Aussichtsloser Titanenkampf

Börsen auf Talfahrt – Griechenland vor der Insolvenz

Der griechische Ministerpräsident Papandreou hatte vor gut einem Jahr, im Mai 2010, die Mythologie des Landes beschworen, um seinen Landsleuten den Ernst der Lage zu erklären. Griechenland, so Papandreou, stehe am Beginn einer neuen  »Odyssee«, die das Land aber erfolgreich durchlaufen werde: »Wir kennen den Weg nach Ithaka.« Dieser Vergleich mit der Irrfahrt des Odysseus deutete auf nichts Gutes. Und in der griechischen Bevölkerung gab es reichlich Zweifel, ob der von der sozialistischen Regierung eingeschlagene Kurs zielstrebig nach Ithaka führt und ob die bis dahin zu leistenden Anstrengungen und Opfer sozial gerecht verteilt sind.

Jetzt, Anfang September 2011, ruft der Premier die Phase des »Titanen«kampfes aus. Griechenland stehe kurz vor der Insolvenz mit entsprechenden Rückwirkungen auf die sozial-ökonomischen Strukturen. Daher bedürfe es einer massiven Mobilisierung der Kräfte. Der Appell an den Mythos hinkt jedoch. Die Titanen waren ein mächtiges Göttergeschlecht, das seine Kräfte in der legendären goldenen Ära griechischer Mythologie entfaltete. Ihr Kampf ging verloren und sie landeten in den Tiefen der Unterwelt. Das goldene Zeitalter wurde von Macht- und Besitzgier zerfressen.

An die Stelle eines »goldenen Zeitalters« des Titanenenkampfes ist längst die moderne Gesellschaft der Finanzmärkte – Banken, Fonds und Ratingagenturen – getreten. Die Schlacht gegen diese Akteure steht äußerst schlecht. Die Kräfte der Titanen werden im 21. Jahrhundert von den zerstörerischen Kräften der Finanzmärkte und deren Angriffen auf die Euro-Länder überboten.

Der Kampf des modernen Griechenlands wird mehr und mehr aussichtslos:  Finanzminister  Venizelos musste einräumen, dass Produktion und Dienstleistungen noch tiefer in den Krisenstrudel gerissen werden. Nach 4,5% im vergangenen Jahr wird der gesellschaftliche Reproduktionsprozess (gemessen am BIP) in diesem zweiten Jahr der Rettungspakete voraussichtlich um 5,5% – wenn nicht mehr – schrumpfen. Seit 2009 ein Absturz um 12% – in der Tat eine »sterbende Wirtschaft« (Wirtschaftsminister Chrysochoidis).

Fakt ist: Die griechischen Wirtschaftsdaten sind für das erste Halbjahr 2011 noch schlechter ausgefallen, als selbst realistische Ökonomen angenommen hatten. Das BIP schrumpfte um schockierende 7,3% gegenüber dem Vorjahr (im ersten Quartal sogar um 8,1%). Für das zweite Halbjahr 2011 sind zwar bessere Zahlen zu erwarten – nicht zuletzt wegen der sommerlichen Einnahmen aus dem Tourismus . Aber für das Gesamtjahr 2011 kalkuliert selbst Finanzminister Venizelos offiziell mit einem Minuswachstum von mindestens 5%.

Damit sinkt auch die Hoffnung auf eine baldige Erholung: Der griechische Finanzminister rechnet erst für das Jahr 2014 mit einer Rückkehr zu Wirtschaftswachstum, und selbst das ist angesichts der weltwirtschaftlichen Krisensymptome und der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine optimistische Annahme. Griechische Zeitungen berichten sogar, dass die Experten im Athener Wirtschaftsministerium einen Einbruch des diesjährigen BIP um 6% für realistisch halten. Die Etatansätze der Regierung basieren dagegen auf einem angenommenen Minus-Wachstum von »nur« 3,5%. Damit ist eine Rückführung des Haushaltsdefizits für 2011 auf die anvisierten 7,6% des BIP nicht zu schaffen. Es sei denn, man zwingt Griechenland noch härtere Sparmaßnahmen auf, die aber die volkswirtschaftliche »Todesspirale« nur noch beschleunigen würden.

Diese wirtschaftliche Abwärtsspirale ist das entscheidende Problem und der Grund für die vielfältigen Krisensymptome. Das unter Auflagen der Troika – Internationaler Währungsfonds (IWF), Europäische Zentralband (EZB) und Europäische Union (EU) – verschärfte Sparprogramm hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Griechenland aus einem  ökonomischen Schrumpfungsprozess nicht herauskommt.

Aber haben die Griechen dieses massive Schrumpfen nicht selbst programmiert, weil sie lange über ihre Verhältnisse gelebt haben? Sicher, die griechische Ökonomie ist durch die Finanzialisierung der letzten Jahrzehnte in eine falsche Richtung getrieben worden. Die niedrigen Zinssätze erlaubten eine Kaschierung der Strukturprobleme durch die Expansion der öffentlichen und privaten Verschuldung. Nach dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Mitte September 2008 haben die meisten Staaten – darunter Griechenland – umfangreiche Garantien für ihre Banken abgegeben. Außerdem päppelten viele Länder ihre angeschlagenen Geldhäuser mit neuem Eigenkapital auf und gaben Milliarden für große Konjunkturpakete aus, um die Schäden für die Realwirtschaft abzumildern. Aufgestaute Strukturprobleme wie tendenzielle  Überschuldung, Banken- und Finanzkrise sowie die weltwirtschaftliche Rezession enthüllten dann schlagartig die Schuldenfalle.

Die globale Finanzkrise hat den prekären Zustand der öffentlichen Finanzen nicht verursacht, sondern nur ans Licht gebracht, zugleich aber durch die Explosion der Zinssätze verschärft. Die Schwäche der griechischen Ökonomie hat strukturelle Ursachen, die tief in der Gesellschaft verankert sind. In den letzten Jahrzehnten sind wichtige Bereiche der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung durch die Produktivitätsentwicklung und verschärften Wettbewerb unter Druck gekommen. Die mit Unterstützung aus dem europäischen Strukturfonds geplanten Infrastrukturmaßnahmen konnten wegen der wachsenden Unsicherheit im Bankensektor nicht realisiert werden. Hausgemachte Probleme wie überhöhte Militärausgaben, ein überdimensionierter öffentlicher Sektor und massive Strukturprobleme in der Besteuerung von höheren Einkommen und dem Steuervollzug kommen hinzu.

Nicht nur die öffentlichen Finanzen schlitterten in die Schieflage. Auch bei der Sozialversicherung schlägt sich ein Strukturwandel nieder, der längst von einem Sanierungsprozess hätte aufgefangen werden müssen. Die allgemeine Renten- und Krankenversicherung (IKA) musste schon 2009 mit einem Milliardenbetrag aus dem Staatshaushalt gestützt werden, um ihren Verpflichtungen aus früheren Verträgen nachkommen zu können.  Der Zuschussbedarf steigt seither auf einen zweistelligen Milliardenbetrag an, weil das Einnahmepotenzial hinter den zugesagten Leistungen zurückbleibt. Dies ist keineswegs eine Konstellation von überhöhten Leistungsansprüchen, sondern diese Ansprüche und die Sozialabgaben hätten längst austariert werden müssen.

Gegen eine derartige Krise kann man auch mit der härtesten Austeritätspolitik nicht ansparen. Wenn die Zahl der Insolvenzen von Monat zu Monat zunimmt, die Arbeitslosigkeit auf nunmehr bereits 18% steigt und die Einkommen sinken, nimmt der Staat trotz Steuererhöhungen weniger ein. Zumal mit einer asymmetrischen Steuerpolitik, die unfähig ist, nicht nur symbolisch, sondern konfiskatorisch auf Vermögen zuzugreifen und der Steuerbetrüger in den Rängen der »feinen Gesellschaft« habhaft zu werden, und stattdessen mit höheren Massensteuern den Konsum zusätzlich einbrechen lässt. Das Haushaltsdefizit wird so bei über 9% des BIP zu liegen kommen – statt der 7,6%, die mit der Troika (EU, EZB, IWF) vereinbart waren.

Griechenland ist eigentlich pleite, denn die in der zweiten Oktoberhälfte dringend benötigte sechste Tranche aus dem Rettungsschirm in Höhe von acht Mrd. Euro dürfte nicht ausgezahlt werden. Um die Insolvenz zu verhindern, wurde schnell eine neue Steuer auf Immobilien aus dem Ärmel geschüttelt, die sogleich mit der Stromrechnung eingezogen werden und exakt jenes Delta zwischen dem tatsächlichen und dem zulässigen Defizit schließen soll. Doch was ist damit gewonnen – außer Zeit bis zur Überprüfung der Konditionen für die übernächste Tranche? Erneut wird das Ergebnis negativ sein, was man auch an den Privatisierungserlösen ablesen kann, die Ende September 400 Mio. Euro für den Verkauf der Hellenic Telecom an die Deutsche Telekom ausmachten, weit entfernt von den im Budget unterstellten 1,7 Mrd. Euro. Ebenso wie Sparen ist es in Zeiten krisenbedingt wegbrechender Nachfrage grober Unfug, öffentlichen Besitz zu Dumpingpreisen zu verscherbeln, sofern es überhaupt Käufer gibt.

Die Verschärfung des laufenden Austeritätsprogramms durch Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, Absenkung von Alterseinkommen, Steuererhöhungen auf den privaten Verbrauch – all dies verschärft eben auch den Schrumpfungsprozess der griechischen Ökonomie. Um die anstehende Tranche aus dem Finanzpaket zu erhalten, sollen 30.000 Angestellte im öffentlichen Sektor, in den großen Staatsunternehmen und in den Kommunalverwaltungen innerhalb des laufenden Jahres in die Arbeitsreserve versetzt werden . Dies bedeutet, dass die Betroffenen für zwölf Monate lang nur 60% des Gehalts erhalten ; anschließend soll die Entlassung folgen. Entlassungen im öffentlichen Sektor waren bisher in Griechenland nicht Praxis.

Ab dem 1. Oktober soll ein System der einheitlichen Besoldung im öffentlichen Dienst in Kraft treten, das die Einkommen noch einmal nach unten angleicht. Insgesamt sollen die Beschäftigten im öffentlichen Sektor bis zu 40% ihres Einkommens verlieren. Erhebliche Opfer müssen auch die RentnerInnen bringen. Am meisten werden diejenigen getroffen, die Renten und Pensionen über 1.200 Euro pro Monat beziehen; ihre Bezüge sollen um 20% verringert werden. RentnerInnen unter 55 Jahren sollen 40% weniger Geld bekommen. Die zusammenfassende Schlussfolgerung ist eindeutig: Mit einem solchen historisch einzigartigen Kürzungsprogramm kommt die griechische Ökonomie nicht aus der wirtschaftlichen Abwärtsspirale und der Schuldenfalle heraus. Also steht der Titanenkampf vor dem Ende. Und dann?

 Geordnete Insolvenz

Eine Insolvenz  ist gegeben – so ein Teil der herrschenden Klassen –, weil Griechenland  nicht mehr in der Lage ist, seine Schulden vollständig und fristgerecht zurückzuzahlen. Das Land hat Schulden in Höhe von 160% der jährlichen Wirtschaftsleistung angehäuft. Ohne die Gelder aus dem Rettungspaket kann es noch nicht einmal die Zinsen bedienen. Geordnete Insolvenz heißt demnach: Schuldenschnitt von rund 50% und Rückkehr zur Drachme. Zu befürchten ist, dass diese nationale Währung gegenüber dem Euro um weit über 50% abgewertet sein würde. Der Staat und viele Unternehmen hätten in der Folge Mühe, ihre in Euro eingegangenen Schulden zu bedienen. Es käme zu Zahlungsausfällen und die Zinsen/Risikoprämien für neue Kredite würden stark steigen. Griechenland könnte seinen Schuldenstand und seine Zinslast zwar deutlich verringern. Gleichwohl bedeutet dies eben keine Stabilisierung der Realökonomie. Da die Wiedereinführung der nationalen Währung nicht überraschend realisiert werden könnte, nähme die jetzt schon zu verzeichnende Flucht von Spar- und Finanzanlagen massiv zu.

Auch wenn es populistische Politiker nicht wahrhaben wollen, die vermeintlich bequemste Lösung, nämlich ein – nach EU-Recht gar nicht möglicher – Rauswurf der Griechen aus der Eurozone samt Einstellung sämtlicher Hilfszahlungen, wäre risikoreich. Das Ende der gemeinsamen Währung und die Auflösung  der EU könnten nicht ausgeschlossen werden. Die Wiedereinführung der Drachme würde eine Kapitalflucht auslösen. Es käme vermutlich zu einem Bankenrun, weil SparerInnen und Investoren noch mehr als bisher ihr Geld ins Ausland transferieren würden. Konsequenz: Kollaps des Bankensystems, was wiederum eine Rekapitalisierung erfordern würde. Als weitere Gefahren sind festzuhalten:

-   Einbruch des Außenhandels;

-   massive Stützungen für Banken, Versicherung etc.;

-   Erhöhung der in Euro kontrahierten Schulden;

-   Ausweitung der akuten Krise auf andere Euroländer und Banksysteme.

Die schockartige Schrumpfung der Ökonomie hätte Auswirkungen auf das europäische Wirtschafts- , Banken- und Finanzsystem. Schon bisher würden sich die Abschreibungen aus dem bisherigen Griechenlandengagement für Deutschland auf etliche 100 Mrd. Euro belaufen, von Rettungsmaßnahmen für die eigenen Banken und Finanzmarktakteure abgesehen.

 Umschuldung und Fortführung des Euro-Systems

Angesichts dieser Kosten und kaum abzuschätzenden Rückwirkungen plädieren andere Experten für eine Umschuldung. Wenn Griechenland, Irland und Portugal allesamt  ihren bisherigen öffentlichen und Bankkredit  zu rund 50% wertberichtigen würden, wären die finanziellen und wirtschaftlichen Belastungen für Deutschland, die Europäische Zentralbank und die anderen Euro-Länder geringer. Zudem würde in diesem Fall die Ausweitung und Ansteckung unterbleiben.

Schon jetzt sind Italien und Spanien in den Sog der europäischen Schuldenkrise geraten. Auch hier liegt der Kern der Krisenproblematik im wirtschaftlichen Wachstumsprozess. Der Internationale Währungsfonds (IMF) hat für Italien  pessimistische Prognosen veröffentlicht. Der Zuwachs des Wirtschaftsprodukts soll 2011 bei 0,6% und im nächsten Jahr bei 0,3% liegen. Dies ist zwar nicht wie im Fall Griechenlands eine Schrumpfung der Wirtschaftsleistung, erschwert aber auch den Sanierungsprozess.

Die Finanzpakete für die angeschlagenen Länder Griechenland, Irland und Portugal beherrschen die politische Diskussion, sind gleichwohl finanzpolitisch keine massive Herausforderung. Ein möglicher Rettungsschirm für Italien müsste eine völlig andere Größenordnung aufweisen. Italien weist ein rea­les Bruttoinlandsprodukt von 1,5 Bio. Euro aus. Bei einer Verschuldungsquote von 120% beträgt die Verschuldung des Landes rund 1,8 Bio. Euro. Allein im laufenden Jahr will Italien staatliche Schuldverschreibungen im Wert von 430 Mrd. Euro realisieren. Bei diesen Größenordnungen müssten die Unterstützungspakete ein Volumen von rund einer Bio. Euro haben, um auf den Finanzmärkten Wirkung zu zeigen. Dies lässt sich bei den Banken verdeutlichen.

Die Schuldenkrise in der Euro-Zone zeigt sich in den Bankbilanzen deutlich . Viele Banken halten Anleihen von Staaten, deren Refinanzierungskosten massiv gestiegen sind. Seit Januar 2010 haben die Banken in der EU denn auch rund 40% ihres Marktwertes eingebüßt. Banken aus Ländern wie Griechenland, Portugal oder Irland können sich nur noch über die EZB mit Liquidität eindecken. Doch das Misstrauen erstreckt sich zunehmend auch auf Banken aus Italien, Spanien oder sogar Frankreich. Der IWF schätzt, dass seit Ausbruch der Krise Anfang 2010 der Wert der Staatsanleihen aus Ländern mit erhöhten Kreditrisiken (Griechenland, Portugal, Irland, Spanien, Belgien und Italien) in den Bankbilanzen um 200 Mrd. Euro zurückgegangen ist.

Schlussfolgerung aus dieser Malaise: Die Krisenländer – also Griechenland, Irland, Portugal, aber auch Italien und Spanien – müssen Pläne zur Sanierung ihrer Staatshaushalte umsetzen. Vorausgesetzt es gibt keine weitere Verschlechterung durch eine erneute Globalrezession, könnte eine langsame Konsolidierung der Zinskosten einsetzen. Die Zeit für die Sanierung muss aber begleitet werden durch eine Stabilisierung der Banken. Diese müssen – wenn nötig per Zwang –  eine Rekapitalisierung durchführen. Der IMF schätzt den akuten Handlungsbedarf zur Erhöhung des Eigenkapitals der Banken auf ca. 200 Mrd. Euro. Auch in der EU scheint sich die Einsicht durchzusetzen, dass eine Stärkung des Eigenkapitals unverzichtbar ist.

Ausweg aus der Schuldenfalle

Nach wie vor könnte die Insolvenz Griechenlands abgewendet werden. Dazu wäre ein langfristiges Aufbauprogramm erforderlich, mit dem die Wirtschaftskrise bekämpft und Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber dafür gibt es – außer vorzeitigen Zahlungen aus den Griechenland zustehenden Mitteln des EU-Strukturfonds – kein Geld. Griechenland hat noch zu 70% Ansprüche aus einer Zusage über Infrastrukturmittel  von 20 Mrd. Euro. Allerdings gab es Blockaden durch die Kofinanzierung und die durch Banken bereitzustellenden Finanzmittel. Aber auch hier gilt: Investitionen in Infrastruktur (Verkehr, Energie etc.), Landwirtschaft und Tourismus brauchen längere Zeit und ein entsprechendes wirtschaftliches Umfeld, bis sich eine Stärkung der realwirtschaftlichen Akkumulation einstellt. Ohne ein Aufbauprogramm wird aber auch ein Schuldenschnitt – kalkuliert wird mit 50% Abschreibung auf den Nominalwert der Staatsanleihen – nur ein weiteres Instrument sein, um Zeit zu kaufen.

Mit der Zustimmung der EU-Parlamente zum erweiterten EFSF-Rettungsschirm hat dieser die Möglichkeit, nicht nur Länder von den Finanzmärkten abzuschirmen, sondern auch Banken und Pensionsfonds mit Geldspritzen liquide zu halten, die die erforderlichen Abschreibungen eines Hair Cut nicht stemmen können. Dass es dabei nicht nur um griechische, sondern brisanter noch um französische Institute geht, haben die erratischen Kursschwankungen der Aktienmärkte im September gezeigt. Und für den Fall, dass in größerem Umfang Gelder von griechischen Banken in vermeintlich sichere Auslandshäfen transferiert werden sollten, liegt ein Plan B mit dem Erlass von Kapitalverkehrskontrollen – nunmehr mit dem EU-Recht kompatibel, was lange Zeit bestritten wurde – vor. All das macht deutlich: Nicht Finanzierungsregelungen sind das Problem. Sie hängen jedoch in der Luft, wenn die reale Ökonomie immer weiter absackt. Doch ein Plan dafür steht nicht auf der Agenda.

Stattdessen werden die Insolvenz und möglichst auch noch der Ausschluss Griechenlands aus der EU von Teilen der politischen Klasse und der wirtschaftlichen Elite gefordert, die offenkundig Spaß am Zündeln haben. Zündeln mit dem Bedienen des rechtspopulistischen Ressentiments, dass Griechenland auf geradezu kriminelle Art sparunwillig sei – wissend, dass kein Land in der Geschichte des IWF je einen derart harten Austeritätskurs gefahren hat. Und zündeln mit der Zukunft der Europäischen Union insgesamt. Denn längst geht es nicht mehr in erster Linie um Griechenland.

Nicht nur Griechenland segelt in den Strudeln zwischen Skylla und Charybdis, die im Verlauf der Großen Krise schon manchen Schiffen zum Verhängnis geworden sind. Für alle Mitgliedstaaten des Euro-Clubs lautet die Prognose, »dass sich die konjunkturelle Dynamik im Verlauf des zweiten Halbjahrs weiter verlangsamt und es zu einer Rezession kommt«,1 die das ökonomische Leben auch in Portugal bis weit in das kommende Jahr erlahmen lässt (siehe Abb. 1). Damit ist aber klar, dass das Verschuldungsregime mit der bisherigen Mischung aus Austerität, Steuererhöhungen, Rettungsschirmen und Liquiditätsspritzen der EZB kaum noch zu steuern ist.

»Die Rezession im Euroraum dürfte auch einen weiteren negativen Impuls für die Schuldenkrise mit sich bringen. Die aktuellen offiziellen Budgetprognosen werden sich angesichts des schwächeren wirtschaftlichen Umfelds in vielen Ländern als zu optimistisch herausstellen. Dies könnte zu einer weiteren Verunsicherung der Finanzmärkte bezüglich der Schuldentragfähigkeit einzelner Länder des Euroraums beitragen. Zwar gehen wir in der Prognose nicht davon aus, dass es zu unkontrollierten Zahlungsausfällen von Staaten oder zu Zusammenbrüchen von Banken infolge eines möglichen Bonitätsverfalls bei Staatsanleihen weiterer Länder kommt. Das Risiko einer solchen Entwicklung ist jedoch beträchtlich, und im Eintrittsfall würde sich die Rezession spürbar vertiefen.«2 (siehe Abb. 2)

Der Spagat, einerseits die Handlungsfähigkeit der Staaten durch Begrenzung der öffentlichen Verschuldung zu sichern, andererseits die Realökonomie wieder auf einen nachhaltigen Wachstumskurs zu führen, ist für etliche Länder nicht mehr durchzuhalten, wenn der internationale Konjunkturzug abbremst. In den Schwellenländern, die seit der Finanzkrise die globale Wirtschaft stabilisiert haben, treten die Notenbanken und Regierungen auf die Bremse der Zinserhöhung. Und in den USA ist fraglich, was letztlich von Obamas Beschäftigungsprogramm nach den Verhandlungen in dem von den Republikanern beherrschten Kongress noch übrig bleibt. Dessen Impulse sind auch deshalb begrenzt, weil etliche Programmpunkte der Fortfinanzierung bereits laufender Maßnahmen dienen und Mitnahmeeffekte bei Steuersenkungen einzukalkulieren sind. Dass US-Finanzminister Geithner mit seinem Begehren, in Europa sollten doch vergleichbare Maßnahmen der Konjunkturstützung ergriffen werden, bei seinen EU-KollegInnen gegen die Wand lief, belegt, in welch kurzer Zeit die Lehren aus der Großen Krise 2007-2009 »vergessen« wurden und mit der Verlängerung der Finanz- und Wirtschaftskrise zur Staatsschuldenkrise auf Deflationspolitik umgeschaltet wurde.

In einem deflationären Umfeld aktualisiert sich mit der Schuldenkrise auch die Finanzmarktkrise. Zwischen Ende Juli und Ende August ist weltweit Aktienvermögen in Höhe von fünf Bio. Euro vernichtet worden – das sind ca. 20% der globalen Marktkapitalisierung vor Ausbruch der Marktturbulenzen. Banken und andere Finanzwerte haben im Vergleich zu Aktien anderer Branchen überproportional an Wert verloren. Es ist eine gefährliche Unterschätzung, diese Wertkorrekturen nur als Veränderungen bei den akkumulierten Eigentumstiteln abzutun. Mittlerweile steckt die Finanzwelt wieder in jenem »Lehman-Moment« (nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008), als der Interbankenmarkt austrocknete, weil sich die Geschäftsbanken untereinander nicht mehr kreditierten. Nur durch eine abgestimmte Aktion der führenden Notenbanken wird gegenwärtig die Versorgung der europäischen Banken mit US-Dollar sichergestellt.

Gewiss ist eine Redimensionierung des Finanzsektors zwingend notwendig, aber es muss dafür Sorge getragen werden, dass es dadurch weder zu einer nochmaligen Absenkung der realen Investitionen kommt, noch die von diesen Papieren abhängenden Zahlungen im Bereich sozialer Sicherung die gesellschaftliche Produktion weiter schrumpfen lassen.

Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bundesbank und Sprecher der internationalen Finanzindustrie, hat die aktuelle Krisenkonstellation kürzlich in drei Punkten zusammengefasst:

1.  Die Finanzindustrie hat noch keine überzeugenden Antworten zu bieten. Seit der ersten Phase der Finanzkrise 2007/8 wurden zwar die gröbsten Übertreibungen beseitigt, doch das reicht erkennbar nicht aus.

2. Die Fragen nach der Effizienz der Finanzmärkte, nach der Sinnhaftigkeit manch moderner Finanzprodukte, der Organisation der Finanzmärkte mit Transaktionsfrequenzen im Takt von Millisekunden und nach der Rolle der Finanzmärkte im Verhältnis zu den realen Gütermärkten generell werden lauter. Die Verunsicherung ist dabei inzwischen bis in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft vorgerückt.

3. Die Kosten der Unterstützung schwacher Mitgliedstaaten sind auch und gerade aus der Sicht Deutschlands geringer als die Kosten der Desintegration. Schon eine grobe Überschlagsrechnung, die unsere Handelsverflechtungen zu den EU-Peripheriestaaten und die Exposures der deutschen Finanzbranche gegenüber diesen Ländern berücksichtigt, legt dieses Urteil nahe.

Mit welcher Strategie auf die massive Zuspitzung der ökonomischen Lage reagiert werden sollte, wird heftig und kontrovers diskutiert. Der zurückgetretene Chefökonom der EZB, Jürgen Stark, setzt sich mit seiner Position deutlich von der bürgerlichen Mehrheitsauffassung ab: »In den USA scheint die Mehrheitsmeinung sowohl unter Politikern als auch bei Ökonomen in Richtung einer Ausweitung des geld- und fiskalpolitischen Stimulus zu gehen. Das Verschuldungsproblem sollte lediglich mittelfristig in Angriff genommen werden, weil andernfalls das Wachstum beeinträchtigt würde. Auch der IWF hat sich für Nichtkrisenländer in diese Richtung geäußert… Die europäische Strategie dagegen baut auf sofortige Budgetkonsolidierung. Sie zielt darauf ab, die exzessive Schuldendynamik und die damit zusammenhängenden Finanzmarktverwerfungen schnell und nachhaltig in den Griff zu bekommen… Ich bin der festen Überzeugung, dass die europäische Strategie den richtigen Weg darstellt. Wir befinden uns in einer Situation, in der massive Tragfähigkeitsrisiken in den öffentlichen Haushalten Wachstum und Stabilität untergraben.« (Handelsblatt vom 12.9.2011)

Starks Rücktritt dokumentiert, dass die einfache Entgegensetzung von USA und Europa nicht stimmt. Seine Strategie würde nicht nur in Griechenland einen ökonomisch-gesellschaftlichen Supergau erzeugen. In dieser Situation hilft allein ein umfassendes ökonomisches Strukturprogramm, mit dem – angefangen mit Griechenland – alle europäischen Länder sich aus der Schuldenfalle schrittweise befreien könnten. Auch wenn Elemente eines solchen Programms immer mal wieder in Augenschein genommen werden, fehlt doch eine europäische Öffentlichkeit, in der die Entmachtung der Finanzmärkte – auch durch eine öffentliche Europäische Aufbau- und Investitionsbank, die einen neuen New Deal absichern könnte – vorangetrieben werden könnte. Sie fehlt auch deshalb, weil die politischen Bewegungen – Gewerkschaften, Sozialverbände, Parteien der Linken – weiterhin sozial und national fragmentiert sind. Zwar sind die nationalen Regierungen nach wie vor die Herren der Verträge, und damit ist die nationale Basis der politischen Kämpfe keineswegs ausgehebelt. Aber es bedarf einer gemeinsam vertretenen linken Agenda und belastbarer linker Netzwerke in Europa, um mobilisierungsfähig zu sein. Solange das nicht der Fall ist, bleibt es bei der Vorherrschaft des Finanzkapitals. Sollten die politischen Eliten es bis dahin auch zu einem Staatsbankrott kommen lassen, werden sie nicht nur in Griechenland chaotische Zustände produzieren.

Joachim Bischoff ist Herausgeber, Richard Detje Redakteur von Sozialismus. Beide veröffentlichten zuletzt das Kapitel 3 (»Die Große Krise der Euro-Zone. Konstruktion–Fehlsteuerung–Alternativen«) in dem soeben im VSA: Verlag erschienenen Band »Europa im Schlepptau der Finanzmärkte«.

 1 Institut für Weltwirtschaft: Konjunktur im Euroraum im Herbst 2011, Kiel, 12.9.2011, S. 3.

2 Ebd., S. 16.