Linke Wirtschaftspolitik als Tugendlehre

Gibt es eine innere Verwandtschaft von Ordoliberalismus und »kreativem« Sozialismus?

Sahra Wagenknecht stützt sich bei der Begründung eines modernen Sozialismus auch auf Leitsätze des deutschen Ordoliberalismus. Ist das sinnvoll?

 

1. Rückgriff auf Ideologien des Neoliberalismus

Sahra Wagenknecht verwendet in ihrem neuen Buch (2011) in zustimmender Absicht bestimmte Leitsätze des deutschen Ordoliberalismus, um diesen vom aktuellen Neoliberalismus abzugrenzen. Sie beginnt mit einem kurzen Rekurs auf den deutschen Ordoliberalen Alexander Rüstow, der 1938 den Begriff »neoliberal« als Gegenprogramm zum alten Laissez-faire-Kapitalismus auf einer »internationalen Konferenz in Paris« verwendet habe. Bei dieser Konferenz handelte es sich um das Colloque Walter Lippmann, zu dem die zeitgenössische Elite liberaler (heute neoliberaler) Ökonomen eingeladen worden war. Es war die Geburtsstunde der späteren Mont-Pelerin-Society, also des entscheidenden internationalen Netzwerks neoklassischer und monetaristischer Sozialwissenschaftler und Ökonomen, das in den 1970er Jahren eine Hegemonie innerhalb der tonangebenden Ökonomen und ihren Institutionen durchsetzen konnte und darüber auch die politische Wende zum Neoliberalismus in den USA und Europa eingeleitet hatte (Walpen 2004: 55ff.)

Zu dieser Konferenz waren von den später als Ordoliberale sich kennzeichnenden deutschen Ökonomen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, daneben die Österreicher Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises eingeladen worden. Trotz der internen Differenzen zwischen Rüstow einerseits und von Hayek und von Mises andererseits verband diese neuen Neoliberalen eine gemeinsame Haltung gegen den »Kollektivismus«, worunter nicht nur Nationalsozialismus, Kommunismus, Marxismus, Sozialismus und Sozialdemokratie, sondern später auch Keynesianismus und Wohlfahrtsstaat verstanden wurden. Zu der 1947 dann förmlich gegründeten Mont-Pelerin-Society gehörten dann aus dem Kreis der deutschen Ordoliberalen neben Röpke und Rüstow die von Wagenknecht zustimmend zitierten Walter Eucken und Alfred Müller-Armack. Auch Milton Friedman war Gründungsmitglied der Mont-Pelerin-Society.

Durch die Arbeiten von Ralf Ptak, Dieter Plehwe und insbesondere Bernhard Walpen sind die Beziehungen zwischen der deutschen Variante des internationalen Neoliberalismus und der Mont-Pelerin-Society relativ gut erforscht und publiziert. Die Bemerkung von Wagenknecht zu Beginn ihres Textes, dass »kaum jemand weiß«, dass der Begriff »neoliberal« als Gegenprogramm zum früheren Laissez-faire-Liberalismus entstanden sei, ist schlicht falsch. Es zeigt aber einen bestimmten Grad an wissenschaftlicher Naivität, mit zentralen Aussagen ordo­liberaler Ökonomen einen modernen und kreativen Sozialismus stützen zu wollen.

Dieser Ordoliberalismus verstand und versteht sich selbst nicht nur als entschieden antisozialistisches, sondern auch als antikeynesianisches Programm. Daniel Fusfeld unterscheidet zwei Richtungen dieser neoklassischen Ökonomen. Die ältere kommt aus der österreichischen Schule von Menger und Böhm-Bawerk und wurde fortgeführt von von Mises und von Hayek, in Deutschland von Röpke. Die jüngere Schule identifiziert er mit dem Namen von Milton Friedman. »Sie alle verdammten gleichermaßen das Emporkommen des modernen Sozialismus, des keynesianischen Interventionismus und die Wohlfahrtsmaßnahmen der gegenwärtigen Regierungen. Sie vertraten einen Neoliberalismus mit der Maxime: individuelle Freiheit über alles. Jede Art von Regierungsinterventionen war für sie eine Bedrohung der individuellen Freiheit.« (Fusfeld 1975: 203) Während Röpke in den 1920/1930er Jahren noch offen war für staatliche Interventionen im Rahmen des (deutschen) »Keynesianismus« vor Keynes, wurde er in den 1950er Jahren zu einem scharfen Kritiker des Keynesianismus. (Röpke 1959: 256, 362).

Trotzdem ist das Urteil von Fusfeld zu einfach. Insbesondere Eucken, aber auch Röpke plädierten im Rahmen ihres neoliberalen Konzepts für einen starken Staat, der aber nicht direkt interveniert, sondern für die staatlichen Rahmenbedingungen einer Wettbewerbswirtschaft zu sorgen hat. Rüstow wiederum nimmt innerhalb des Ordoliberalismus eine sozialliberale Sonderrolle ein, er war ein Kritiker des Wirtschafts- oder Markttheologismus der neoklassischen Theorie und deshalb auch anschlussfähig an die neuen keynesianischen Theorien (Rüstow 2001).

Aber an diese Sichtweisen einer sozialliberalen Interpretation des Ordoliberalismus knüpft Wagenknecht gerade nicht an, sie konzentriert sich auf Eucken, Müller-Armack und Erhard, also an die stärker ideologisch auf eine Wettbewerbswirtschaft orientierten Ökonomen. Diese Herangehensweise macht ein Problem deutlich, auf an anderer Stelle hingewiesen wurde (Bischoff/Lieber 2011a, Wendl 2011): eine historisch voraussetzungslose Art der Interpretation tradierter wirtschaftspolitischer Konzepte durch Wagenknecht. Sie lässt sich auf die historischen Bedingungen, unter denen diese Konzepte und Dogmen entstanden sind, nicht ansatzweise ein. Der Ordoliberalismus ist zu verstehen als doppelte Reaktion auf die Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus und die Planwirtschaft des sowjetischen Sozialismus, die beide gleichermaßen von Eucken als Zentralwirtschaften missverstanden worden sind einerseits, und den Laissez-faire-Kapitalismus andererseits, der zur Entstehung der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 geführt hatte. Der Ordoliberalismus sieht sich selbst als ein »dritter Weg« zwischen einem politisch nicht regulierten Liberalismus und dem »totalitären« Kollektivismus nationalsozialistischer und kommunistischer Staatswirtschaften.

Aus diesen historischen Zusammenhängen, die in dieser einfachen Entgegensetzung und in der Vermengung von Nationalsozialismus und sowjetischer Planwirtschaft von vornherein schon falsch waren, löst Wagenknecht dieses Konzept heraus und versucht es zu quasi überhistorischen Normen für eine neue Wettbewerbsordnung im Rahmen eines »kreativen Sozialismus« zu stilisieren. In diesem Zusammenhang nimmt sie auch noch positiv Partei für Ludwig von Mises entschiedene und dogmatische Kritik an der öffentlichen Geld- und Kreditpolitik. Faktisch nimmt sie damit eine neoklassische Position gegen die keynesianische Sicht ein, die den öffentlichen Kredit als Nachfrage- und Beschäftigungsstimulierung ausdrücklich unterstützt hatte (Keynes 1936).

 

2. Der ideologische Charakter des deutschen Ordoliberalismus

Innerhalb des deutschen Ordoliberalismus, der in den 1950er Jahren eine zentrale Rolle für die ideologische Umrahmung des Nachkriegskapitalismus gespielt hatte, gab es erhebliche Differenzen zwischen dem ordnungspolitischen Puristen Eucken, dem die Vorstellung von dem Kapitalismus eigenen Krisenprozessen fremd war, und den Konzepten von Rüstow, Röpke und Müller-Armack, die bestimmte staatliche und insbesondere sozialpolitische Interventionen akzeptieren konnten (Zinn 1992: 34). Aber im Kern handelt es sich bei diesen Vorstellungen, insbesondere in der Fassung Walter Euckens, um Idealisierungen eines zwischen 1929 bis 1945 in eine tiefe Krise geratenen Kapitalismus, der auf sein idealtypisch skizziertes Wettbewerbsmodell zurückgeführt werden sollte.

Der deutsche Soziologe Hans Albert hat dieses Modell, das an dem Gleichgewichtsmodell der neoklassischen Theorie orientiert war, früh als »Modellplatonismus« kritisiert und den ideologischen, d.h. nicht wissenschaftlichen Charakter des deutschen Ordoliberalismus herausgearbeitet (Albert 1966). Mit Modellplatonismus ist gemeint, dass sich die neoklassische Theorie an theoretischen Modellen, aber nicht an der wirklichen Ökonomie, die durch menschliches Handeln bestimmt ist, orientiert. Das ist insofern interessant, weil Albert als Schüler des Philosophen und Marx- und Hegelkritikers Karl Popper gilt und Popper in seinem Engagement gegen den linken und rechten Totalitarismus zu den Gründungsmitgliedern und Ikonen der Mont-Pelerin-Gesellschaft gehörte. Diesen ging es in erster Linie um die Wiederherstellung eines durch den Vorrang des Privateigentums gekennzeichneten und staatlich möglichst wenig regulierten Kapitalismus.

Wagenknecht hat bei ihrem positiven Anknüpfen ausgerechnet Eucken, den Ideologen des deutschen Neoliberalismus gewählt, der im Vergleich zu Rüstow und Röpke, aber auch Müller-Armack als der aus heutiger Sicht überzeugteste und reaktionärste Anhänger eines eher mittelständisch orientierten Kapitalismus eingeschätzt werden muss. Zu keinem der deutschen Neoliberalen hatte von Hayek so enge Beziehungen wie zu Eucken. Insofern gab und gibt es erhebliche Differenzen zwischen den Vertretern des Ordoliberalismus und dem von Wagenknecht ebenfalls mit seinem Begriff von der »schöpferischen Zerstörung« positiv zitierten Joseph Schumpeter. Schumpeter bewegte sich in einem anderen ökonomischen Paradigma als die neoklassische Theorie, deren statisches Gleichgewichtsmodell er scharf kritisiert. (Schumpeter 1926: 75ff.)

Wenn wir heute diese Auseinandersetzungen innerhalb des Dogmenstreits der Ökonomen bewerten müssen, so stehen Schumpeter und Keynes als Ökonomen für den modernen Kapitalismus als einer kreditbasierten kapitalistischen Geldwirtschaft und die damit verbundenen Probleme des Geldes und des Kredits und die Ideologen des Ordoliberalismus für den alten, bereits 1929 gescheiterten Kapitalismus, die die Unterscheidung zwischen dem Kapitalisten als Unternehmer und dem Kapitalisten als Investor oder Rentier nicht akzeptieren wollten. Nach dem 2. Weltkrieg und unter veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen – nämlich einer politisch regulierten Geldwirtschaft in der Folge von Bretton Woods 1944 – konnte diese rückwärtsgewandte ordoliberale Idylle als Ideologie für eine bestimmte Zeit erfolgreich sein, trotz der theoretisch überlegenen Kritik der modernen Keynesianer.

In der innerwissenschaftlichen Konkurrenz hatten sich in den 1950er Jahren bereits die deutschen Keynesianer gegen ihre ordoliberalen Kontrahenten durchgesetzt (siehe Hagemann 2008). Der Ordoliberalismus blieb aber politisch einflussreich, weil er als ideologische Überhöhung und Ausschmückung des »Wirtschaftswunders« der 1950er Jahre wirksam war. Er war das »Wirtschaftsmärchen« des deutschen Konservatismus, das bis heute noch nachwirkt (Schui 2011). Bischoff/Lieber (2011a) haben völlig Recht, wenn sie darauf hinweisen, dass der politisch regulierte Kapitalismus der 1960/70er Jahre, also der Kapitalismus des »Golden Age«, das Resultat harter Klassenauseinandersetzungen und der Folgen eines angespannten Arbeitsmarktes, die deutliche Lohnerhöhungen ermöglichten, und gerade nicht ordoliberaler Ideen war. Gerade weil schon in den 1950er Jahren eine innerwissenschaftliche Kontroverse zwischen den Ordoliberalen und den neuen Keynesianern stattgefunden hatte, konnte sich Ende der 1960er Jahre der Keynesianismus in der Fassung der »neoklassischen Synthese« auch in Deutschland durchsetzen.

1967 wurde dann die ökonomietheoretische und wirtschaftspolitische Rückständigkeit und Provinzialität Deutschlands mit dem Wachstums- und Stabilitätsgesetz und der so genannten antizyklischen Globalsteuerung aufgehoben. Die Frage lautet: Warum orientiert sich eine ausgewiesene Linke wie Wagenknecht theoretisch an einer eher als reaktionär einzuschätzenden neoklassischen Dogmatik und nicht am theoretisch viel ambitionierteren keynesianischen Paradigma in seiner aktuellen Fassung? Die einfache Antwort ist, dass sie weder die Entwicklungsgeschichte des neoklassischen Dogmengebäudes, insbesondere die Geschichte der Mont-Pelerin-Gesellschaft, noch die verschiedenen Varianten der ökonomischen Theorien, die sich auf Keynes berufen, kennt. Diese Antwort ist unbefriedigend.

Die Frage ist komplizierter: Warum kommt eine sich vermutlich selbst als marxistisch verstehende Autorin darauf, Essentials der deutsche Variante des Neoliberalismus und damit auch der neoklassischen Gleichgewichtstheorie zustimmend zu zitieren, um einen modernen (»kreativen«) Sozialismus zu begründen? Wagenknecht geht vermutlich rein intuitiv auf die schwierige ökonomietheoretische Gemengelage der diversen ökonomischen Paradigmen ein und entscheidet sich nicht für den aktuellen Stand der keynesianischen oder post- bzw. monetärkeynesianischen Diskussion (dazu Dullien/Herr/Kellermann 2009, Bofinger 2005), sondern greift auf einen theoretischen und spezifisch deutschen Ladenhüter zurück, den heute noch nicht einmal die moderne neoklassische Ökonomie für interessant hält. In den modernen Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre bzw. der Makroökonomie spielt der deutsche Ordoliberalismus – wenn überhaupt – gerade noch die Rolle einer Fußnote.

 

3. Eine ideologische Gemeinschaft: Ordoliberalismus und die SMK-Theorie?

Das liegt möglicherweise daran, dass es zwischen der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (SMK) und der neoklassischen Theorie in ihrer deutschen Variante bestimmte Gemeinsamkeiten gibt. Das gilt einmal für die Kritik an den so genannten wirtschaftlichen Monopolen, die auf der Basis ökonomischer Überlegenheit den Wettbewerb auf den Märkten einschränken, unter Umständen sogar aufheben können. In den verschiedenen Versionen der SMK wurde aber stets in der Abgrenzung zu »bürgerlichen« Monopoltheorien (zu denen auch die Monopolkritik der Freiburger Schule des Ordoliberalismus gerechnet wurde), die außerökonomische Macht dieser Monopole, d.h. hier ihr Zugriff auf den Staat und seine Entscheidungen herausgehoben. Im Kern haben wir es hier mit einer Variante von Verschwörungstheorien zu tun, die davon ausgeht, dass eine »Finanz­oligarchie« (Lenin) oder »Finanzindustrie« (wie das aktuell Lafontaine formuliert hat) die kapitalistische Weltwirtschaft steuert. Dieser Verschmelzung von ökonomischer Monopolmacht und staatlicher Macht gelingt es, die Vergesellschaftung der privat verausgabten Arbeiten über die Märkte und die Durchsetzung des Werts, als Resultat gesellschaftlicher Arbeit über die Formen des Geldes und des Kredits, in eine bewusst gesteuerte politische Veranstaltung einer Finanzoligarchie umzudeuten.

Guenther Sandleben hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese ideologische Konstruktion auf die Analyse des Finanzkapitals durch Rudolf Hilferding zurückgeführt werden kann. Hilferding hat die verschiedenen Kreislaufformen des kommerziellen und des zinstragenden Kapitals, wie sie Marx entwickelt hatte, miteinander vermengt und war zu dem Fehlschluss gekommen, dass der Kredit, der von Marx als »fiktives«, also eingebildetes, vorgestelltes Kapital analysiert wurde, unmittelbar in industrielles Kapital transformiert wird. Er glaubt, dass der größte Teil des bei den »Banken angelegten Kapitals in industrielles, produktives Kapital (Produktionsmittel und Arbeitskraft) verwandelt und im Produktionsprozess fixiert« wird. »Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital« (Hilferding 1947: 305f.). Damit wird eine Herrschaft des Bankkapitals über das industrielle Kapital behauptet.

Diese Sicht ist falsch. Ob der Kredit als industrielles Kapital erfolgreich fungieren kann, entscheiden nicht die Banken, sondern die reproduktiven Kapitalisten und die Güter- und Arbeitsmärkte. Marx formulierte hier eine völlig andere Sichtweise: »Das zinstragende Kapital bewährt sich nur als solches, soweit das verliehene Geld wirklich in Kapital verwandelt und ein Überschuss produziert wird, wovon der Zins ein Teil.« (MEW 25: 394) Die vermeintliche Herrschaft des Bankkapitals über das Industriekapital zeigt sich hier als gegenseitige Abhängigkeit von Kredit und industriellem Produktionsprozess. Der Bankkredit ist vom Erfolg dieses Produktionsprozesses abhängig, dieser wiederum braucht den Kredit als Investition in eine ökonomisch offene Zukunft. Der ökonomische Erfolg des industriellen Kapitals entscheidet darüber, ob das »fiktive Kapital« des Kredits zu wirklichem Kapital wird.

Nach Hilferding hat sich der orthodoxe Marxismus überwiegend zustimmend auf diese Konstruktion einer Verschmelzung von Bank- und Industriekapital zum Finanzkapital bezogen. Lenin ist noch weitergegangen. Er hat behauptet, dass im Imperialismus die »Warenproduktion, obwohl sie noch herrscht und als Grundlage der gesamten Wirtschaft gilt, in Wirklichkeit bereits untergraben ist und die Hauptprofite den Genies der Finanzmachenschaften zufallen.« (Lenin Werke, Bd. 22: 211). Faktisch wurde damit die Geltung des Wertgesetzes, also der Vergesellschaftung der privat verausgabten Arbeiten über Wert und Geld, radikal in Frage gestellt und durch eine Theorie der Machenschaften der »Finanzgenies« zu ersetzen versucht.

Damit hatte Lenin auch theoretisch den Boden der Marxschen Werttheorie verlassen und war auf eine soziologische Theorie der Macht übergegangen (siehe Projekt Klassenanalyse 1972: 379). Eine solche weitgehende Vereinfachung und zugleich grobe Verfälschung komplizierter und nicht durchschaubarer ökonomischer Prozesse hatte wegen dieser Versimpelung und der damit verbundenen Personalisierung der Agenten dieses Prozesses große Chancen, in der Arbeiterbewegung populär zu werden und es bis heute zu bleiben.

Dass Marx eine solche Sicht als Kapitulation vor der »okkulten Macht« des zinstragenden Kapitals und damit als spezifische Mystifikation des Kapitals, also als Form, in der sich das Kapital »verkehrt« oder »verhüllt« darstellt, scharf kritisiert hat (MEW 25: 622), ist bis heute überwiegend nicht zur Kenntnis genommen worden. Sandleben merkt dazu an, dass »alle Irrtümer, die unter der Theorie vom Finanzkapital zusammengebracht werden, ihren Ursprung in den merkwürdigen Formen (haben), die das zinstragende Kapital erzeugt« (Sandleben 2003: 64). Marx spricht vom zinstragenden Kapital als der »Mutter aller verrückten Formen« (MEW 25: 483).

In dieser Transformation der Marxschen Theorie einer bewusst und zugleich unbewussten Vergesellschaftung der Arbeit durch die Konkurrenz der Unternehmen untereinander zu einer Theorie der Macht der handelnden ökonomischen Eliten, die den Staat für ihre Zwecke instrumentalisieren und damit die Konkurrenz weitgehend auszuschalten scheinen, liegt eine gemeinsame Schnittstelle mit dem Ordoliberalismus. Die Verbindung von ökonomischer und politischer Macht führt aus dessen Sicht zur Einschränkung bzw. Ausschaltung des Wettbewerbs; die staatliche Rahmensetzung für alle Wirtschaftsakteure, die diese zum Wettbewerb auf den Arbeits-, Güter und Kapitalmärkten zwingt, funktioniert nicht mehr in ausreichendem Maße. Insofern muss eine neue »Ordo«, also eine neue staatliche Rahmensetzung des Wettbewerbs geschaffen werden.

Für eine solche oberflächliche und falsche Sicht auf das Kapital als bewusst handelndes Finanzkapital und das reproduktive Kapital dominierendes Subjekt gibt es viele auf den ersten Blick plausible empirische Belege, z.B. die führende Rolle der Deutschen Bank bei der Rettung des deutschen Bankensektors nach der Insolvenz von Lehman-Brothers im September 2008. Sicher sind hier nicht nur einzelne Politiker, sondern Regierungen insgesamt den Vorschlägen aus den Führungsetagen des Bankensektors gefolgt – in erster Linie auch deshalb, weil sie die Prozesse auf den Finanzmärkten generell nicht mehr verstanden haben. Das heißt aber nicht, dass die Finanzmärkte von einer bestimmten Manageroligarchie bewusst im Sinne eines Bewusstseins oder echten Wissens über den ökonomischen Gesamtzusammenhang gesteuert werden.

Dieses Bewusstsein über den Gesamtzusammenhang ist gerade nicht vorhanden. Die sog. Finanzoligarchie handelt aus ihrer in der neoklassischen Theorie befangenen Sicht heraus eher krisenverschärfend, weil sie nur ihren einzelwirtschaftlichen Interessen folgt und bis heute den Charakter des Kredits als fiktives Kapital nicht verstehen kann ( siehe Vogl 2010, Minsky 1982). Sicher gibt es einzelne Außenseiter, wie z.B. George Soros und eine Reihe von keynesianisch orientierten Ökonomen, die das Herdenverhalten auf den Finanzmärkten und die Irrationalität dieser Marktprozesse insgesamt kritisieren und auf die Verselbständigung gegenüber gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen hinweisen.

Wir müssen hier ein Stück zurückschauen, wie sich aus der Kritik der politischen Ökonomie eines Ricardo und Marx als Gegenposition die Grenznutzentheorie und darauf aufbauend die neoklassische Gleichgewichtstheorie entwickelt und letztlich auch als herrschende Lehre und geltendes Dogma durchgesetzt hat, einmal als von Marx im 19. Jahrhundert bereits kritisierte »Vulgärökonomie«, zum zweiten als systematische Verteidigung der sozialen Ungleichheiten einer kapitalistischen Ökonomie. Mit diesem Paradigmenwechsel ist zugleich die arbeitswerttheoretische Fundierung des Kapitals verlorengegangen und dem Kapital wurde insgesamt die Fähigkeit der Selbstvermehrung zugesprochen, wie ein Birnbaum, der Birnen trägt, wie Marx süffisant angemerkt hat.

Marx hat im Rahmen der Kritik der Politischen Ökonomie gerade zu zeigen versucht, wie sich die ökonomischen Zusammenhänge und Prozesse in den Augen der Akteure des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses »verkehrt« oder »mystifiziert«, also anders als sie tatsächlich sind, darstellen und dass diese »Selbstverrätselungen« und Verdrehungen die Grundlage für den apologetischen Charakter der von ihm als »Vulgärökonomie« bezeichneten herrschenden ökonomischen Theorie bilden.

Die traditionelle Lesart des frühen Marxismus hat diese Seite der Marxschen Theorie geradezu systematisch nicht verstanden und nicht verstehen können, weil sie sich gezwungen sah, der völlig falschen Interpretation der Marxschen Theorie durch Kautsky, Hilferding und Lenin zu folgen. Insofern ist sie trotz ihrer Erkenntnis der Mehrwertproduktion und ihrer politischen Fixierung auf die Arbeiterklasse als Produzent des Mehrwerts und als revolutionäres Subjekt in der Qualität ihrer Erkenntnisse so eine Art »proletarische« Vulgärökonomie geblieben. Sie stellte sich auf die Seite der mehrwertproduzierenden Arbeiterklasse und prangerte die Ausbeutung an.

Diese »Verkürzung des Marxismus auf eine einfache Theorie des Exploitationsprozesses mit einem korrespondierenden emphatischen Begriff von Klasse und Klassenkampf hat ein angemessenes Verständnis nicht nur der Ökonomie, sondern auch der Gesamtlebensverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft erfolgreich erschwert und führte immer wieder zu zeitdiagnostischen Fehlurteilen bezogen auf die Schranken und die Elastizität des Kapitalismus.« (Bischoff/Lieber 2011b: 198)

Sie musste daher, um kapitalistisches Handeln erklären zu können, bestimmten Teilen des Kapitals oder bestimmten Kapitalfraktionen eine gesamtwirtschaftliche Rationalität und eine entsprechende Strategie unterstellen. Daraus resultierte dann die Personifizierung kapitalistischen Handelns und die Vorstellung, dass bestimmte Figuren über die Instrumentalisierung des Staates für ihre ökonomischen Zwecke in der Lage sind, die nationale Wirtschaft und später die Weltwirtschaft insgesamt zu steuern.

Diese Sichtweise ist weit über die historische Arbeiterbewegung und ihre gegenwärtigen Reste hinaus nach wie vor populär, weil sie auch der Sehnsucht nachkommt, bestimmte komplexe ökonomische Prozesse, die nicht verstanden werden, so weit zu vereinfachen, dass aus dieser Reduktion von Komplexität die vermeintlichen Täter und Opfer identifiziert werden können. In einer solchen Sicht regieren dann ökonomisch begründete Ideen die Welt und die theoretisch rückständige Wettbewerbs-Idylle des deutschen Ordoliberalismus wird als vermeintlich fortschrittliche Idee, die als gegen den modernen finanzmarktgesteuerten Kapitalismus gerichtet erscheint, gründlich missverstanden.

 

4. Krisensteuerung oder »linke« Ordnungspolitik?

Die wirkliche Situation ist ein Stück komplizierter: Einmal sind die Banken auf die Geldpolitik der Zentralbank und die Stützungsaktionen der jeweiligen Nationalstaaten angewiesen, wie das die Finanzmarktkrise 2007/2008 klar gezeigt hat. Andererseits erwecken gerade die kreditfinanzierten Garantien der Banken durch den Staat den Eindruck, hier würden die Banken den jeweiligen Wirtschaftsgesellschaften einen ökonomischen Tribut im Sinne einer direkten ökonomischen Umverteilung abverlangen. Zentralbank und Nationalstaaten vergeben aber kein wirkliches Kapital, sondern Kredite als Liquidität über eine Geldschöpfung oder Schaffung neuer Liquidität, sozusagen »aus dem Nichts« (Schumpeter 1926: 109). Schumpeter hat hier eine extreme Sicht eingenommen, die hinter die Analyse des Kredits durch Marx zurückfällt, aber in der aktuellen Debatte um die Rettung der Währungsunion wieder populär geworden ist. Ob aus dieser Geldschöpfung, von Marx als »fiktives Kapital« bezeichnet, wirkliches Kapital wird, entscheidet sich erst in den kapitalistischen Produktionsprozessen und in der Staatstätigkeit der Zukunft. Dabei ist der Staatskredit ebenfalls »illusorisch, fiktives Kapital« (MEW 25: 483).

Marx unterscheidet hier zwei Formen, einmal den Teil des Geldkapitals, der »rein fiktiv« (MEW 25: 488) ist; der andere Teil besteht aus den Reservefonds der Banken und dahinter der Zentralbank, der den Ersatz des Metallgeldes durch Papiergeld ausdrücken soll. Mit der Aufhebung der Golddeckung ist dieser Zusammenhang zwar formell verlorengegangen, aber in einer vermittelten Weise macht er sich immer noch geltend. Die Golddeckung ist kein Maßstab der Geldschöpfung mehr, aber damit haben sich Geld und Geldkapital nicht vollständig vom Gesamtreproduktionsprozess des Kapitals emanzipiert. Das Gesamtvolumen an fiktivem Kapital bleibt in seiner Transformation zu wirklichem Kapital in der letzten Konsequenz auf die Angebotsbedingungen des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses, aber auch auf die Anforderungen des staatlichen Konsums und dessen Finanzierung über Steuern angewiesen. Die verschiedenen Formen des zinstragenden Kapitals sind gerade keine »Luftbuchungen« (Wagenknecht 2011: 82), sondern Versprechungen für und Anforderungen an die zukünftige gesellschaftlichen Wertschöpfung. Auch hier hat der Kredit eine doppelte Funktion. Einerseits stimuliert und erweitert er den kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozess, andererseits machen sich seine Verwertungs- oder Zinsansprüche möglicherweise als Hemmnis der wirtschaftlichen Dynamik geltend.

Das hat für die Grundüberlegungen einer alternativen Wirtschaftspolitik entscheidende Folgen: Es geht einmal auch um eine ökonomisch erfolgreiche Steuerung der Krisenprozesse, d.h. um die Verhinderung einer prozyklischen Spirale nach unten. Die Eigentumsfrage bildet dafür gerade nicht den entscheidenden Zugang. Der Staatskredit als Instrument der Nachfragesteuerung und zur Investierung öffentlicher Investitionen bleibt notwendig und insofern ist die vereinbarte Schuldenbremse ein ökonomisch hoch riskantes Instrument. Das Problem des Staatskredites resultiert aus der Zinsbelastung des Staates durch die Staatsschulden. Diese kann durch eine Begrenzung der Zinsraten und eine direkte Finanzierung der Staaten durch die Zentralbank eingeschränkt werden, zugleich können Zinsen und andere Vermögenseinkommen besteuert werden. Aber auch für den Fall, dass die Zentralbank als Kreditgeber der letzten Instanz fungiert, muss die ökonomische Verwendung dieser Kredite zur Konjunkturstimulierung und Nachfragestützung beachtet werden.

Wagenknecht versucht dagegen, auf die schwere Krise des gegenwärtigen Kapitalismus mit nach links gewendeten Prinzipien oder Regeln, die sie der Ideenwelt des Ordoliberalismus entlehnt, zu reagieren. Diese Herangehensweise oder Methodik ist idealistisch, weil sie Ideale und Wettbewerbsutopien gegenüber den wirklichen Verhältnissen geltend zu machen versucht. In diesem Zusammenhang hängt auch ihre Skizze zukünftiger Formen des Unternehmenseigentums, wie öffentliches Eigentum oder Belegschaftseigentum, völlig in der Luft. Mit diesem Vorgehen verbindet sich der fast vollständige Verzicht auf den Versuch, die gegenwärtigen Krisen analytisch zu erfassen. Auch beim Rückgriff auf bestimmte theoretische Ansätze argumentiert sie widersprüchlich. So plädiert sie für das Bild der »schöpferischen Zerstörung« bei Schumpeter und lehnt dessen Vorschlag einer Geldschöpfung aus dem Nichts, der damit eng zusammenhängt, wiederum vehement ab. Andererseits plädiert sie wiederum für eine direkte Staatsfinanzierung über die Zentralbank, also für einen theoretischen Ansatz, der sich zustimmend auf Schumpeters Geldschöpfung aus dem Nichts berufen kann.

Sowohl die neoklassische Gleichgewichtstheorie als auch deren ordoliberale Variante kennen keine dem Kapitalismus immanente Krisen. Ihre Orientierung an einem quasi-naturwissenschaftlichen Gleichgewichtsmodell schließt die Vorstellung einer endogenen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus systematisch aus. Ökonomische Krisen entstehen in dieser Sicht aus dem fehlerhaften Verhalten der Akteure der Wirtschaftsprozesse. Deswegen auch die Nähe zu einer Zentrierung wirtschaftlichen Handelns auf die Akteure der Marktprozesse und die daraus resultierende, oft personalisierende Kritik am Verhalten dieser Akteure, was dann pseudokritisch in Begriffe wie »Finanzhaie« oder »Finanzmafia« zu wenden versucht wird. Die Marxsche Herangehensweise, Personen als »Personifikation ökonomischer Verhältnisse (…), als Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interesse« (MEW 23: 16) zu sehen und zu zeichnen, wird damit ebenso verfehlt wie die darin angelegte Verkehrung einer »Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Produktionsverhältnisse«, die die »Religion des Alltagslebens« (MEW 25: 838) bestimmen. Es ist daher konsequent, dass Wagenknecht die Rolle des bloß zinstragenden Kapitals nicht bestimmen kann und den Kredit, also fiktives Kapital, entweder mit wirklichem Kapital vermengt oder im Gegensatz dazu als bloße Luftbuchungen versteht.

Trotz der unterschiedlichen theoretischen Paradigmen (Arbeitswert- versus Grenznutzentheorie) stimmen die neoklassische Theorie und der traditionelle Marxismus bei dieser Unterschätzung der Rolle des Geldes und im folgenden des Kredits überein. Beide Theorien sind dadurch geprägt, dass sie der Mystifikation durch die Form des zinstragenden Kapitals aufsitzen. »Die selbständige Bewegung des Werts dieser Eigentumstitel, nicht nur der Staatseffekten, sondern auch der Aktien, bestätigt den Schein, als bildeten sie wirkliches Kapital neben dem Kapital oder dem Anspruch, worauf sie möglicherweise Titel sind. Sie werden nämlich zu Waren, deren Preis eine eigentümliche Bewegung und Festsetzung hat.« (MEW 25: 485). Diese Verwechselung des fiktiven Kapitals mit dem wirklichen, im Produktionsprozess fungierenden Kapital führt dann konsequent dazu, dass radikale Umverteilungsmaßnahmen insbesondere gegen die Banken und institutionelle Anleger gefordert werden. Die Bankenkrise erscheint daher nicht als Anlage- und Verwertungskrise des zinstragenden Kapitals, sondern als Resultat »horrender Profite« (Wagenknecht in einer Presseerklärung v. 29.9.2011) der Banken und anderer Finanzmarktakteure.

Auch hier ergibt sich eine interessante Übereinstimmung mit der neoklassischen Theorie: Die Krise ist das Resultat des Handelns von »Sündenböcken«. Aus der Sicht der einen Theorie sind das die schlampigen Schuldenstaaten, aus der Sicht der anderen die gierigen Banken. Auch das belegt den quasi-religiösen Charakter, der sowohl den Ordoliberalismus als auch den »kreativen Sozialismus« prägt. Aus einer solchen Sicht heraus ist es dann nur konsequent, neben einem Schuldenschnitt die Enteignung und Verstaatlichung der privaten Banken zu fordern, weil die Ursache für die krisenhafte Entwicklung in der Form der privaten Aneignung einer gesellschaftlichen Produktion gesehen wird. Die spezifisch kapitalistische Vergesellschaftung der privat verausgabten Arbeiten über die Ware-Geld-Beziehung gerät bei einer solchen Annahme aus dem Blickfeld. Sie erscheint umgekehrt als eine akzeptable Gesellschaftlichkeit, deren Wertschöpfung nur falsch und ungerecht angeeignet wird.

Aber auch die Probleme der Banken und institutionellen Anlegern (z.B. öffentlich-rechtlichen Pensionskassen) in öffentlichem Eigentum werden übersehen. So sind die deutschen Landesbanken in der Regel im Eigentum der Bundesländer und der Sparkassen und haben dramatische Verluste hinnehmen müssen. Im internen Wertpapierhandel der Banken und Fonds untereinander haben sie auffallend schlecht abgeschnitten. Dass Sparkassen und Genossenschaftsbanken auf den ersten Blick besser durch die Finanzmarktkrise gekommen sind, verdanken sie der Tatsache, dass hier die Landesbanken und Dachinstitute die Rolle des Investment-Banking übernommen hatten.

Eine wirksame staatliche Steuerung des Krisenprozesses setzt voraus, dass die Akteure eines solchen Prozesses über ein entwickeltes Verständnis der Rolle von Geld und Kredit im modernen Kapitalismus verfügen. Marx hat dazu zwar grundlegende Einsichten über die Verdoppelung des Kapitals in reproduktives und zinstragendes Kapital fixiert, aber Einsichten, die überwiegend die Form von Fragmenten eines noch offenen Forschungsprozesses waren (siehe MEW 25: 350ff.: MEGA 4.II: 411ff). Damit sind wir bei Ökonomen wie Keynes und Minsky und der auf deren Arbeiten basierenden neueren keynesianischen und monetärkeynesianischen Literatur. Ohne die Kenntnis dieser Geld- und Kredittheorien gibt es auch keine Antwort auf die aktuelle Finanzmarktkrise.

Aber es geht nicht nur um das Verständnis von Geld und Kredit, sondern um die hinter diesen Formen sich verbergenden Prozesse von Produktion und Distribution der Wertschöpfung. Ein wesentlicher Faktor für die Aufblähung der Akkumulation des Geldkapitals ist die ungleiche Entwicklung der Einkommen in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und die daraus resultierende Wachstumsschwäche des Gesamtreproduktionsprozesses. Dieses Problem kann theoretisch sowohl als Unterkonsumtions- oder Nachfragekrise, als auch als Krise wegen der Überakkumulation von Kapital und einer daraus resultierenden überbordenden Geldkapitalakkumulation analysiert werden (Krüger 2010). Beide Krisenerklärungen widersprechen sich nicht, obwohl sie in den neomarxistischen Krisendebatten der 1970er Jahre oft als konkurrierende Erklärungsmuster interpretiert worden sind ( siehe Hoffmann 1983). Eine systematische Integration beider Krisentypen ist auf einer theoretischen Ebene aber in den 1970er Jahren bereits mehrfach versucht worden (siehe Bader u.a. 1975, Krüger 2010).

Solche Fragestellungen sind in den aktuellen politisch-ökonomischen Debatten nur am Rande angegangen worden. Dahinter steht das Problem, dass weder die Partei DIE LINKE noch die politische Linke (einschließlich SPD, Grünen und Gewerkschaften) insgesamt über eine konsistente ökonomische Theorie verfügen – weder über eine im Rahmen des keynesianischen oder monetär-keynesianischen Paradigmas, noch über eine marxistische, die auf der Höhe der Zeit ist. Dieses Defizit ist nur wenigen bewusst, weil politische Ökonomie permanent mit einer politischen Moral- oder Tugendlehre verwechselt wird. Und, weil diese Tugendlehre die Grundlage für einen »Wir-wissen-es besser-Gestus« bildet, der dazu führt, dass sich die Frage nach einer gründlichen Analyse der Krisenmomente und ihrer Ursachen nicht mehr stellt. Mit dem Text von Wagenknecht wird eine solche Tugendlehre präsentiert, ein Verschnitt von Hilferdings Theorie des Finanzkapitals mit aus durchaus ökonomiekritischer Perspektive interpretierten Grundsätzen des deutschen Neoliberalismus der späten 1940er und frühen 1950er Jahre. Das reicht einigermaßen für die Orchestrierung der durchaus vorhandenen Empörung, insbesondere der aus den bürgerlichen Ständen, die diese tradierte liberale Tugendlehre immer schon gut fanden.

 

Literatur

Albert, Hans (1966): Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Frankfurt /M.

Bader, Veit-Michael u.a. (1975): Krise und Kapitalismus bei Marx, Frankfurt/M.

Bofinger, Peter (2005): Wir sind besser, als wir glauben, Wohlstand für alle, München

Bischoff, Joachim/Lieber, Christoph (2011a): Vom unproduktiven Kapitalismus zur sozialistischen Marktwirtschaft, in: Sozialismus 7-8

Bischoff, Joachim/Lieber, Christoph (2011b), Konkurrenz und Gesellschaftskritik, in: Bonefeld, Werner/Heinrich, Michael (Hrsg.) (2011): Kapital & Kritik, Nach der »neuen« Marx Lektüre, Hamburg

Dullien, Sebastian/Herr, Hansjörg/Kellermann, Christian (2009): Der gute Kapitalismus, Bielefeld

Fusfeld, Daniel (1975): Geschichte und Aktualität ökonomischer Theorien, Frankfurt/M.

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Michael Wendl ist Mitherausgeber von Sozialismus