„Nun ist die Revolte fast greifbar"

In Griechenland überschlagen sich die Ereignisse. Ein Interview mit der Anarchistin Fee Marie Meyer

Am 14. Januar 2011 wurde Fee Marie Meyer, eine 27jährige Anarchistin mit deutschem Pass, unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, in Athen verhaftet. Ihr Fall wirft ein Licht auf die Arbeit von Polizei und Massenmedien in Griechenland.

In hysterischem Tonfall verbreiteten Fernseh- und Radiostationen sowie fast alle Zeitungen ungeprüft den Polizeibericht über „die Verhaftung der 27-jährigen Tochter der per Haftbefehl gesuchten RAF-Terroristin Barbara Meyer" und des „in Wien erschossenen Vaters und RAF-Terroristen Horst Meyer". Nichts als Lügen! Fee Mayers Mutter lebt schon ewig in Griechenland und trägt zufällig den gleichen Namen wie die einst im Zusammenhang mit der RAF gesuchte Frau. Diese wurde im Übrigen nie verurteilt und lebt unbehelligt in Deutschland. Ebenso wie Fees Vater, der Wolfgang heißt und sich bester Gesundheit erfreut. Nach kurzer Untersuchungshaft, Freilassung, erneuter Inhaftierung und abermaliger Haftentlassung wartet Fee nun auf ihren Prozess. Das Interview wurde per E-Mail Ende Juni 2011 geführt.

Graswurzelrevolution (GWR): Hallo Fee, vielleicht sagst du etwas zu deiner Verhaftung und den Anklagepunk­ten? Wie kommt es, dass du jetzt draußen bist, und gibt es schon einen Prozesstermin?

Fee Marie Meyer: Hallo! Verhaftet wurde ich, nachdem ich mich zum Kaffee mit vier Genossen aus Thes­saloniki getroffen hatte, die wegen eines Brandanschlags auf ein Auto der griechischen Stromgesellschaft ge­sucht wurden. Bei der Aktion selbst war Giánnis Skouloúdis verhaftet worden, gegen die vier erließ man Haftbefehl. Als sie dann am 13. Januar 2011 in Athen festgenommen wurden, fand man Waffen bei ihnen und auf einem Computer einen Text über eine noch nicht durchgeführte Aktion. Die Anklage lautet auf „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung", „Waffenbesitz" und „Durchführung von illegalen Aktionen". Das Ding ist, dass durch die „Mitgliedschaft" die Anklagen für alle automatisch gleich sind, obwohl ich die Wohnungen nie betreten habe, die Waffen, als deren Mitbesitzerin ich angesehen werde, nie gesehen oder gar angefasst habe, und die „illegalen Aktionen", von denen ich nicht mal wissen kann, welcher Art sie gewesen wären, nie durchgeführt wurden! Ich denke, dass ich persönlich wieder draußen bin, weil durch den Medientrouble ein großes öffentliches Interesse an meinem Fall entstand, der Schuss also sozusagen nach hinten los ging, als das Fiasko mit meinen Eltern bekannt wurde, und eine starke, schnell wachsende Soli­daritätsbewegung entstand. Etwas, was nicht unbedingt die Regel in Griechenland ist, da viele GenossInnen monatelang in Untersuchungshaft sitzen, oft, ohne dass das Geringste gegen sie vorliegt. Die U-Haft kann bis zu 18 Monate dauern, erst dann muss ein Prozess stattfinden. Für einen Prozesstermin im Fall der 4 und mir ist es also noch viel zu früh.

GWR: Nun bist du nicht die einzige von Repression Betroffene. Die unterschiedlichen Son­dereinheiten der Polizei greifen immer wieder brutal Demonstrationen an, Flüchtlinge werden auf Polizeiwachen gefoltert, die Knäste in Griechenland sind überfüllt. Allein aus dem anarchistischen/antiautoritären Spektrum sitzen über 40 GenossInnen im Knast. Macht sich da nicht Angst in der Bevölkerung breit?

Fee Marie Meyer: Tatsächlich ist die Situation wie beschrieben. Wir befinden uns hier in einem Status, in dem die staatliche Gewalt eskaliert, in einem nun schon lange andauernden und von denen ‚oben‘ als Notsituation geschilderten Alltag der Repression. In einem Zustand, der immer totalitärer wird, wo Staat und Kapital ihr wahres Gesicht zeigen. Am 11. Mai 2011 wurde in Athen eine große Demo brutal von der Polizei angegriffen, ein Genosse, Giánnis Kavkás verlor bei­nahe sein Leben. Flüchtlinge in Griechenland werden nicht nur gefoltert, sondern auch in Lager gesteckt, in denen menschenunwürdige Lebensbedingungen herrschen. Dass momentan viele GenossInnen im Knast sind, hat einerseits mit der harten Repression zu tun, andererseits aber damit, dass die anarchistische/antiautoritäre Bewegung stark gewachsen ist, vor allem nach dem Dezember 2008. Viele von den anarchistischen Gefangenen bekennen sich zu den Aktionen, derer sie beschuldigt werden. Ein wachsender Teil der Gesellschaft be­trachtet die gefangenen Anar­chistInnen als Teil eines Widerstands, der zwar ein breites, un­terschiedliches Spektrum umfasst, aber das gleiche will. Die Aktionen, wegen derer viele GenossInnen im Knast sitzen, können und müssen im öffentlichen Dialog verteidigt werden. Und ja, die Angst ist oft groß. Bei Allen. Doch wir reden von einer Gesellschaft, in der sich große Tei­le im Aufbruch befinden. Die Leute organisieren sich, treffen sich seit über einem Monat auf öffentlichen Plätzen, weigern sich zu bezahlen, widersetzen sich den Plänen der PolitikerIn­nen und ihrer Auftraggeber, wie in Keratéa, wo eine Mülldeponie gebaut werden sollte, was jedoch am Widerstand scheiterte. MigrantInnen kämpfen mit Hungerstreiks für ihre Rechte. Unterschiedliche soziale Gruppen treffen sich im Kampf. Das verbindet, macht die Bewegung stärker, die Angst kleiner. Solidarität ist das Zauberwort.

GWR: Nach dem Polizeimord an Alé­xandros Grigorópoulos im Dezember 2008 kam es zu einem beispiellosen sozialen Aufstand. Seit über einem Jahr finden nun Abwehrkämpfe gegen das Spardiktat der Troika aus EU, EZB und IWF statt. Trotz militanter Massende­mos, Generalstreiks, Straßenschlachten, Petitionen und Besetzungen scheint die Pasok-Regierung ihr Programm durchzuprügeln. Stimmt das tatsächlich oder gelingt es auch, Erfolge zu erringen?

Fee Marie Meyer: Nächste Woche findet in Griechenland der nächste Generalstreik statt (28./29. Juni, GWR). Der letzte war am 15. Juni. Da war die Regierung kurz davor zu stürzen. Und die Massenmedien haben von einer Million DemonstrantInnen allein in Athen geredet. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich so viele waren, aber es waren unglaublich viele. Für mich und die meisten war das ein großer Erfolg. Das Pasok-Regime basiert, an­ders als die rechte Nea Dimo­kratía, auf der Institution Staat. Pasok hat in allen Positionen Leute, greift durch, arbeitet viel mit Geheimbullen, infiltriert, heimlich und dunkel. Clever. Aber die Distanz zwischen der Staatspolitik und dem wahren Geschehen auf den Straßen und öffentlichen Plätzen wird immer größer, dort wird nun Po­litik gelebt, das Gefühl, dass jeder die Kraft besitzt, sein Leben zu gestalten. Der Aufstand 2008 war etwas anderes. Spontan, nicht organisiert, prächtig unkontrolliert, und hat uns, als AnarchistIn­nen, auch oft an unsere Grenzen geführt. Nun ist die Revolte fast greifbar, die Leute organisieren sich. Persönlich bin ich optimistisch, vielleicht liege ich falsch. Es liegt aber das Gefühl in der Luft, dass etwas geschehen muss und wird.

GWR: Die „bezahlt wird nicht-Kampagne", bei der die Zahlung der Autobahnmaut oder des U-Bahn-Tickets verweigert wird, ist eine der direkten Aktionen, an der sich Zehntausende beteiligen. Wie reagiert der Staatsapparat auf solche Art zivilen Ungehorsams?

Fee Marie Meyer: Aktionen dieser Art haben sich in den letzten Monaten vermehrt und viele TeilnehmerIn­nen gewonnen. Anfangs zeigten die Medien - was bedeutet: auch der Staatsapparat - eine gewisse Toleranz gegenüber solchen Aktionen. Die Toleranz war dann schnell erschöpft, als die Zahl der Leute stieg und der Gewinn des Staates und der Konzerne sich radikal verringerte. Er reagierte mit neuen Gesetzen, mit vermehrten Kontrollen, mit Propaganda. Inzwischen gab es auch Verhaftungen, bisher noch keine Inhaftierung. Interessant ist, dass es zwischen den unterschiedlichen Strömungen dieser Bewegung zu Vernetzung, Kommunikation und Solidarität kam.

GWR: Ende Mai 2011 griff die Besetzung öffentlicher Plätze nach dem Beispiel Tunesiens und Ägyptens von Spanien auf Griechenland über. In Athen sollen teilweise bis zu fünfhunderttausend Menschen auf den Beinen gewesen sein. Dabei ist viel von „wahrer" oder „direkter Demokratie" die Rede. Wie schätzt du als Anarchistin die Bewegung ein?

Fee Marie Meyer: Anfangs war ich persönlich, sowie auch die meisten Genos­sInnen aus der anarchistischen Szene, sehr skeptisch, was diese Bewegung betrifft. Nun sind viele der Leute schon seit über einem Monat auf dem Syntagma-Platz in Athen, sowie auch in den meisten Städten Griechenlands. Auf den Plätzen findet Politik statt. Es ist schwer, die Situation ge­nau einzuschätzen. Einerseits findet ein ernsthafter Versuch statt zu reden, Lösungen zu finden, Ideen zur Selbstorganisation, zur Selbstbestimmung, Vorschläge, wie es anders funktionieren könnte, auszuarbeiten. Inzwischen haben sich die Plena auch auf die Stadtteile verteilt, auf Nachbarschaften, die es in Athen schon lange nicht mehr als solche gab. Viele nehmen an den Treffen teil, Diskussionen entstehen, Analysen. Das ist die positive Seite. Andererseits befinden sich auch reaktionäre Kräfte, popu­listische Rechte, Rechtsradikale auf den Plätzen. Von einem - nicht so großen - Teil der De­monstrantInnen wird die Nationalhymne gesungen, Parolen gegen MigrantInnen werden gejohlt. Dies sind dann natürlich nicht die Leute, die an den Diskussionen teilnehmen. Es sind kleinbürgerliche Leute, die momentan ihren Status verlieren und ihren Hass einfacher an denen ‚unter‘ ihnen ablassen können als an denen ‚oben‘. Diese Masse wird von ein paar Nazis aufgemuntert, was äußerst gefährlich werden kann. Seit neustem erscheinen die Nazis auch als ‚einfache Anwohner‘ in Nachbarschaftsple­na. Wenn ich sage, dass der Pasok-Staat eine Institution ist, dann meine ich auch das damit. Pasok benutzt die Rechtsradikalen, um die Drecksarbeit zu machen. Allzu klar wurde das beim letzten Pogrom gegen Mi­grantInnen und die besetzten Häuser ‚Villa Amalía‘ und ‚Ska­ramangá‘ in Athen (11. Mai, GWR), als die Bullen Tränengas auf die Häuser schossen und sie zusammen mit den Faschisten angriffen. Viele Bullen sind in rechtsradikalen Organisationen und scheuen sich auch nicht, es zu zeigen, z.B. durch Hakenkreuze auf ihren Helmen. Die Situation ist zugespitzt. Nach Dezember 2008 hat sich die Gesellschaft gespalten, der angebliche Frieden des Klassendialogs ist vorbei, es scheint, als sei der Jahrtausende alte Klassenkrieg hier mal wieder offen ausgebrochen. Obwohl die kapitalistischen Kräfte alles tun, um die Fassade zu wahren, scheint ihr System nur noch an einem dünnen Faden zu hängen. Eventuell hält der, viel­leicht auch nicht. Die meisten Anar­chistInnen, mich auch, interessiert nicht nur die Möglichkeit eines Aufstandes. Den haben wir im Dezember 08 gehabt. Nun geht es darum, den Kreislauf der Geschichte zu unterbrechen, den morgigen Tag anders zu gestalten, Altes zu zerstören, um Neues zu kreieren. Es geht um einen revolutionären Plan. Was ist zu tun? Sollte die Regierung tatsächlich fliehen, was werden wir am nächsten Tag tun? Die Organisationsform, welche die Leute spontan gewählt haben, mit den Volksple­na, spricht uns, als Anarchis­tInnen, sehr positiv an, aber es geht um mehr.

GWR: Im Mai, noch vor den Platzbe­setzungen, hatte ich das Gefühl, die griechische Gesellschaft zerfalle in ihre Einzelteile. Vor allem in Athen, mit Abstrichen auch in Thessalo­níki, drohe ein innerer Krieg jeder gegen jeden. Trügt der momentane Schein oder hat sich die Situation tatsächlich etwas entspannt?

Fee Marie Meyer: Die Situation gibt es tatsächlich, Isolation und Jeder gegen Jeden. Wobei ich denke, dass dies nun stärker zum Ausdruck kommt, obwohl es ein Prozess ist, der schon seit dem Sturz der Militärjunta stattfindet. Seitdem der Konsum und das schnelle Geld, die Ausbeutung der Ideologien von den einstmals ‚Linken‘ stattgefunden hat. Es ging hier nur noch um ein teures Au­to, eine zweite Wohnung, Geld und Konsum. Das soziale Netzwerk, die menschlichen Beziehungen litten darunter, vor allem in den großen Städten. Nun, wo die Situation eskaliert, ist es die erste Reaktion, dass jeder schaut, wie er sich selbst retten und das sinkende Boot verlassen kann. Dennoch haben die oben erwähnten Bewegungen, die gemeinsamen Kämpfe die Situation ein wenig entspannt, neue Beziehungen und Vernetzun­gen geben ein Gefühl des gemeinsamen Kampfes, einer Gesellschaft, die sich neu bildet. 

GWR: Welchen Einfluss haben die verschiedenen Strömungen der anarchistisch/antiautoritären Bewegung deiner Meinung nach auf die kommenden Entwicklungen?

Fee Marie Meyer: Die anarchistische Bewegung in Griechenland ist stark eingebunden ins soziale Geschehen. Obwohl es die Bewegung als solche erst seit ein paar Jahrzehnten gibt, und trotz intensiver Medienpropaganda gegen uns ‚Chaoten‘ ist und bleibt es eine wachsende, vielseitige Be­wegung. Die theoretischen Un­terschiede und Strömungen innerhalb des Anarchismus sind momentan nicht wichtig, sondern die Organisationsform, an die wir glauben. Wir müssen den Kampf als Ganzes begreifen, die unterschiedlichen We­ge können uns auch wieder zusammen führen. Wir kämpfen für die Revolution, für eine Gesellschaft ohne Eigentum, Macht, Grenzen, Klassen, ohne Unten und Oben. Dies betrifft alle Strömungen innerhalb der anarchistischen Bewegung und ist die Essenz der Sache. Das muss auch der Ausgangspunkt im öf­fentlichen Dialog sein. Es ist wichtig und gut zu kämpfen - außerdem fühlt man sich lebendig - die Mittel muss jede/r selbst wählen. Ein großer Teil der Linken in Griechenland leidet unter dem Syndrom des ‚armen Verwandten‘, der Verlierer der Geschichte, die ausgetrickst wurden. Heroisch zwar, mit einer reichhaltigen Vergangenheit, aber im­mer in der Looserposition. Nach dem Anschlag auf die Marfin Bank und dem Tod der Angestellten drohte dies auch mit Teilen der anarchistischen Bewegung zu geschehen. Weil sich die Geschichte aber so rasant weiterentwickelt und wegen des Dialogs innerhalb der Bewegung ist das nicht passiert, die Gefahr besteht aber immer. Eine klare Spaltung zwischen militant und nicht militant gibt es in Griechenland nicht.

GWR: Zu Beginn der Auseinandersetzungen um das Spardiktat der Troika wurde in den Massenmedien der BRD rassistische Hetze gegen „die faulen Griechen" betrieben. Später wurde nur noch über die heftigen Straßenkämpfe während der Generalstreiks und über die drei Toten in der Marfin Bank berichtet. Mittlerweile wird der vielfältige Widerstand fast komplett totgeschwiegen. Wie könnten GenossInnen in der BRD euch unterstützen?

Fee Marie Meyer: Es ist wichtig, dass sich die Leute informieren können und die Situation in Griechenland verstehen. Unsere Formen von Informationsweitergabe, Flyer, Broschüren, Poster, Indymedia und andere Websites können informieren. Auch öffentliche Solidaritätsaktionen für gefangene Ge­nossInnen oder gegen die Re­pressionsstrategie bei Demos und Versammlungen können viel bewirken. Unser Kampf, so unterschiedlich er ist, hat ein Ziel. Jede Form der Solidarität kommt hier an und gibt den Leuten Kraft. Vor allem die gefangenen GenossInnen, die aus der schwierigen Position der Isolation an diesem Aufbruch teilnehmen, müssen unbedingt als ein lebenswichtiger Teil von uns angesehen werden. Na ja, ihr wisst wahrscheinlich besser als ich, was man in der BRD machen kann, wie Solidarität ausgedrückt werden kann.

GWR: Noch ein Abschlusssatz?

Fee Marie Meyer: Ich habe keine Ahnung, was hier noch geschehen wird, wie die Geschichte sich weiterentwickelt, wie wir sie gestalten werden. Es ist eine höchst interessante Zeit, alles ist in Bewegung. Keine Haft, kein Repressionsmittel, keine Medienpropagan­da ist stark genug, um uns zu brechen. Denn es geht immerzu um die Freiheit, die Solidarität, die Menschenwürde, die wundervolle Geschichte des Widerstands.

Interview: Ralf Dreis

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 361, 40. Jahrgang, September 2011, www.graswurzel.net