangs und Schweinegrippe. Der Angst muss begegnet werden, damit populistische Maßnahmen, die vor allem unsere Privatsphäre angreifen aber dem vorgegebenen Ziel nicht dienlich sind, keine Chance haben. Angesichts vorhandener Einzelfälle von Gewaltkriminalität darf der Blick für das große Ganze nicht verloren gehen. Jugendkriminalität ist keine Bedrohung für die Gesellschaft(-sordnung) und law-and-order Maßnahmen sind keine adäquate Antwort.

 

Jannik Rienhoff studiert Jura und Politik an der Uni Marburg.



[1]              Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts, http://www.bka.de/pks/zeitreihen/pdf/t20_tv_m.pdf (Stand: 22.2.2011).

[2]              Gerhard Spiess, Jugendkriminalität in Deutschland - zwischen Fakten und Dramatisierung, 2010, 7.

[3]              Christian Pfeiffer / Michael Windzio / Matthias Kleimann, Die Medien, das Böse und wir, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2004, 415 (417).

[4]              Michael Windzio / Julia Simonson / Christian Pfeiffer / Matthias Kleimann, Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität in der Bevölkerung - Welche Rolle spielen die Massenmedien?, KFN Forschungsberichte Nr. 103,  24.

[5]              Thomas Götemann, Das Problem mit der Statistik, http://www.stern.de/panorama/jugendkriminalitaet-das-problem-mit-der-statistik-606785.html (Stand: 07.01.2011).

[6]              Peter Mühlbauer, Studie: Videoüberwachung in Berliner U-Bahn brachte keinen Sicherheitsgewinn,  http://www.heise.de/newsticker/meldung/Studie-Videoueberwachung-in-Berliner-U-Bahn-brachte-keinen-Sicherheitsgewinn-183294.html (Stand: 07.01.2011).