Die Katastrophe von Tschernobyl

Erst wurde der Unfall vertuscht und bis heute werden die Folgen heruntergespielt

in (18.03.2011)

Am 26. April jährt sich der Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl zum 25. Mal. Bis heute wird über die Zahl der Toten gestritten. Die offiziellen Angaben der Weltgesundheitsorganisation werden mit der Internationalen Atomenergiebehörde abgestimmt, einer Lobbyorganisation für die Atomkraft. Die Katastrophe zeigt außerdem, dass den Mächtigen ihr Ansehen wichtiger ist als die Gesundheit der Bevölkerung.

Im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark gab es die ersten Zeichen: Die Geigerzähler knattern ohne Pause. Das sind die Geräte, mit denen Radioaktivität gemessen wird. Die Strahlung ist deutlich höher als normalerweise, und das auch noch einen Kilometer entfernt vom Reaktor. Der Kraftwerksleiter löst Alarm aus, die Bevölkerung wird über Rundfunk informiert. Doch die Gefahr kommt nicht aus dem Kraftwerk in Forsmark. Die Schweden merken an jenem Tag die Folgen einer Atomkatastrophe, wie es sie bis dahin noch nicht gegeben hat: In Tschernobyl, mehrere hundert Kilometer entfernt, war es zwei Tage vorher zum Super-GAU gekommen.

 

Die Sowjet-Regierung verheimlicht den Unfall

Das Atomkraftwerk Tschernobyl liegt in der Ukraine, nahe der Grenze zu Weißrussland. Das Datum verändert die Welt: Der 26. April 1986 steht für das Versagen der sogenannten zivilen Nutzung der Atomenergie. Bekannt wird das Drama aber erst in den Tagen danach. Nachdem in Forsmark Alarm geschlagen wurde, messen auch andere Orte in Skandinavien erhöhte Werte. Wetterexperten rechnen aus, woher die radioaktive Wolke gekommen sein muss: Aus der damaligen Sowjetunion.

Dort wird die Katastrophe zunächst vertuscht, erst nach den Vorwürfen aus Westeuropa gibt die autoritär-kommunistische Regierung zu, dass es einen „Unfall“ gab. In einer geheimen Sitzung des Zentralkomitees soll Generalsekretär Michail Gorbatschow gesagt haben: „Wenn wir die Öffentlichkeit informieren, sollten wir sagen, dass das Kernkraftwerk gerade renoviert wurde, damit kein schlechtes Licht auf unsere Ausrüstung geworfen wird.“ Die Bevölkerung wurde auch erst nach mehr als 24 Stunden über den Unfall informiert und aufgefordert, die Stadt zu verlassen.

 

Radioaktive Wolke stoppt an französischer Grenze

Auch in Frankreich versucht die Regierung, möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Panikstimmung oder Kritik an der Atomenergie sollen gar nicht erst aufkommen, schließlich wird der größte Teil des Stroms aus der Kernspaltung gewonnen. Die angeblich gemessene radioaktive Belastung für Frankreich lässt nur einen Schluss zu: Die radioaktive Wolke ist von Tschernobyl gen Westen gezogen, über Deutschland hinweg, aber an der französischen Grenze hat sie Halt gemacht… Inzwischen hat der damalige französische Umweltminister eingeräumt, die Werte seien um das 1.000fache niedriger angegeben worden als zutreffend. Wie es dazu kam, ist angeblich nicht mehr nachvollziehbar.

Bis heute dürfen in manchen Teilen Bayerns bestimmte Pilze nicht gegessen werden, weil der Boden durch den Regen radioaktiv verseucht wurde und sich die Strahlung noch immer in den Pilzen konzentriert. Weltweit ist die Strahlenbelastung durch Tschernobyl angestiegen – der Unfall ist somit heute noch nachweisbar, wenn auch die jährliche Strahlendosis sehr gering ist.

 

Streit um die Todesopfer

Durch die Katastrophe haben Tausende Menschen ihre Heimat verloren. Allein in Weißrussland wurden über 100.000 Menschen umgesiedelt. Wie viele an den gesundheitlichen Folgen gestorben sind, darüber gibt es einen großen Streit. Die Schätzungen reichen von 50 bis zu knapp 100.000 Toten. Eine genaue Zahl zu ermitteln ist vor allem deshalb schwierig, weil eine Krankheit sich häufig nicht eindeutig auf die höhere Radioaktivität als Ursache zurückführen lässt.

Im Jahr 2005, knapp 20 Jahre nach der Katastrophe, gibt die Weltgesundheitsorganisation WHO zusammen mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) eine Mitteilung heraus. Darin heißt es, bislang lasse sich der Tod von weniger als 50 Menschen auf den Unfall zurückführen. Insgesamt erwarte man etwa 4.000 Tote. Dabei seien in den Jahren 1986 und 1987 etwa 200.000 Rettungs- und Bergungsarbeiter der Strahlung ausgesetzt worden. Damals wurden vor allem junge Soldaten aus der ganzen Sowjetunion zum Reaktor gebracht, damit sie – kaum geschützt – die Reaktortrümmer wegräumen. Oft waren sie der Strahlung nur wenige Minuten ausgesetzt, aber die reichten, um ihr Leben zu verändern. Viele wurden krank oder starben an den Folgen.

 

Vertrag mit Atomlobbyorganisation

Dass die Weltgesundheitsorganisation WHO solch niedrige Todeszahlen veröffentlicht, könnte auch mit einem Kooperationsvertrag zusammenhängen, der 1959 mit der Atomenergiebehörde IAEA geschlossen wurde. Darin heißt es: „Jedes Mal, wenn eine der Parteien beabsichtigt, ein Programm oder eine Aktivität in einem Bereich zu unternehmen, der von erheblichem Interesse für die andere Partei ist oder sein könnte“ - also aus Sicht der WHO jegliche Forschung, die mit Atomenergie zusammenhängt – dann müsse sich die WHO mit der IAEA abstimmen, „um die Frage in gegenseitiger Übereinstimmung zu regeln“. Bei Studien über Tschernobyl arbeiten WHO und IAEA dann auch sehr eng zusammen. Und die IAEA wiederum ist nicht so unabhängig, wie sie manchmal gerne dargestellt wird.

Sie hat zwei Ziele: Zum einen will sie den unerlaubten Handel mit radioaktivem Material  unterbinden, um das Risiko von Atomwaffengebrauch zu senken. Zum anderen fördert sie aber die so genannte zivile Nutzung der Atomenergie. Im Statut der IAEA heißt es: „Die Behörde versucht den Beitrag von Atomenergie zu Frieden, Gesundheit und Wohlstand in der Welt zu beschleunigen und auszuweiten.“

 

Politische Folgen von Tschernobyl

Nach der Katastrophe von Tschernobyl entflammt die Debatte um Atomkraft neu. Die Kraftwerksbetreiber betonen immer wieder, dass ein solcher Unfall in einem deutschen Kraftwerk ausgeschlossen sei. Exakt der gleiche Vorgang würde sich tatsächlich wohl nicht wiederholen. Dennoch: Tschernobyl hat gezeigt, dass etwas eintreten kann, das sich zuvor niemand ausmalen konnte oder wollte. Deswegen ist auch die Bezeichnung „Super-GAU“ nicht übertrieben. GAU steht für den Größten Anzunehmenden Unfall, bei dem keine großen Mengen an Radioaktivität freigesetzt werden. Alles, was darüber hinaus geht, wird mit Super-GAU bezeichnet.

In Deutschland erstarkt nach Tschernobyl die Anti-Atomkraft-Bewegung, die SPD ist nun für den Ausstieg, nachdem sie sich gerade mal zwei Jahre vorher gegen den Neubau von weiteren Reaktoren ausgesprochen hatte. Und in Italien wird das wahr, wovon Umweltschützer weltweit träumen: In einem Volksentscheid beschließt die Bevölkerung die Stilllegung der Atomanlagen, vier Jahre später geht dort der letzte Reaktor vom Netz.