nicht dermaßen regiert werden

Thesen der Redaktion zu Dissidenz und zivilem Ungehorsam

1. Renaissance dissidenter Praktiken in den Bewegungen

Die gesellschaftliche Linke hat schon immer auf Dissidenz und zivilen Ungehorsams zurückgegriffen. Ihr Movens speist sich aus einer Kritik an Herrschaftsverhältnissen. Diese Praktiken erleben eine Renaissance: Sei es bei den Blockaden von Nazi-Aufmärschen, bei „Castor schottern“, bei den Aktionen der italienischen „Disobbedienti“, bei den Protesten in Frankreich und Griechenland oder bei Stuttgart 21 – der zivile Ungehorsam und dissidente politische Praktiken stehen im Mittelpunkt. Dabei suchen die Aktiven die Konfrontation mit der Staatsmacht. Sie setzen auf kollektive Selbstorganisation und entschlossene, aber gewaltfreie Übertretung von Regeln. Sie bemühen sich, unterschiedliche Spektren bis weit in die Mitte der Gesellschaft einzubeziehen und für eine dissidente Politik zu gewinnen. Für die politische Entwicklung in der BRD und in Europa hängt viel davon ab, ob es gelingt, die Linke des zivilen Ungehorsams, die dissidente Linke zu stärken und zu einem dauerhaften Faktor im politischen Leben zu machen. Damit aus dem „Wir wollen nicht dermaßen regiert werden“ (Foucault) ein „Wir werden auch nicht dermaßen regiert“ wird. Besondere Bedeutung erhält die dissidente Linken in der Gegenwart vor allem, weil es nach wie vor die autoritäre Linke gibt. Auch in der Linken kursiert das Begehren nach starken, meist männlichen Führerfiguren, nach uniformer Einheit, nach Tradition und Konformismus, nach Reflexionsstopp und Antiintellektualismus.

2. Die drei Dimensionen von Dissidenz

Mit der dissidenten Linken sind drei unterschiedliche Dimensionen des politischen Handelns angesprochen: Erstens eine Haltung, Regeln, Traditionen und den Konsens der Mehrheitsgesellschaft in Frage zu stellen. Diese Dissidenz bezieht sich auf ein Spektrum von den politischen Dissidenten, die sich beispielsweise dem Parteikommunismus widersetzt haben, bis hin zu kulturellen Abweichungen der Punk- oder Technoszene und widerständischen Formen in der Kunst. Zweitens geht es um die politische Handlungsform des zivilen Ungehorsams, also das kollektive Überschreiten von Gesetzen und Regeln, um politische Anliegen und eine Herrschaftskritik sichtbar zu machen. Drittens zielt ein dissidenter Ansatz linker Politik auf alltägliche Praktiken des Widerstands und der Politisierung. Linke Politik besteht eben nicht nur im großen Knall und heroischen Massenaktionen, sondern auch darin, im Alltag Dinge anders zu machen und Sand ins Getriebe zu streuen. Neben alltäglichen Spielräumen für linke Politik (wie von Abschiebung bedrohte Menschen zu unterstützen), sollte die gesellschaftliche Linke einen kritischen Professionalismus, also eine kritische Ausübung der eigenen beruflichen Tätigkeit kultivieren, ohne gleich die eigene Déformation professionelle, also die berufliche Deformation, zur widerständigen Praxis zu verklären (siehe dazu die Beiträge zum kritischen Professionalismus in diesem Heft).

3. Gegen Abweichungsfetisch

Sich heute für eine dissidente Linke auszusprechen ist voraussetzungsvoll. Der Kapitalismus ist nun mal integrationsfähig und selbst offen für Abweichung und dissidentes Verhalten. Dies ist allerdings kein hinreichender Grund, von einer antiautoritären Praxis abzulassen. Wie sollen sonst Herrschaftsverhältnisse zum Gegenstand von Kritik werden? Problematisch ist allerdings ein naiver Dissidenz- und Abweichungsfetisch, der entweder aus jeder dissidenten Praxis schon den Systemwechsel herbei halluziniert oder glaubt, dass die größtmögliche Abweichung von der Norm die jeweils beste Handlungsweise ist. Stattdessen muss stets anhand konkreter Umstände geklärt werden, welche Art der Abweichung Herrschaftskritik am ehesten voranbringt. Dann erstreckt sich das Spektrum von scheinbar belanglosen Praktiken im Alltag, über kulturelle Ausdruckformen bis hin zu massenhaftem zivilen Ungehorsam. Deshalb greifen rein voluntaristische Ansätze, wie sie etwa die neo-insurrektionistische Politik des „comité invisible“ und ihrem Manifest „Der kommende Aufstand“ (siehe dazu S. 49 sowie das Interview mit Simon Critchley S. 10-12) formulieren, zu kurz.

4. Radbruchsche Dissidenzformel

Eine Politik der Dissidenz ist nur eine Variante linker Politik und nicht zwangsläufig die Beste. Auch dissidente Politik muss sich befragen lassen, inwieweit sie kollektive Organisierungs- und Politikprozesse befördert oder untergräbt. Die Dialektik von Herrschaftskritik und der kollektiv-herrschaftlichen Verfasstheit politischer Organisierung lässt sich nicht schematisch auflösen. Wir schlagen daher für die politische Praxis eine Art „Radbruchsche Dissidenzformel“ vor: Grundsätzlich müssen dissidente Formen der Artikulation möglich sein. Doch auch sie sollten sich konstruktiv-kritisch auf das gemeinsame Interesse der Mitstreiter_innen beziehen. Erst wenn der politische Prozess oder die hierauf gründende Entscheidung für die Dissidenz keinen vertretbaren Raum mehr lässt, ihre fraktionellen Interessen und Bedürfnisse mit Füßen tritt und ihnen die Existenzberechtigung schlicht abspricht, kann und muss (nicht zuletzt zur Rettung der Einheit in Vielfalt) die dissidente Form ätzend-destruktiven Charakter annehmen oder sich von ihren Mitstreiter_innen trennen, um den Konsens zu beenden und die strukturelle Koppelung von Organisation und Dissidenz aufzulösen.

5. Wider das Beschwören der Einheit der Partei

Stets sind dissidente Praktiken allerdings mit einer Paradoxie konfrontiert: Einerseits weichen sie von einer Norm ab, gleichzeitig beziehen sie sich auf eine Norm. Wird die Dissidenz selbst zur Norm, führt sie sich ad absurdum. Normalisierungsprozesse bewirken neue Dissidenzen. Das ist produktiv, da die gesellschaftliche Ordnung in Bewegung bleibt. Die Linke des 20. Jahrhunderts ist einem starken Maße der Logik der Vereinheitlichung gefolgt. Sie hatte in ihrer sozialdemokratischen und kommunistischen Ausprägung ein gestörtes Verhältnis zu Dissidenz und persönlicher Freiheit. Sie hat die Arbeiter_innenklasse in Massenparteien zusammengeführt und versucht, die Klasseneinheit herzustellen. Doch regelmäßig hat sich die gesellschaftliche Realität dieser Einheitslogik entzogen. Statt Angleichung hat sich selbst innerhalb der Arbeiter_innenklasse eine Differenzierung in unterschiedlichste Fraktionen vollzogen. Mit den neuen sozialen Bewegung sind neue Anliegen entstanden, die sich der Klassenvereinheitlichung entzogen haben. Wenn wir über eine dissidente Linke schreiben, dann zielen wir auch auf ein Desiderat: Die Linke des 21. Jahrhunderts muss ein positives Verhältnis zu Dissidenz und Abweichung haben. Der gesellschaftliche Fortschritt speist sich nun mal daraus, dass bestimmte soziale Gruppen aufbegehren und neue Anliegen ins Spiel bringen. Ein demokratischer Sozialismus des 21. Jahrhunderts kann nicht sozialistische Normierung heißen – schon gar nicht, wenn er als Gegenprogramm zum flexiblen Normalisierungsregime kapitalistischer Herrschaft angelegt ist. Er muss ein offener Sozialismus sein: Einer, der demokratisch und plural verfasst ist, der kulturell offen ist und der Konflikte auf Dauer stellt, statt sie zu unterdrücken. All das entbindet linke politische Parteien nicht davon, auch immer wieder Einheit herzustellen. Aber es ist ein Unterschied, ob sie sich Einheit aus der Differenz als Gemeinsamkeit erarbeiten und sie immer wieder für neue Anliegen öffnen, also sie gezielt, in regelmäßigen Abständen zerstören, um sie neu zu errichten. Oder aber, ob die Einheit zum Wert an sich mutiert, die quasi-religiös beschworen wird.

6. Herrschaftskritik als genuin demokratische Praxis

Die Gegener_innen der Demokratie versuchen, den zivilen Ungehorsam immer in einen Gegensatz zur Demokratie zu bringen. Sie sprechen den Aktiven die Legitimation ab, Gesetze und Grenzen zu überschreiten. Tatsächlich ist der zivile Ungehorsam aber eine genuin demokratische Praxis und Ausdruck demokratischer Selbstbestimmung (siehe dazu Robin Celikates in Ausgabe 3/2009). Denn die Herrschaftsverhältnisse in repräsentativen Demokratien neigen zur Verselbstständigung: Die politische Klasse entscheidet in ihren Elitezirkeln; einzelne Kapitalfraktionen nehmen mit ihrer Machtstellung Einfluss auf die Regierungspolitik; die Verwaltung konkretisiert die Rechtsnorm und betreibt damit oft nichts anderes als Politik jenseits demokratischer Kontrolle. Der zivile Ungehorsam wäre somit nicht Ausdruck eines abstrakten Moralismus, sondern die Möglichkeit für die Subalternen, diese Verselbstständigung durch eine kollektive demokratische Praxis zu blockieren. Damit ist der zivile Ungehorsam ein zentraler Bestandteil einer radikalen Demokratisierungspolitik, die das demokratische Defizit liberaler Demokratien zu überwinden sucht.

7. Die dissidente Linke und DIE LINKE

Die dissidente Linke spielt bisher in der Partei DIE LINKE eine untergeordnete Rolle. Das ist in Teilen auch gut so: Die dissidente Linke ist staatsfern, parteienkritisch und auf ihre Weise anarchisch. Ihr Handlungsfeld ist jedoch auch durch den Staat und die institutionalisierte Politik vorstrukturiert. Dies gilt umgekehrt genauso: Die Handlungsmöglichkeit der Staatslinken hängen auch davon ab, inwieweit es einer staatsfernen Linken gelingt, zivilgesellschaftliche Bewegung zu generieren. Eine staatsferne Linke, die sich letztlich nicht in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, also auch in politische Institutionen einschreibt, bleibt unter ihren Möglichkeiten. Und eine Staatslinke, die die Möglichkeitsspielräume staatsferner Politik untergräbt, sitzt am Ende in der Amtsstube und kann nichts mehr durchsetzen. Die Partei DIE LINKE hat für diesen Dialog eine Schlüsselrolle.

8. Für einen offenen Sozialismus

Die Parteivorsitzende der LINKEN, Gesine Lötzsch, hat auf dem Parteiprogrammkonvent genau die entgegengesetzte Tonalität angeschlagen: Menschen sehnten sich nach Sicherheit und klaren Regeln. Der Staat solle seine „Unparteilichkeit“ durch die LINKE wiedererhalten. Linke Politik drücke den kulturell-moralischen Konsens der Mehrheitsgesellschaft aus. Insgesamt dürfe linke Politik nicht mit Anarchismus und Regellosigkeit in Verbindung gebracht werden. Wenn für alle gleiche Regeln gelten, dann hätte man schon im Ansatz „sozialistische Verhältnisse“. Diese Aussagen stehen im direkten Gegensatz zu einer dissidenten linken Politik: Ihr geht es um die Kritik an der Regel, um die Überschreitung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, um eine gesellschaftliche Alternative, die eben mehr ist als das urbürgerliche Projekt „gleiche Regeln für alle + unparteiischer Staat“. Wir meinen: Der Partei DIE LINKE würde ein Schuss Anarchismus, eine antiautoritäre und revolutionäre Politik tatsächlich gut tun. Nicht nur, dass sie so ihr Programm in Richtung eines offenen Sozialismus weiter entwickeln könnte, sie würde auch für eine junge Protestgeneration interessant, die sich weder von Angela Merkel noch von der LINKEN sagen lassen wollen, dass sie den Schotter im Gleisbett liegen lassen und die Musik leiser drehen sollen, weil gerade Mittagszeit ist.

9. Handlungsfelder für DIE LINKE

Konkret ergeben sich daraus folgende Handlungsfelder: Erstens muss die Partei DIE LINKE ein positives Verhältnis in Programm und politischer Praxis zur dissidenten Linken entwickeln. Zweitens geht es darum, sich für deren politische Forderungen und Praktiken zu öffnen, die bestehende Grenzen überschreiten. Sozialistische Politik zielt genau auf diese Vorgänge der Grenzüberschreitung. Sich für diese Prozesse individuell und kollektiv zu rüsten und sie zu einem organischen Bestandteil der Parteiarbeit zu machen, ist eine ausstehende Aufgabe. Für ein solches politisches Selbstverständnis braucht es Erfahrungen der Grenzüberschreitung als kollektive Praxis. Drittens sind innerhalb der LINKEN Räume für eine solche dissidente politische Praxis zu schaffen: Kulturelle und soziale Zentren, die für Linke unterschiedlicher Couleur offen sind und sich bewusst als linke Gegenstrukturen verstehen. Bundesarbeitsgemeinschaften, die sich um ein anarchisches Selbstverständnis sammeln und der Systempartei DIE LINKE mit interner Systemkritik ein Korrektiv entgegensetzen. Ferner Zusammenschlüsse von Berufsgruppen, die ihre berufliche Aktivität dissident ausüben und dies politisch organisieren wollen.