feuer und flamme

Brennender Protest in der Breschnew-Honecker-Ära

Ausgerechnet der CDU-Kreisvorsitzende Alfred Lautenschläger gab der Volkspolizei zu Protokoll, sich zur Tatzeit in unmittelbarer Nähe der Michaeliskirche aufgehalten zu haben, an jenem 18. August 1976 im provinzsächsischen Zeitz. Er habe gesehen, wie „diese Person“ aus dem Auto gestiegen sei, bekleidet mit langem schwarzen Talar, und die hintere Klappe des PKW-Kombi geöffnet habe, „und ich sah, wie er Schilder herausnahm und diese auf das Dach seines Autos befestigte.“ Danach habe der Mann eine Milchkanne aus dem Auto geholt und eine Flüssigkeit über sich geschüttet. Im nächsten Moment habe er schon in Flammen gestanden. Daraufhin habe Lautenschläger umgehend im naheliegenden Volkspolizei-Revier die Polizei geholt. „Mit zwei Volkspolizei-Angehörigen ging ich sofort zum Ort des Geschehens zurück, um zu helfen. Ich machte diese auf die Transparente aufmerksam und beseitigte diese. Meines Erachtens können nicht viele dieses Transparent gelesen haben, da es nur kurze Zeit auf dem Auto stand und falsch zusammengestellt war.“
Nach der Wende erinnerte sich noch ein anderer, damaliger CDU-Funktionär, der seinen Namen nicht genannt haben wollte: „Er sah uns wortlos an, blickte von einem zum anderen mit seinem verbrannten Gesicht, die gelblich pergamentfarbenen Hände in seinem Schoß.“1 Dieser zweite CDU-Mann war es auch, der Oskar Brüsewitz einen Stuhl herbeischaffte, auf dem der Pastor in eine Decke gehüllt Platz nahm, bis sechs Minuten später der Rettungsdienst eintraf. Brüsewitz stand auf und ging zum Krankenwagen. Soweit bekannt ist, hatte der Pfarrer überwiegend Verbrennungen zweiten Grades an etwa 80 Prozent der Körperoberfläche erlitten. Ohne dass seine Angehörigen noch einmal zu ihm gelassen wurden, erlag Oskar Brüsewitz vier Tage später, am 22. August gegen 18 Uhr, seinen Verletzungen.
Anders als in CDU und SED hat in der DDR-Kirche bis zum Herbst ’89 niemand den wörtlichen Inhalt der Plakate in Erfahrung bringen können. Noch am selben Tag war der Text „Funkspruch an alle… Funkspruch an alle… Die Kirche in der D.D.R. klagt den Kommunismus an! wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen“ vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle nach Berlin telegraphiert worden. Und womöglich war dort, im SED-Politbüro, entschieden worden, die Losung nicht weiter publik zu machen.
Welche Gründe Oskar Brüsewitz zu dieser Tat wirklich bewegt haben, kann niemand mit Sicherheit sagen. Bis heute gibt es Stimmen, die seinen Tod mit dem Vorwurf erklären, die Magdeburger Kirchenleitung habe Brüsewitz disziplinieren wollen. Kirchenexperte Gerd Besier behauptete noch 1999: „Zum Zeitpunkt seiner Tat sollte der unbequeme und sicher auch etwas skurrile Brüsewitz in eine andere Gemeinde versetzt werden. Gegen seinen Willen.“ Besier liegt damit auf SED-Linie; die Partei versuchte von Anfang an, den Fall als innerkirchliche Angelegenheit herunterzuspielen. Dabei konnte Brüsewitz von seinem Bischof gar nicht versetzt werden, er hatte nicht gegen Kirchenrecht verstoßen. Soweit bekannt ist, trug sich der Pfarrer aus Rippicha mit einem apokalyptischen Weltbild, das keinerlei Zwischentöne zuließ. Der DDR-Staat war für ihn das Reich des Bösen. Hinzu kommt, dass er wahrscheinlich Opfer einer Zersetzung durch die Stasi geworden ist. Die entsprechenden Akten wurden leider vernichtet; zu viele Indizien aber deuten darauf hin: Drohanrufe, Verleumdung, Brandstiftung in seiner Pfarrscheune etc.

Demonstrativer Freitod

Mit Oskar Brüsewitz hatte sich (sieht man vom Freitod des SED-Planungschefs Erich Apel 1965 ab) in der DDR zum ersten Mal ein Mensch aus politischen Gründen das Leben genommen. Die Reminiszenz an den Flammentod des Jan Palach am 16. Januar 1969 ist überdeutlich. Aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Panzer der Warschauer-Vertrags-Staaten hatte sich der Philosophiestudent auf dem Prager Wenzelsplatz mit Benzin übergossen und angezündet. Diese Form militanter Gewaltfreiheit, bei der sich die vom Aufbegehrenden ausgelöste Gewalt lediglich gegen ihn selbst richtet, war ein Novum in der europäischen Widerstandsgeschichte. Wie Carlo Jordan, Historiker und Urgestein der DDR-Umweltbewegung, schreibt, sei diese Aktionsform damals überall in Osteuropa von der Opposition diskutiert worden. Am 14. Mai des Jahres 1972 verbrannte sich im litauischen Kaunas der Student Romas Kalanta und protestierte damit gegen die anhaltende sowjetische Okkupation. Als Vorbild für diesen letzten Einsatz kommen, so Jordan, nur die buddhistischen Mönche infrage, deren flammender Protest gegen den von den USA zu verantwortenden Vietnamkrieg damals durch alle Medien ging. Die Hoffnungslosigkeit der bleienden Jahre der Breshnew-Ära hatte offenbar eine solche Dimension erreicht, die ein derart qualvolles Sterben im öffentlichen Raum zum Mittel der politischen Auseinandersetzung denkbar machte. Auch in der DDR: Der Schriftsteller Michael Meinicke, letzter Geschäftsführer der Berliner Umweltbibliothek, erzählt, dass nach dem Tod des Jan Palach, dem im selben Jahr noch zwei weitere Studenten mit der gleichen Tat folgten, im Umfeld des Pankower Lyrikkreises ernsthaft darüber debattiert wurde, wie man in Berlin das gleiche Zeichen setzen könne. So wurde die Idee geboren, dass sich eine Zeitlang jede Woche vor dem ČSSR-Kulturzentrum, nahe dem Bahnhof Friedrichstraße, ein anderer Nachwuchsdichter mit Benzin übergießt und anzündet. Es blieb bei der Idee.
Der Historiker Udo Grashoff spricht für die Jahre nach 1976 in der DDR von mindestens 60 versuchten Selbstverbrennungen, davon mindestens 49 mit tödlichem Ende, doch offenbar war die des Oskar Brüsewitz die einzige politisch-motivierte.

Was bleibt

Nur war Brüsewitz eben ein Einzelkämpfer. Der sterbende Jan Palach hatte in seiner brennenden Anklage einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Strömung eine Stimme gegeben. Am Nachmittag seines Todes eilten 200.000 Menschen auf den Wenzelsplatz, um an der Stelle, wo er brennend zu Boden gefallen war, Blumen und Kränze niederzulegen. Im Fall des Oskar Brüsewitz hat es eine solche oppositionelle Strömung nicht gegeben, nicht 1976. Das Begräbnis des Jan Palachs war eine beeindruckende Massendemonstration, an der sich rund zehntausend Menschen beteiligt haben. Zur Beerdigung von Oskar Brüsewitz kamen hundert Pfarrer. (Dass die Stasi an dem Tag etliche DDR-Oppositionelle, die an der Trauerfeier teilnehmen wollten, kurzerhand in Gewahrsam genommen hatte, soll nicht unerwähnt bleiben. Polizei und Staatssicherheit hat es aber auch in der Tschechoslowakei gegeben.) Überhaupt ist Jan Palach in seinem Land nie vergessen worden. Nicht so der Pastor aus Rippicha: So lange die DDR noch existierte, sollte kein Bürgerrechtler jemals merken, dass an einem jeden 18. August die Michaeliskirche in Zeitz, vor der diese Tat geschah, verschlossen war. Und auch das Grab des Oskar Brüsewitz war keine „Pilgerstätte“.  Das ändert jedoch nichts an der Frage: Was hat den Christen in der DDR das Leben so unerträglich machen können, dass ein Pastor dagegen auf diese Weise meinte, protestieren zu müssen?

Fußnote:

1 Zitiert nach Müller-Enbergs, Helmut/Stock, Wolfgang/Wiesner Marco: „Das Fanal. Das Opfer des Pfarrers Brüsewitz aus Rippicha und die evangelische Kirche.“ Münster 1999, S. 18.