Erfrischend selbstironisch

Libertär-sozialistische Jugendzeitschriften. Eine historische Einordnung der utopia

Dieser Ausgabe der Graswurzelrevolution liegt die Nr. 21 der gewaltfrei-anarchistischen Jugendzeitung utopia bei. Die utopia-Redaktion hat mich gebeten, ihr Zeitungsprojekt mit einem Artikel historisch einzuordnen und die Geschichte der libertären Jugendzeitungen in Deutschland zu skizzieren. Die utopia wird vorläufig eingestellt. Wir danken dem utopia-Kollektiv für 4 ½ Jahre selbstorganisierte Arbeit an einer großartigen Jugendzeitung. (GWR-Red.)

„Hallo liebe Kinder,

wißt ihr schon, wir bauen jetzt P a n z e r k r e u z e r.

Ja, sagt einmal, woher kommt denn das Geld dazu, wo wir doch nötiger Wohnungen bräuchten, als schwimmende Mordmaschinen?

Das Geld zum Bauen müssen die Arbeiter durch Steuern und Zölle auf Lebensmittel aufbringen.

Erst muß der Arbeiter das Geld aufbringen, dann beutet ihn der Unternehmer mit seinen sauerverdienten und abge­hungerten Steuergroschen aus, und schließlich wird er noch mit denselben Mordwaffen, d i e  s i e  s e l b e r  b a u t e n, u m g e b r a c h t. Ist das nicht ein herrlicher Fortschritt im 20. Jahrhundert?“

 

Mit diesem Text machte 1928 die fünfte Ausgabe von Kinderwil­le auf. Dieses „Organ der Freiheitlichen Kindergruppen“ ist illustriert mit dem Linoleumschnitt „Proletarier-Knabe“ von Artur Streiter.

Und auch „Religion ‚tut not!’ Ein wahres Geschichtchen“ findet sich auf der Titelseite: „Tante Anni ist zu Besuch gekommen und läßt es sich angelegen sein, den fünfjährigen Bubi in die biblischen Geschichten einzuführen, denn sie glaubt, daß ‚seine religiöse Erziehung’ vernachlässigt sei! So liest sie ihm eines Tages von der Hochzeit zu Kanaa vor: ‚Und Jesus sprach zu seiner Mutter: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht gekommen!’ – Worauf Bubi in strahlender Bewunderung herausplatzt: ‚Au Mensch, der war aber frech, was?!’

Liebe Kinder! Solltet Ihr den Inhalt nicht verstanden haben, so schreibt an die Redaktion.“

Wie dieses Beispiel zeigt, war der Kinderwille erfrischend selbstironisch.

Er wurde bis 1929 von der anar­chosyndikalistischen FAUD-Mannheim herausgegeben.

Als Nachfolgeblatt erschien bis „mindestens 1931“ in Leipzig das überregional verbreitete Proletarische Kinderland, das sich als Organ der Freien Schulidee verstand. Es kämpfte „als einzige atheistisch-sozialistische Kinderzeitung Deutschlands ... gegen die Kulturreak­tion, besonders gegen die Schulreaktion, für eine freie, sozialistische Gesellschaft und Er­ziehung“. 

Die Anarchismusforscher Ul­rich Klan und Dieter Nelles haben in „Es lebt noch eine Flamme“, dem Standardwerk über den Rheinischen Anarchosyn­dikalismus in den 1920er und 1930er Jahren, auch das Proletarische Kinderland beschrieben:

„Sie wurde zwar von erwachsenen und älteren Jugendlichen finanziert, gedruckt und herausgegeben, enthielt aber zu großen Anteilen Kinderkor­respon­denzen, Fahrtenbe­richte, Anprangerungen von schulischen und familiären Mißständen usw.“

Kinderzeitungen waren auch in den 1920er Jahren ungewöhnlich. Allerdings gab es damals eine lebendige anarchistische Jugendbewegung, die viele lesenswerte Jugendzeitschriften hervorgebracht hat.

 

Anarchistische Jugendzeitungen 1919 bis 1933

In seinem Opus Magnum „Die anarchistische und anarcho-syndikalistische Jugendbewegung 1919 – 1933“ schreibt der Anarchismusforscher Ulrich Linse, dass die anarchistische Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg „aus dem Selbstbewusstsein einer antimilitaristisch-revolutionär eingestellten Kriegsjugendgenera­tion“ entstand und „höchstens 3000 bis 5000 Mitglieder“ hatte.

Ab 1918 hatten sich in Deutschland – weitgehend autonom von den libertä­ren Massenorganisationen, aber doch stark von ihnen beeinflusst – eine anarchistische Jugendbewegung, eine libertäre Alltags- bzw. „Gegenkultur“ entwickelt.

 

Ernst Friedrich – libertärer Antimilitarist und Jugendagitator

Wer sich mit der Geschichte der anarchistischen Jugendzeitun­gen während der Weimarer Republik beschäftigen möchte, kann die Lebensleistung des Anarchopazifisten Ernst Frie­drich (1894-1967) nicht ignorieren.

Ernst Friedrich wurde während des Ersten Weltkriegs wegen Sabotage zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Danach beteiligte er sich an der Organisie­rung der Freien Jugend in Ber­lin, die ab 1923 in der Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands (SAJD) auf­ging. Ein Schwerpunkt dieser Bewegung war der libertäre An­timilitarismus.

1921 gab der Berliner Agitator den „Proletarischen Kindergarten. Ein Märchen- und Lesebuch für Kinder“ heraus.

Durch sein ab 1924 global verbreitetes antimilitaristisches Buch „Krieg dem Kriege“ wurde Ernst Friedrich weltberühmt. Mit Anwachsen der Friedensbewegung in den frühen 1980er Jahren erschien dieses Foto-Buch erneut mit 100.000er Auflagen, diesmal im Frankfurter Verlag Zweitausendeins. Als Schüler hat mich und viele andere dieses erschütternde Werk 1981 politisiert und in antimilitaristischen Überzeugungen bestärkt. 

1925 eröffnete Ernst Friedrich das Anti-Kriegs Museum in Berlin. Es wurde 1933 von den Nazis zerstört und zu einem SA-„Sturmlokal“ gemacht. Erst 1982 konnte es in Berlin wieder aufgebaut werden.

Ernst Friedrich verantwortete von 1919 bis 1926 u.a. die Freie Ju­gend, die als „Jugendschrift für herrschafts­losen Sozialismus“ (Untertitel) mit Auflagen bis zu 40.000 erschien.

Von 1925 bis 1929 verantwortete und setzte er die anarchistische Wochenzeitschrift Die Schwarze Fahne.

Laut Henry Jacoby war Ernst Friedrich ein „Apostel einer radikalen Jugendbewegung, Ver­künder eines herrschaftslosen Sozialismus (und) aggressiver Antimilitarist“.

Seinem Freund Erich Mühsam und anderen politischen Gefangenen widmete Ernst Friedrich 1924 mit Freie Jugend Nr. 7 ein Sonderheft.

1930 wurde der frühzeitig von den Nazis Malträtierte wiede­rum wegen seiner politischen Aktivitäten zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Nach dem Reichstagsbrand wurde er am 28. Februar 1933 verhaftet. Nach seiner Freilassung floh er im Dezember 1933 durch Europa.

1936 eröffnete er in Brüssel ein neues Museum, das allerdings die deutschen Truppen nach ihrem Einmarsch 1940 auch zerstörten.

In Frankreich geriet Ernst Frie­drich im Juni 1940 in Gefangenschaft und konnte erst 18 Monate später in den nicht von der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs (unter dem Vichy-Regime) fliehen. Dort wurde er 1943 von der Gestapo aufgespürt. Nach seiner erneuten Flucht schloss er sich der Résistance an. 1954 baute er in Le Perreux-sur-Marne bei Paris ein internationales Jugendbegeg­nungszen­trum auf.

 

Die Blüte der anarchosyndikalistischen Jugendmedien in Deutschland

Weitere anarchistische Jugendzeitschriften waren zum Beispiel die Re­volutionäre Tat (Dresden, 1926), Die junge Menschheit (Berlin, 1920-1923), Flammenzei­chen (Dresden, 1923), Junge Rebellen (Rheinhausen, 1924) und Der freie Mensch (Berlin, 1924).

Als monatliches „Organ der Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands“ und mit einer Auflage von 2.000 bis 5.000 erschien von 1923 bis 1931 Junge Anarchi­sten (Leipzig/Dresden/Berlin/Offenbach/Bautzen). Ihr Selbstverständnis hat die Redaktion wie folgt zusammengefasst:

„GEGEN Militarismus, Kirche, Staatsschule, gegen jede Autorität, wirtschaftliche und geistige Knechtschaft. FÜR den konsequenten Antimilitarismus, Atheismus, Freiheit in Erziehung und Bildung; für ei­ne freiheitlich-sozialistische (anarchistische) Gesellschaft“.

Ein weiterer Schwerpunkt der 120 Ortsgruppen der Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands (SAJD) und ihrer Medien war der Kampf gegen den aufstrebenden Faschismus.

Die FAUD/S nannte sich 1921 in Freie Arbeiter Union Deutsch­lands/Anarcho-Syndikalisten (FAUD/AS) um. Sie hatte als Gegen­pol zu den zentralistischen und reformistischen Gewerkschaften An­fang der 1920er Jahre mit bis zu 170.000 Mitgliedern ihren or­ganisatorischen Höhe­punkt.

Eine ihrer wichtigsten Pu­blika­tionen war Der Syndikalist, Nachfolger der bei Kriegsanfang 1914 ver­bo­tenen Einigkeit. Trotz zahlreicher Verbote erreichte Der Syndikalist 1920 eine wöchentliche Auflage von 120.000 Stück. Die FAUD-Mit­gliederzahl und die Auflage ihres Verbandsorgans sank jedoch – bedingt auch durch die Wirt­schaftskrise – schrittweise auf 21.000 im Jahre 1925. Von August 1927 bis Juni 1929 erschien im Syndikalist etwa alle zwei Monate als Beilage der Jugendwille als „Blatt der anarcho-syndikalistischen Jugend“.

 

Zerschlagung des Anarchismus und seiner Jugendbewegung in Nazideutschland

In den ersten Jahren der Naziherrschaft gab es im Untergrund noch anarchistische und anarchosyndikalistische Aktivitäten gegen das Regime.

Unter Lebensgefahr produ­zier­ten Mitglieder der verbo­tenen FAUD-Orts­gruppen Mannheim und Ludwigs­hafen bis En­de 1934 unter dem Titelkopf von Erich Mühsams Zeitung Fanal mehrere konspirativ ver­breitete Ausgaben als „Revolutionäre - sozialistische Monats-Blätter“ (Untertitel). In der zweiten Jahreshälfte 1934 veröffentlichten sie dort u.a. einen Nachruf auf den 1933 verhafteten und am 10. Juli 1934 im KZ Oranien­burg von SS-Männern er­mor­deten Anarchisten Erich Müh­sam.

Auf dem 19. Kongress der FAUD (AS) war im März 1932 vereinbart worden, die Organisation im Falle einer na­tional­sozialistischen Diktatur selbst aufzulö­sen.

Offiziell geschah dies nach der na­tionalso­zialistischen Macht­übernahme im Februar 1933. Im März 1933 began­nen die Behörden mit der Verfolgung der noch existenten Rest­strukturen der FAUD (AS).

Trotz Ver­haftungen und Morden konnten einige Anarcho­syndi­kalistInnen bis 1937 ein funkti­onsfähi­ges Widerstandsnetz auf­bauen, an dem sich 1934 noch rund 600 in Deutschland verblie­bene Mitglie­der der weitgehend zer­schla­genen FAUD (AS) und der SAJD be­teiligten. Eine sehr aktive antifaschistische Jugendgruppe war z.B. auch die SAJD in Wuppertal, deren Mitglieder alle in den „Schwarzen Scharen“ organisiert waren.

Getarnt z.B. als Stadt­plan, Kak­teenzüchter­broschüre, Fahrplan, Reclam-Heftchen oder Sport­zei­tung erschie­nen im na­tionalsoziali­stischen Deutschland linksradi­kale Schrif­ten, die konspirativ und unter Lebensgefahr von An­tifaschistInnen verbrei­tet wur­den. Es bildeten sich, unge­achtet des allgemeinen Verbots jeder politi­schen Betäti­gung au­ßerhalb der NS-Or­ganisationen, aus un­ter­schiedlichen Rich­tungen be­stehende Zu­sammenschlüsse.

Ver­einzelt gelang es, an­archis­tische Unter­grund­zeitschrif­ten zu pro­duzieren und in Umlauf zu bringen. Die Direkte Aktion aus dem Rhein­land wurde auf einer Handabzugsmaschine gedruckt. Dieses vier- bis acht­seitige An­archoblatt er­schien von 1933 bis 1934 min­destens sechsmal. Als Herausge­ber fun­gierte eine „Gruppe sozial­re­volutionärer Arbeiter“.

Exilierte AnarchosyndikalistIn­nen, die sich 1933/34 in Am­sterdam zur Gruppe Deutsche Anarcho-Syndikalisten (DAS) zusammenge­schlossen hat­ten, unter­stützten die Aktivitäten von außen. Anarchosyn­dika­listische Exilgrup­pen ent­stan­den zudem in Barcelona, Paris und Stockholm. Koor­diniert wurde ihre Ar­beit von der im Exil ar­beitenden I.A.A.. Sie schmuggelte Publika­tionen ins Deut­sche Reich, wie z.B. den Pres­sedienst der I.A.A. (Berlin/Harlem/Madrid/Amsterdam, 1923 - 1939), der u.a. politi­sche Einschätzungen und Berichte über die Situation gefangener AnarchistInnen im Deutschen Reich, der Sowjetunion u.a. ent­hielt. Die Interna­tio­nale, von 1924 bis zum Verbot im Fe­bruar 1933 neben dem Syndikalist die wich­tig­ste Pu­blikation der FAUD (AS), wurde abwechselnd von 1934 bis 1935 in Stock­holm, Paris und Barcelona gemacht und getarnt als Deutschtum im Aus­land ins fa­schistische Deutschland ge­schmug­gelt. Dort richteten die im deut­schen Unter­grund ar­bei­tenden Anar­chistInnen unter streng­ster Geheimhal­tung - getarnt z.B. als Schachvereine - „lokale Lese­kreise“ ein, in denen die eingeschmuggel­ten Schriften gelesen und disku­tiert wurden.

Als im Juli 1936 der Spanische Bürgerkrieg mit dem Putschversuch der Franco-Faschisten begann, ging ein Teil der an­archosyndikalisti­schen Auslandsorganisation nach Spanien, um an der Seite der spa­nischen AnarchistIn­nen für die Soziale Revolution zu kämpfen und am Bürgerkrieg teil­zuneh­men.

Im Deutschen Reich konnten die National­sozialisten den anar­chosyndikalisti­schen Widerstand bis 1937 weitgehend zerschla­gen. In mehreren Pro­zessen wurden die Widerständ­lerInnen der FAUD (AS) abge­urteilt, hingerichtet oder in Zuchthäuser oder Konzentra­tions­lager eingeliefert.

In 12 Jahren Nazidiktatur wurde der Anarchismus und seine Jugendbewegung in Deutschland zerschlagen.

 

Neue anarchistische Jugendmedien nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach Angaben des Anarchis­musforschers Andreas Müller (Geschichtswerkstatt Dortmund) entstand nach 1945 die erste anarchistische Jugendgruppe in Dortmund. Weitere sollten folgen.

Ab 1968 entstand im Zusammenhang mit der Lehrlings-, SchülerInnen- und StudentIn­nenbewegung innerhalb der außerparlamentarischen Opposition eine neue libertär-sozialistische Jugendbewegung.

Langlebige anarchistische Jugendzeitungen sind seitdem allerdings eher die Ausnahme. Aufgrund des begrenzten Platzes werde ich hier nur exemplarisch einige Jugendblätter skizzieren.

 

Rastlos

In Berlin entstand 1987 als Zu­sammen­schluss anarchistischer Schü­lerInnengrup­pen der Rat anarchisti­scher Schüler und Schülerinnen (Rastlos).

„Rastlos hat sich aus den Kämpfen gegen die Abi-De­form 1987 zu­sammen ge­funden, um aus­gehend von unserer anarchisti­schen Schulkritik dieses Gesell­schaftssystem als solches in Frage zu stel­len. Viele Kämpfe, Aktionen und in­haltliche Aus­einanderset­zungen ließen uns anwachsen und Strukturen ent­stan­den. Da im­mer mehr Menschen zu uns kamen, ent­stan­den neben Rastlos-Schüle­rIn­nen die Rastlos-ArbeiterIn­nen.“

Die Rastlos-Schü­lerInnen wollten anarchistische Alternativen zum Schulsystem erarbeiten, durch ihre Kämpfe Einfluss auf den Schulall­tag nehmen und „soziale Kämpfe in die Schulen tragen, die Verein­ze­lung durch eine herr­schaftsfreie auf­he­ben“. Sozialrevolutio­näre Arbeit an den Schulen treffe das System nicht an seinen Auswir­kun­gen, sondern bekämpfe es an seiner Wurzel.

Im März 1988 publi­zierte Rastlos das Hugo Frailich Info Nr. 1, mit dem u.a. über die Besetzung des Kubat-Dreiecks, über die Po­li­tik von IWF und Welt­bank, über Zensur von Schü­lerIn­nenzeitschriften und das anarchistische Selbst­ver­ständ­nis von Rastlos informiert wurde.

Mit acht bis zwölf DIN A5 Seiten Um­fang und Auflagen von bis zu 11.000 Ex­em­plaren erschienen die weiteren Ausgaben dieses kostenlos u.a. an 35 Berliner Schulen verteilten Periodikums unter den Titeln Rastlos Frida Frai­lich Info-Blatt Nr. 2 (Sept. 1988), Rastlos Anna Frai­lich Info-Blatt Nr. 3, Rastlos Christian Frailich Info-Blatt Nr. 4 (etikettiert als Nr. 5/Feb. 1989) und Rast­los Emil Frailich Info-Blatt Nr. 5 (März 1989).

Zudem publizierte die wöchentlich im anarchistischen Moabiter A-Laden ta­gende Gruppe mit 44 bis 48 DIN A4 Seiten Umfang ein anarchistisches Maga­zin: Hugo Frailich/Rastlos Nr. 1 (Aug. 1988), Anna Frailich/ Rastlos Nr. 2 (Nov.) und Emil Frailich/Rastlos Nr. 3 (März 1989).

 

Grashüpfer

Eine typische neoanarchisti­sche Jugendzeitung war auch der Grashüpfer. Diese aus 34 gehefte­ten DIN A4 Seiten bestehende anarchisti­sche Schü­lerIn­nenzei­tung am Berliner Bröndby-Gymnasium erschien erstmals An­fang April 1994 mit einer Druck­auflage von 3.000 Exempla­ren.

„Wollen die Anarchisten die Schule verwüsten?“ war eine der zen­tralen Fragen, mit der sich der Gras­hüpfer auseinander­ setzte:

„‘Hilfe, sie kom­men’, hörst du es durch das Schulge­bäude hallen; der­weilen sitzt du ge­langweilt im Unter­richt, jedoch ein­zelne Explo­sionen schrec­ken dich end­gültig aus deinem Schlaf. Die Klasse springt auf, aber jede Flucht scheint ver­gebens zu sein, denn ihr hört im Gang das laute, un­kontrol­lierbare Ge­brüll gemischt mit mordlü­sternem Stöhnen. - Nein, es gibt kein Entrinnen mehr. Die Flucht aus dem Fenster scheint un­möglich, da ihr euch im dritten Stock befin­det. Dennoch, einige Verzweifelte stürzen sich in die Tiefe. -DA die Tür wird aufgebrochen, das sind sie. Schwarz gekleidete, mit blut­verschmierten Händen und Bärten, säuglingfressende Ge­stalten…-  Die Anarchisten

Da, sie stürzen sich auf dich, vergebe mir meine Sünden- stöhnst du und spürst eine kalte Klinge an deinem Halse…

HALT! war alles nur ein Traum. Dies scheint doch einem arg ver­zerrten Bild über An­archis­ten zu entsprechen, doch lies am besten mal weiter.“

 

utopia – herrschaftslos, gewaltfrei

Im Januar 2007 saßen Friederike B., die damals als 16-Jährige ein Praktikum in der GWR-Redaktion absolvierte, und Felix W., der zu dieser Zeit mit 18 Jahren der Jüngste im GWR-Heraus­geberInnenkreis war, zusammen mit mir im Redaktionsbüro der Graswurzelrevolution (GWR). Ich erzählte den beiden von den anarchistischen Ju­gendzeitungen, die es in der Vergangenheit auch in Deutschland gegeben hatte.

Ich schlug vor, dass sie gemeinsam mit anderen Jung-Gras­wurzelrevolutionärInnen eine eigene gewaltfrei-anarchistische Jugendzeitung machen könnten, die dann separat und als GWR-Beilage verbreitet werden könnte. Die zusätzliche Auflage und die Vertriebskos­ten sollten durch Anzeigen befreundeter Verlage und libertärer Projekte gegenfinanziert werden.

Die beiden hatten Feuer gefangen und Felix W. organisierte zusammen u.a. mit seinem Bruder David und den AutorInnen Michael Schulze von Glaßer, Lotta, Hen­ning Graner, Hannes-Caspar Petzold, Hu­mayra, Maria Obenaus und Falk Beyer den Inhalt der ersten Ausgabe.

Als Zeitungstitel wählte die Gruppe den Namen utopia, als Untertitel „herrschaftslos, ge­waltfrei“.

Themen der ersten Ausgabe waren u.a. „Sie kommen um dich zu holen! Die deutsche Armee im Reklameeinsatz“, „Zwangsanstalt Schule“ und der Klimawandel.

Lottas Artikel „Was ist Anarchie?“ aus der utopia Nr. 1 wird seit Frühjahr 2011 sogar in Schulbüchern nachgedruckt.

Die erste utopia erschien im September 2007. Sie war das Er­gebnis eines kollektiven Dis­kussionsprozesses der utopis­tas, in den sich die alten GWR-MitherausgeberInnen nicht eingemischt hatten.

Bis auf den von den Jung-Re­dakteurInnen entworfenen Ti­telkopf und ein etwas großzügigeres Layout sah die erste utopia allerdings noch arg nach Graswurzelrevolution aus.

Das Layout der Nr. 1 hatten die damalige GWR-Praktikantin Lotta und ich gemacht.

Auf Wunsch der Jugendzei­tungsredaktion hatte ich zu­nächst pro forma auch die pres­serechtliche Verantwortung für die im Verlag Graswurzelrevo­lution erscheinende utopia übernommen.

Dies führte dazu, dass ein Mitarbeiter der Projektwerkstatt Saasen im Herbst 2007 online wetterte:

„Ich muss ja mal wieder lästern ;-)

Heute: Utopia, vermeintliche Jugendzeitung der Graswurzelrevolution - aber irgendwie ist der V.i.S.d.P., das Layout und auch der Inhalt eher dasselbe wie die GWR. Jugendanarchas als schlechte Kopie der ohne­hin schon etwas seltsamen alten Männer der Basisdemokratie?

Naja, jedenfalls bietet die erste Ausgabe der Jugend-Anarcho-Zeitung alles, was das Herz begehrt:

- Anarchie = Basisdemokratie

- Hetze gegen Militante bei G8

- Warme Herzen für den Protest für eine demokratischere Welt

- Kollektive Entscheidungen müssen sein und es muss auch durchgesetzt werden, wenn sich einzelne nicht an Regeln halten

- Gute Regierungen sind ir­gendwie anarchistisch

- usw.

Mal gesammelte Zitate, Download ist über www.jugendzeitung.net möglich.“

 

Trotzdem entwickelte sich die nun alle zwei bis drei Monate „von Jugendlichen für Jugendliche“ gemachte utopia prächtig. Die utopistas machten fort­an auch das Layout und bauten ihre gut gemachte Internet­seite www.jugendzeitung.net aus.

utopia-Redakteur Michael Schulze von Glaßer übernahm die presserechtliche Verantwortung für die Jugendzeitung, nachdem er u.a. bei einem mehr­monatigen GWR-Praktikum weitere journalistische Erfahrungen gesammelt hatte.

 

Die Nachfrage war enorm

Die Auflage des ehrenamtlich gemachten Blattes stieg schrittweise von 10.000 auf 25.000 (Nr. 9, März 2009), der Umfang von 4 auf 8 Seiten im Berliner Tageszeitungsformat.

Die utopia wurde auch als kostenloses Einzelblatt an Tausende geschickt. Das war wahrscheinlich ein Fehler, denn die dadurch angewachsenen Druck- und Portokosten konnten nicht mehr durch die Anzeigen befreundeter Projekte ge­genfinanziert werden.

Im Jahr 2010 häufte die utopia ein Minus von rund 5.000 Euro an. Wäre diese finanzielle Misswirtschaft so fortgesetzt worden und hätte die Graswurzelrevolution nicht im gleichen Zeitraum u.a. durch zahlreiche Neuabos ein Plus erwirtschaftet und die utopia gegenfinan­ziert, hätte das vielleicht eine Gefährdung des Gesamtpro­jekts Graswurzelrevolution, GWR-Buchverlag und utopia zur Folge haben können.

Deshalb beschlossen die uto­pia-Redaktion und der GWR-HerausgeberInnenkreis bei einem gemeinsamen Treffen, dass die utopia ab sofort nur noch gedruckt werden soll, wenn sie auch durch entsprechende Einnahmen gegenfinan­ziert ist.

Die Zahl derjenigen, die die utopia einzeln und umsonst be­kommen haben, wurde reduziert und die Auflage auf 14.000 gesenkt. Seitdem schrieb die utopia wieder schwarze Zahlen.

 

Fazit: Eine echte Alternative zur BRAVO!

Die utopistas haben viel erreicht. Seit den 1920er Jahren hat es in Deutschland keine so auflagenstarke und weit verbreitete anarchistische Jugendzeitung mehr gegeben.

Insgesamt wurden fast 400.000 Exemplare unter die Leute gebracht.

Konflikte gab es natürlich auch, auch zwischen einzelnen GWR-MitherausgeberInnen und utopia-RedakteurInnen.

Die Graswurzelrevolution wird von rund 40 Menschen im Alter von 18 bis 82 herausgegeben, die der Zeitung zum Teil seit 40 Jahren verbunden sind.

Sie kann sich einen Koor­dina­tionsredak­teur leisten, der sicherstellt, dass die schwarz-roten Fäden zusammenlaufen und jeden Monat eine vor allem durch Abos finanzierte GWR erscheinen kann.

Bei einem von wenigen und zeitweise wechselnden Jugendlichen ehrenamtlich gemachten Zeitungsprojekt wie der utopia wäre eine Kontinuität, wie sie die GWR seit 1972 vorzuweisen hat, kaum vorstellbar.

Mehr als vier Erscheinungsjahre sind für ein selbstorganisier­tes, nicht kommerzielles Jugendzeitungsprojekt schon fast ein biblisches Alter. 

Nun ist die utopia Nr. 21 als vorläufig letzte Ausgabe erschienen. Das ist schade, aber es muss nicht das endgültige Aus sein. Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag bekannt­lich am nächsten. Und wer weiß, vielleicht findet sich bald ein neues utopia-Kollektiv zusammen, das den schwarz-roten Staffelstab von der „alten“ Redaktion übernimmt?

Potential und Bedarf sind da. Das zeigt nicht nur die große Resonanz auf die utopia. Auch das Entstehen anarchosyndi­kalisti­scher Jugendgruppen (ASJ) in vielen Städten der Republik lässt darauf hoffen, dass die utopia bald wie Phoenix aus der Asche aufersteht.

 

Bernd Drücke

 

Verwendete Literatur:

Ulrich Linse, Die anarchistische und anarcho-syndikalistische Jugendbewegung 1919 – 1933, dipa-Verlag, Frankfurt/M. 1976

Ulrich Klan, Dieter Nelles, „Es lebt noch eine Flamme“, Trotzdemverlag, Grafenau, 2. Aufl., 1990

Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998

Bernd Drücke (Hg.): ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006

Helge Döhring: Die Presse der syndikalistischen Arbeiterbewegung in Deutschland 1918 bis 1933, Edition Syfo 1, Moers 2010

Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Ar­beiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus, Libertad Verlag, Potsdam 1994

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 364, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, Dezember 2011, 40. Jahrgang, www.graswurzel.net