Endstation Türkei?

Vision der europäischen Flüchtlingsabwehr

Die Europäische Union übt massiven Druck auf die Türkei aus. Das Land am Bosporus ist aktuell das wichtigste Transitland für Flüchtlinge. Europa will, dass die Regierung in Ankara eine Weiterflucht nach Westen verhindert.

Ein Blick auf die Karte zeigt, dass Flüchtlinge aus Afghanistan, Irak, Iran, Somalia, Syrien, mittlerweile auch aus Eritrea, über die Türkei fliehen müssen, um in die EU zu gelangen. Diese Schutzsuchenden leben im türkischen Transit gefährlich: Willkürliche Inhaftierungen, die ständige Gefahr einer drohenden Abschiebung und täglicher Überlebenskampf prägen ihren Alltag. Die EU will ein Rückübernah­meabkommen umsetzen und ei­ne Polizeikooperation zwischen der europäischen Grenzagentur Frontex und der Türkei abschließen - Menschenrechte und Flüchtlingsschutz spielen dabei de facto keine Rolle. Für Flüchtlinge soll gelten: Endstation Türkei. 

Kein Flüchtlingsschutz

Die Türkei besitzt kein Schutzsystem. Immer wieder gibt es Berichte von völkerrechtswidri­gen Abschiebungen von Flüchtlingen in den Irak und Iran. Das bekannteste Beispiel: Im April 2008 wurden 18 syrische und iranische Schutzsu­chende, darunter fünf von UNHCR anerkannte Flüchtlinge, gezwungen, schwimmend den Grenzfluss zwischen der Türkei und dem Irak zu überqueren. Vier von ihnen ertranken. UNHCR verurteilte den Vorfall scharf - bis heute gab es keine ernsthafte Untersuchung. Schutzsuchende können in der Türkei nur ein Flüchtlingsfest­stellungsverfahren beim UN­HCR durchlaufen. Gewährt dieser einen Flüchtlingsstatus, müssen die Menschen ausharren und hoffen, dass ein Drittland sie aufnimmt.

Die Türkei ist zwar Mitunterzeichner der Genfer Flücht­lingskonventionen von 1951. Wegen des so genannten geographischen Vorbehalts prüft sie jedoch nur Asylanträge von Flüchtlingen aus europäischen Ländern. Die meisten Schutzsuchenden kommen jedoch aus dem Iran, Irak, aus Afghanistan oder Somalia. Seit 1996 gibt es für diese Flüchtlinge eine eigene Regelung: Alle, die Asyl beantragen wollen, müssen bei den türkischen Behörden vorstellig werden, um einen temporären Status zu beantragen. Parallel dazu läuft das Flüchtlingsfeststellungsverfah­ren beim UNHCR. Während des Verfahrens werden sie einer von 30 sogenannten Satellitenstädten zugewiesen, die sie nicht verlassen dürfen. Die Lebensbedingungen, selbst von registrierten Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen, sind äußerst prekär. Trotz Aufenthaltsgenehmigung  bekommen sie keine Unterstützung vom türkischen Staat.

Resettlement: Beschämender Beitrag  

Falls der UNHCR den Antrag akzeptiert, kann es Jahre dauern, bis sich ein Aufnahmeplatz für eine Neuansiedlung (Re­settlement) findet. Derzeit warten rund 10.000 Flüchtlinge in der Türkei auf die Aufnahme in ein Land, das ihnen dauerhaften Schutz gewährt. Ende 2010 waren etwa 17.000 Flüchtlinge und Asylsuchende im UNHCR-Büro Ankara registriert. Hiervon stammen etwa 5.900 aus dem Irak, 4.600 aus dem Iran, 3.400 aus Afghanistan und 1.300 aus Somalia. 5.335 Flüchtlinge fanden 2010 Aufnahme in einem anderen Asylland, 3.200 davon allein in den USA. Der Beitrag der EU und Deutschlands bleibt beschämend: 22 irakische Flüchtlinge und 99 aus dem Iran fanden im Club der 27 Mitgliedsstaaten im Jahr 2010 Aufnahme. Deutschland gewährte 25 iranischen Verfolgten Zuflucht.

Europa will zurückschieben

Am 27. Januar 2011 verkündete die EU-Innenkommissarin, Ce­cilia Malmström, den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über ein so genanntes Rückübernahmeabkommen mit der Türkei. Es sieht vor, dass auch Schutzsuchende aus Drittstaaten, die über die Türkei in die EU eingereist sind, leichter zurückgeschoben werden können. Am 24. Februar 2011 billigten die EU-Innenmi­nister den Abschiebevertrag. Stoppen können dieses für den Flüchtlingsschutz fatale Abkommen nur noch das Europa­parlament und die türkische Volksvertretung. Die Türkei wird erst dann grünes Licht ge­ben, wenn zeitgleich auch die „unwürdigen Visabeschrän­kungen" für türkische Staatsangehörige fallen. Und Ankara wird sich die Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland und anderswo bezahlen lassen, in Form von europäischen Investitionen in die Grenzaufrüs­tung, für neue Haftanstalten, für Abschiebeflüge bis in die Herkunftsländer etc.

Gefährliche Nachbarschaft

Angesichts der Situation von Schutzsuchenden in Griechenland gewinnt der Abschluss des Rückübernahmeabkom­mens eine dramatische Bedeutung für den Flüchtlingsschutz an den östlichen EU-Außengrenzen.

An der griechisch-türkischen Landgrenze, der Evros-Region, findet seit Sommer 2010 die größte humanitäre Katastrophe der innereuropäischen Flücht­lingspolitik statt.

Die Haftlager, in der alle Neueinreisenden inhaftiert werden, selbst Familien mit Kindern und unbegleitete Minderjährige, sind brechend voll. 

„Welcome to Hell-As" ist eine Grußformel griechischer Polizisten. Für Flüchtlinge sind die erbärmlichen Haftbedingungen die Hölle. Enge, Mangelversor­gung, fehlender Hofgang, keinerlei Hygienestandards - hässliche Orte, an denen alles möglich ist. Berichte von sexuellen Übergriffen und von Vergünstigungen für Flüchtlingsfrauen bei sexuellen Gefälligkeiten gegenüber Polizisten wurden bei unseren Besuchen in den Haftanstalten mehrfach ge­äußert.

Es kommt bereits heute zu Zurückweisungen von Schutzsu­chenden in die Türkei. Flüchtlingen, beispielsweise aus dem Irak und Iran, droht dann die Weiterabschiebung bis ins Ver­folgerland. In dem avisierten EU-Rückübernahmeabkommen wird zwar der Zurückweisungsschutz erwähnt, in der Praxis ist dieser aber nicht gewährleistet. Flüchtlinge in den griechischen Haftlagern haben keine Chance, dass ihr Schutzbegehren Gehör findet. Die Reste des alten griechischen Asylsystems sind kollabiert, ein Neues ist noch in weiter Ferne. 

Karl Kopp

Karl Kopp ist Europareferent von Pro Asyl (www.proasyl.de).

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 359, Mai 2011, www.graswurzel.net